Ich beginne nun wieder in meinem Gedächtnis zu forschen, um meine Erlebnisse seit der Ankunft auf bundesdeutschem Boden möglichst wahrheitsgetreu wiederzugeben.
Die Fahrt Ende Mai 1965 durch das Ruhrgebiet fanden wir hochinteressant. Wir hatten noch nie Hochofen oder Kohlengruben gesehen, in denen damals noch viele Arbeiter beschäftigt waren. Der Zug verlangsamte seine Fahrt, und als wir in den Hauptbahnhof von Düsseldorf einfuhren, atmete ich erleichtert auf.
Es hieß nun mit reichlichem Handgepäck aussteigen und unseren neuen Wohnort auffinden. Ziemlich ratlos stand ich nun am Bahnsteig, auf dem viele Weiterreisende warteten. Von der langen Fahrt ermüdet und ängstlich auf das Reisegepäck achtend, schaute ich mich neugierig nach einem bekannten Gesicht um. Doch von meinen Geschwistern war niemand zur Begrüßung gekommen. Meine erste Enttäuschung unterdrückte ich mit einem halblautem: "Na, dann wollen wir einmal."
In
beiden
Händen Koffer und Taschen tragend, dirigierte ich meine
Familie zum nahen Bahnhofsausgang. Von meinen Kindern fuhren nur die
zwei jüngsten mit uns, die mit weit geöffneten Augen
die völlig neue Umgebung bestaunten.
Angela,
unser
jüngstes Töchterchen, das erst 15 Monate alt
war, versuchte die ersten Schrittchen auf dem belebten Bahnsteig,
während Renate, die am 20. Februar 6 Jahre alt geworden war,
ängstlich bemüht war, sich an meiner Hand
festzuhalten.
Die beiden älteren
Mädchen, Lydia und
Ursula, besuchten zu der Zeit noch die Förderschule in
Stuckenbrock, um dort die deutsche Sprache zu erlernen.
Wie
ich in die
Straßenbahn eingestiegen bin, und mit welcher Bahn wir zur
angegebenen Düsseldorfer Adresse gefahren sind, an das kann
ich
mich nicht mehr erinnern. Ich weiß aber noch, dass es lange
gedauert hat, bis wir am Benrather Schloss vorbei fuhren, das an diesem
Tage besonders schön geschmückt worden war. Die
Benrather Schlossallee, bunt mit Fahnen und Girlanden
dekoriert, mit Spruchbändern quer über der
Straße hängend, auf denen zu lesen war: "Herzlich
willkommen", wirkte beeindruckend auf uns. Nicht ernsthaft gemeint
sagte ich halblaut: "Schaut mal hin Kinder, wie sie alles für
unseren Empfang vorbereitet haben."
Ich hatte
nämlich drei
Tage vorher erfahren, dass an diesem Tag die englische
Königin Elisabeth
II dem Schloss einen Besuch abstatten sollte.
Wie wir von der Endstation zu unserer Unterkunft in Düsseldorf-Benrath gelangt sind, das habe ich auch vergessen. Wenn ich in meinem Gedächtnis stöbere, dann fällt mir ein, dass ich schon im Lager Stuckenbrock die Adresse von unserem neuen Wohnort erfahren hatte. Wir wären viel eher aus dem Lager entlassen worden, wenn ich mich bereit erklärt hätte, in der Stadt Mettmann zu wohnen. Dieses verneinte ich, erstens, weil alle meine Verwandten in der Landeshauptstadt wohnten, und zweitens,weil ich mir günstigere Arbeitsmöglichkeiten in Düsseldorf ausrechnete.
Als wir müde an der angegebenen Hausnummer am Schwarzen Weg in Düsseldorf-Benrath eintrafen, wurde ich wieder enttäuscht. Da es schon spät am Nachmittag war, hatte der Verwalter für die Flüchtlings-Notunterkünfte keine Sprechstunden mehr. Doch eine hilfsbereite Nachbarin hielt einen Schlüssel für zwei kleine Zimmerchen bereit, die für uns als Wohnung für die nächsten Monate dienen sollten.
In den kahlen Räumen befanden sich wenigstens zwei eiserne Doppelbetten mit ein paar gebrauchten Wolldecken. In einer Ecke stand ein kleiner, eiserner Kohleofen. Um Holz und Kohle mussten wir uns selbst kümmern. Die Hauptsache fürs Wohnen aber war vorhanden und zwar: Leitungswasser floss in ein kleines Spülbecken und die Lichtleitung funktionierte auch. Wir hatten wieder ein Dach über dem Kopf, das regensicher aussah.
Die städtischen Wohnheime, die für Flüchtlinge und Umsiedler bestimmt waren, befanden sich in einfachem und zweckmäßigem Zustand. Sie hatten keinen Keller oder Dachböden, dafür wurden hinter den Baracken große Wiesenflächen angelegt, ein idealer Spielplatz für Kinder. Die Zimmer lagen eben zur Erde, aus denen man durch ein großes Fenster, auf einen langen Gang blickte, der von einer Wohneinheit zur anderen führte. Die Hilfsbereitschaft von Nachbarn und anderer Flüchtlingsfamilien erleichterten uns das Einrichten und Wohnen der spärlich ausgestatteten Notunterkunft.
Am anderen Morgen meldete ich mich beim Lagerverwalter. Dieser drückte mir ein Schriftstück in die Hand, wonach ich an die Stadt Düsseldorf eine Nutzungsgebühr von 35 DM monatlich zu entrichten hatte. Wir galten von nun an als Neubürger der Landeshauptstadt, waren ganz allein auf uns selbst gestellt, ohne Unterweisung oder Hilfestellungen von irgendwelchen Behörden.
Ein Glück, dass zwei Brüder, zwei Schwestern und meine Mutter in Düsseldorf wohnten,die mir in den folgenden Tagen und Monaten manchen nutzvollen und hilfreichen Ratschlag erteilten.
Schon am
nächsten Tag ging
ich zur Arbeitsamt-Nebenstelle in Benrath, um mich nach
Arbeitsmöglichkeiten zu erkundigen. Von dort wurde ich zum
Hauptarbeitsamt in Düsseldorf geschickt, die mich nach
eingehender Beratung, am liebsten bei sich eingestellt
hätten. Doch ich kannte die Tätigkeit als
Angestellter aus dem Arbeitsamt in Paderborn, bei dem ich 3 Monate lang
beschäftigt war. Diese Arbeit hatte mir nicht gefallen, und
ich fragte meinen Bruder Helmut um Rat. Dieser antwortete mir in weiser
Voraussicht:
"Gerhard, du mit deinen vier Kindern, bewerbe
dich als
Landesbediensteter beim Finanzamt. Beim Vater Staat, bist du
am sichersten aufgehoben, auch wenn mal eine
Arbeitslosigkeit eintreten sollte, du wirst deinen Arbeitsplatz immer
behalten."
Dieser Ratschlag erwies sich als goldrichtig, und noch am selben Tag bewarb ich mich als Angestellter für den Dienst in der Finanzkasse beim Finanzamt Düsseldorf-Süd an der Stresemannstraße.
Die
Fortsetzung
der Memoiren kann man hier herunterladen (PDF, 349 KiB)*.
* - zum Betrachten wird ein PDF-Anzeigeprogramm (wie z. B. SumatraPDF, Evince, okular, AdobeReader) benötigt.
Düsseldorf 2. April 2005