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"Eine Vernunftheirat" von Gerhard Rieger

Teil 1

 „Es ist doch noch ein schöner Abend geworden“, begann Winfried Mehring, als er leicht schwankend mit seinem Freund Günther das Düsseldorfer Altstadtlokal die „Goldene Schüssel“ verließ.

Nach kurzem Schluckauf fuhr er fort: „Ich hätte nicht gedacht, dass das Zusammentreffen mit den Kollegen so schön sein kann. Auch, wenn wir uns nur einmal in der Woche treffen, für mich ist das der schönste Abend in meinem sonst so trostlosen Alltagstrott. „

Winfried hatte die rechte Hand unter den Arm seines Freundes gesteckt und sinnierte Stirn runzelnd weiter.

„Hoffentlich kommen wir noch recht oft zusammen, und bleiben so gesund und munter wie heute. Ach, ich könnte Bäume ausreißen, so gut fühle ich mich momentan. Nach den Stunden Zusammenseins mit Kollegen und Freunden, mit denen man sich so einmal richtig aussprechen kann, sieht die Welt ganz anders aus, nicht wahr?“

Winfried, ein braungebrannter, großer, kräftiger Mann, Ende der Fünfzig verstummte, als er keine Antwort erhielt. Er war der Jüngste einer Vierergruppe von älteren Düsseldorfer Herren, die eines gemeinsam hatten: Sie liebten die Geselligkeit in der Düsseldorfer Altstadt bei Altbier und Flöns mit Rögelchen, einem typischen Biertrinker-Essen, das hungrigen Gästen serviert wurde.

Alle Vier hatten an diesem Abend viele Glas Bier getrunken, hatten sich zugeprostet und versprochen, sich gegenseitig zu helfen, um die kleinen und größeren Alltagssorgen gemeinsam besser bewältigen zu können. Auf dem Nachhauseweg dachte Günther an den Kollegen Krollmann, der dieses Mal am Umtrunk nicht teilnehmen konnte.

„Weißt du, dass unser Freund Alfred krank geworden ist?“ fragte er redselig.

„Nein, das weiß ich nicht, ich habe aber davon gehört, er soll in einem Krankenhaus liegen."

„Ja, in der Golzheimer Klinik, soviel ich weiß.“

„Er hat eine Prostata-Operation hinter sich“, wie ich hörte, „und wir haben sie noch vor uns“, bemerkte Günther und nickte nachdenklich.

Die beiden Freunde gingen schweigend Arm in Arm am hell erleuchteten Wilhelm-Marx-Haus vorbei. Der Platz war fast menschenleer, ein paar Nachtschwärmer hatten es nicht sehr eilig, nach Hause zu kommen.

Winfried räusperte sich hörbar und begann erneut im ruhigen, etwas lautem Ton: „Günther, bleib stehen, ich muss dir etwas sagen, aber das ist nur für dich bestimmt. Ich will wieder heiraten, das Alleinsein ist nichts für mich. Sieben Jahre lebe ich nun schon allein und immer, wenn der Herbst sich nähert, überkommt mich Angst und Bange.“

Günther schmunzelte versteckt vor sich hin, und nickte wieder den fast kahlen Kopf. Er war der Älteste in der Vierergruppe und ging kurzatmig neben seinem Freund her, der froh war, dass er in ihm einen geduldigen Zuhörer gefunden hatte. Günther war wohlbeleibt, von kräftiger Statur, ein mittelgroßer herzensguter Mann, mit gutmütigen hellen Augen, die wachsam in die Gegend schauten. Seinem etwas angeheiterten Freund schaute er mitfühlend in die Augen, als dieser ihm zuraunte.

„Du brauchst gar nicht zu grinsen, ich meine es wirklich ernst, mir liegt viel daran, meinen gegenwärtigen Zustand zu ändern, das kannst du mir glauben!“ begann Winfried von neuem zu sinnieren und zog seinen Freund ungeduldig zu einer Sitzbank an der Haltestelle.

„Ja, ja, heute redest du so, weil du etwas zuviel getrunken hast und morgen behauptest du wieder das Gegenteil. Ich kenne dich doch ganz genau, und ich weiß, wie oft du deine Meinung änderst.“

Winfried Mehring taumelte leicht, er hielt sich an seinem Freund fest, als er über eine hohe Bordsteinkante stolperte und beinahe gefallen wäre.

„Verflixt und zugenäht, verdammt noch einmal“, fluchte er erschrocken.

Sein Freund Günther versuchte ihn zu beruhigen.

„Ach, Winfried, warum fluchst du so ordinär daher, bedenke bitte, es wird bald Mitternacht, man hört alles doppelt so laut und die Leute wollen doch schlafen. Es gehört sich nicht auf offener Straße, wie ein Kesselflicker zu fluchen.“

„Ist schon gut, ist schon gut, ich werd mich bessern“, erwiderte Winfried eingeschüchtert, „aber sag` mir bitte, wo sind wir denn hier überhaupt?“

Günther antwortete nicht gleich, er schaute sich forschend, um und begann nach einer Weile: „Ich führe dich jetzt geradeaus zur Straßenbahnhaltestelle am Schadowplatz, du willst doch nicht etwa mit dem Auto nach Hause fahren?“

„Nein, nein, das nicht, nur ich mache mir Sorgen, wie du nach Hause kommst. Du hast doch noch einen längeren Heimweg als ich.“

„Darum mach dir bloß keine Gedanken, eh du in Oberkassel bist, habe ich längst meinen Weg nach Flingern geschafft."

 "Komm` schnell, deine Straßenbahn steht schon da, du musst sofort einsteigen!“ Günther schob seinen Freund in die zur Abfahrt bereit stehende Bahn, die bald mit lautem Bimmeln anfuhr.

„Mach es gut, komm gesund nach Hause und ruf` mich morgen früh an“, rief er ihm mit erhobener Stimme nach.

Winfried aber ließ sich schwer auf den nächsten freien Sitzplatz fallen, hielt sich ängstlich am Vordersitz fest und hatte vergessen, seinem Freund auf Wiedersehen zu sagen. Günther schaute enttäuscht hinter der schnell davoneilenden Straßenbahn her und beeilte sich, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Er ging dann in die Richtung zur Königs-Allee, danach immer weiter gerade aus, beschleunigte seine Schritte, und stapfte mit forschem Auftreten, die etwa zwei Kilometer bis zu seiner Wohnung im nahen Stadtteil Flingern.

Er hatte Glück in seinem bisherigen Leben gehabt. Fast dreißig Jahre lebte er mit einer sehr umsichtigen Frau und seinen drei Kindern in einer geräumigen Parterrewohnung eines fünfstöckigen Mietshauses. Nie hatte er den Wunsch geäußert, die Wohnung zu wechseln. Er beneidete nicht seine Freunde, die Karriere gemacht hatten, dafür aber mit dem Älterwerden erkennen mussten, dass das Leben nicht nur aus materiellen Gütern bestand, sondern dass Gesundheit und Zufriedenheit mehr zählten. Er traf sich öfter lieber mit Bekannten und Freunden in der Altsstadt, um bei gutem Essen und Trinken und schöner Musik, gemütlich zusammen zu sitzen.

Winfried war nach kurzer Zeit auf der anderen Rheinseite angekommen, stieg allein aus der Bahn, und nach einigen hundert Metern versuchte er das BKS-Schloß zu öffnen, mit dem das Gartentor zu seinem Grundstück gesichert war. Das Wohnhaus lag im Dunkeln und scheinbar schliefen schon alle Hausbewohner. Winfried ging leise in sein Schlafzimmer, schaltete eine dunkelgrüne Nachttischlampe ein, die den Raum nur schwach erhellte. Als er auf die weißen Ehebetten schaute, verspürte er einen leisen Stich in der Herzgegend. Die abendliche Toilette war schnell getan, zog einen wollenen Schlafanzug an, und müde und abgespannt legte er sich in eines der frisch bezogenen Betten, und kuschelte sich warm ein. Er versuchte einen angefangenen Roman zu lesen, legte aber das Buch bald zur Seite, das kurz danach herunterfiel, und ihn aus seinen Überlegungen aufschreckte. Der leichte Schwips war längst verflogen, und er sah in Gedanken die vergangenen Jahre im Zeitlupentempo vor seinen Augen abrollen. Er hatte einige Freundinnen gehabt, aber er war so klug, dass er mit ihnen nie über Liebe sprach. Erstens, weil er nicht lügen wollte, und zweitens, weil er sich Frauen gegenüber immer fair verhalten wollte. Auch wenn manche Geliebte am Anfang der Bekanntschaft beteuerte, dass für sie nur der Beruf wichtig sei, dass sie ihre Freiheit auf alle Fälle bewahren wolle, zum Schluss lief es meistens auf das gleiche hinaus, alle wollten geheiratet werden. Sie versprachen Liebe und erhoffen sich den Ring am Finger. Er dachte an eine junge Sängerin, mit der er längere Zeit liiert war, sie drohte ihm sogar, ihn wegen eines gebrochenen Heiratsversprechens zu verklagen. Er hatte ihr selbstverständlich nie ein Eheversprechen  gegeben. Später war er vorsichtiger geworden, er wollte sich vor den Kindern nicht die Blöße geben, ein Heiratsschwindler zu sein.

Zu viele Gedanken kreisten in seinem Gehirn herum. Mit geschlossenen Augen im Bett liegend, ließ er sein Leben Revue passieren, und je länger er überlegte, umso klarer begriff er, er hatte viele Fehler begangen. Fehler, die er korrigieren wollte.

Er war nicht mehr so jung, um nicht zu wissen, dass eine erneute Heirat nicht all seine Probleme lösen würde. Die ersten Monate nach seiner Scheidung waren für ihn nicht einfach gewesen. Das Alleinsein, vor dem viele Geschiedene sich fürchten, war für ihn nicht das Schlimmste gewesen. Was ihm  aber Kopfzerbrechen und Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass er das Sorgerecht für seine minderjährigen Kinder zugesprochen bekam. Dieses Problem konnte er teilweise dadurch lösen, dass er nicht kleinlich war, wenn er Erzieherinnen für seine Kinder einstellte. Er meinte, die fehlende Mutterziehung, könnte er mit Hilfe von Tagesmüttern und mit großer Selbstaufopferung einigermaßen ausgleichen. Um von seinen Problemen mit zwei minderjährigen Kindern abschalten zu können, suchte er Zusammenkünfte mit Freunden, wo er sich, wie er sich ausdrückte, einmal richtig aussprechen konnte.

Für seine intellektuelle Fortbildung tat er nicht wenig. Er hatte sich ein Jahresabonnement für das Stadt-Theater gekauft, und nicht selten besuchte er gute Opern-Vorstellungen. Seine Hausbibliothek war gut bestückt, und öfter liehen sich seine Kinder, oder er selbst, gute Bücher aus der Bibliothek im Weiterbildungszentrum am Hauptbahnhof aus. Lesen und Schallplattenhören gehörten zu seinen Lieblingshobbys. Besonders stolz war er, dass er neben den gesunden, ordentlich erzogenen Kindern, eine komfortable Villa an der Kaiser-Wilhelm-Straße besaß. Der massive Neubau fiel jedem Besucher auf, wenn er am Rheinufer spazieren ging.

Das Grundstück, das von einem kunstvoll angelegten Garten umgeben war, wurde von einem Hausmeisterehepaar versorgt, das im Erdgeschoss wohnte. In der oberen Etage befanden sich zwei Kinderzimmer, ein großes Elternschlafzimmer und ein geräumiges Gästezimmer. Die Küche hatte er modern einrichten lassen.

Frau Seidel, eine gute Köchin, mittleren Alters, sorgte für das Wohl der Familie und der gelegentlich eingeladenen Gäste. Zwei Garagen hatte er seitlich am Haus anbauen lassen, die durch eine asphaltierte Auffahrt leicht zu erreichen waren. In der einen Garagenhälfte stand ein neuer Mercedes, den Winfried privat und auch öfter zu Geschäftsfahrten benutzte. Wie so oft, so musste er auch an diesem Abend, als er auf den lang ersehnten Schlaf wartete, wieder an seine Kinder denken. Er sah sie, vor seinem geistigen Auge alle fünf, die, wohl geraten, ihm noch keine größeren Sorgen bereitet hatten.

Teil 2 

Agathe und Helmut sah er fast tagtäglich. Sie wohnten noch mit ihm zusammen, in der großen Villa am Rhein.

Ellen, die älteste Tochter, wohnte seit kurzem in Bonn. Dort hatte sie mit ihrem Ehemann, ein sehr sympathischer, strebsamer Unternehmer, eine Vertriebsgesellschaft für Autozubehör eröffnet. Die Anfangsschwierigkeiten hatten sie überwunden, und jetzt florierte das Geschäft zu friedenstellend.

Lolita die zweitälteste, war mit einem Belgier verheiratet, der Betriebswissenschaft studiert hatte, und sich mit ihr zusammen eine gut gehende Immobilienfirma in Antwerpen aufgebaut hatte.

Sabina, die dritte Tochter, die erst vor kurzem geheiratet hatte, wohnte mit ihrem gleichaltrigen Mann nahe von Würzburg, wo er als Mitarbeiter eines großen Chemiekonzerns recht gut verdiente.

Als Winfried lange Zeit nicht einschlafen konnte, es war die Nacht nach dem Kollegentreffen, nahm er sich vor, dieses Spiel nicht mehr länger mitzumachen. Etwas selbstgefällig murmelte er vor sich hin: „Ich bin doch ein Mann in den besten Jahren, Menschenkinder, ich habe Frauen gehabt, es waren nicht wenige, die ich in der Vergangenheit kennen lernte, nicht mehrere auf einmal, nein, immer eine nach der anderen. Ich war  kein Casanova, aber ich bin ein Mann der das Leben liebt“, sinnierte er weiter, „aber das Leben ohne Beisein von Frauen, halte ich für wenig sinnvoll.“

Als in der Ferne eine Kirchturmuhr Mitternacht schlug, war er immer noch nicht eingeschlafen. Fast war er geneigt, eine Schlaftablette zu nehmen, als ihm die Worte seines Freundes Günther einfielen.

 "Winfried!“ hatte er gesagt, „du musst wieder heiraten, das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann. Wenn du es nicht tust, wirst du immer wieder in Schwierigkeiten geraten. Ein allein stehender Mann ist Freiwild für die Frauen. Nur die Ehe kann dir den nötigen Schutz bieten, glaube es mir, das ist wahr!"

 Das gutmütige Gesicht und die ernst gemeinten Worte des Freundes waren die letzten Erinnerungen in dieser Nacht. Ohne zu träumen schlief er bis zum Morgengrauen.

Noch vormittags beschloss er seinen langjährigen Freund Günther anzurufen. Als er dann einige Stunden später im Büro zum Telefon griff, meldete er sich mit forscher Stimme und begann ohne Umschweife: „Hallo, alter Junge, hast du heute Abend Zeit für mich? Ich hätte dich gern in einer wichtigen Angelegenheit mit gesprochen.“

„Für dich habe ich immer Zeit, wann und wo treffen wir uns?“

„Nicht wieder in der „Goldenen Schüssel“, erwiderte er entgegenkommend, „wie wäre es, wenn du zu mir nach Oberkassel kommst?“

„Herzlich gern, um sieben Uhr, nach dem Abendbrot, wenn es dir recht ist?"

 Winfried war es recht, für alle Fälle stellte er einige Getränke in den Kühlschrank. Der Tag verging mit der Erledigung von üblichen Bürotätigkeiten ziemlich eintönig, und er war froh, als kurz nach neunzehn Uhr die Haustürglocke zweimal laut hörbar schellte.

„Ah, guten Abend, komm` herein, mein lieber Günther, hierher ins warme Wohnzimmer. Meinen Kindern habe ich gesagt, sie sollen mich nicht stören, ich erwarte deinen Besuch.“

Günther legte umständlich seinen leichten Herbstmantel ab.

 "Das freut mich, dass du so besorgt um mich bist, ich kann die Ruhe gut gebrauchen, bei mir zu Hause geht es wieder laut zu.“

„Na, na, es wird ja nicht so schlimm sein, komm` setz dich, und sag mir, was du am liebsten trinkst, du kannst wählen, Sherry oder einen trockenen Weißwein?“

„Wenn ich heute wählen darf, dann nehme ich einen Wein bitte, wenn es dir nichts ausmacht.“

Die beiden Freunde nahmen an einem niedrigen Marmortisch Platz.

Winfried schenkte ein, und nach ein paar obligatorischen Worten über das Wetter, die Gesundheit und von der Arbeit, fing er geradewegs von seinem Anliegen zu sprechen.

„Günther, sag mal ehrlich, würdest du noch einmal heiraten, wenn du in meiner Lage wärst. Du kanntest doch meine Ehemalige, sie hat vor kurzem einen Mann kennen gelernt, der sie heiraten will. Ein weiterer Grund für mich, auch noch einmal das Risiko einer Eheschließung zu wagen.“

„Oh, das freut mich für dich, jetzt brauchst du doch keine Hemmungen haben, auch ein erneutes Eheglück zu versuchen.“

„Hemmungen habe ich keine, nur ich wollte von dir einen Rat bekommen, wo, und wie ich geeignete Kandidatinnen für Ehefrauen kennen lernen kann.“

„Gib eine Heiratsanzeige auf!“

Das entscheidende Wort war gefallen.

„Meinst du das im Ernst, oder soll es ein Witz sein? Ich kann mir doch keine Frau aus der Zeitung aussuchen, eine Frau ist doch keine Ware.“

„Du sollst nicht Frauen aussuchen, sondern im Gegenteil, du sollst dich den Frauen anbieten.“

Im ersten Moment erschien es Winfried lächerlich sich in der Zeitung anzubieten, aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt, dass es kein schlechter Gedanke war, den sein Freund Günther vorschlug. Wenn er das tat, dann konnte er sicher sein, dass sich die heiratswilligen Frauen nicht unter falschen Vorspiegelungen ihm näherten. Sie mussten von vornherein zugeben, heiraten zu wollen, das war wenigstens offen und ehrlich. Sie würden sich nicht als Hausdame oder Geliebte in sein Leben einschleichen können, sondern als Kandidatinnen auftreten müssen. Er würde sie dann gründlich prüfen können, ob sie seinen Anforderungen, die er von einer Ehefrau erwartete, auch wirklich entsprachen.

„Noch einmal, mein lieber Günther, ich soll eine Heiratsanzeige aufgeben, und dann soll ich warten bis sich jemand bei mir meldet?“

„Ach Winfried, du tust ja gerade so, als ob du noch nie gehört hast, dass es Ehevermittlungsinstitute gibt?" 

„Nein wirklich nicht, um so was habe ich mich nie gekümmert. Als ich jung geheiratet habe, besser gesagt heiraten musste, weil ein Kind unterwegs war, brauchte ich mich um Hochzeit und alles andere Drumherum nicht zu  kümmern. Das war kurz nach dem letzten Krieg, da hatten wir andere Sorgen.“

 "Das glaube ich dir gern, aber heute hat sich vieles geändert, heute gibt es, wenn man heiraten will, Ehevermittlungen, oder noch besser, man gibt selbst eine Annonce auf.“

„Würdest du mir dabei helfen, so eine Anzeige aufzugeben?“

„Kein Problem, in der nächsten Ausgabe der Rheinischen Post, erscheint ein entsprechendes Inserat, lass mich das nur machen!“

Die Würfel waren gefallen, das Schicksal nahm seinen Lauf.

Winfried wollte bei der nächsten Gelegenheit zuerst mit seinem Sohn Helmut über seine Heiratsabsichten sprechen. Es vergingen aber doch noch etliche Tage, ehe sich die passende Gelegenheit dazu ergab. Ihm war etwas unwohl, als er seinem Sohn die Sachlage erklärte und ihn bat, seine Meinung darüber zu sagen. Helmut verhielt sich anfangs schweigsam. Als der Vater aber ihn direkt aufforderte, sich endlich zu äußern, antwortete er mit ironischem Unterton.

„Na, hör` mal zu, Papa! Ich finde, du bist alt genug, um zu wissen, was du zu tun und zu lassen hast!“

„Du hättest also nichts dagegen, wenn ich dir eine neue Mutter ins Haus brächte?“ „Aber wieso denn?“ erwiderte der Junge gereizt, „ich muss ja nicht mit ihr zusammenleben.“

Mit Ellen, der ältesten Tochter, über Heiratsabsichten zu sprechen, hielt Winfried für nicht nötig. Erstens wohnte sie nicht mehr bei ihm, zweitens sollte sie sich mit allen Kräften auf ihre Aufgaben im erst unlängst aufgebauten Vertriebsunternehmen konzentrieren. Sie wollte im Familienbetrieb ihr eigenes Geld verdienen, um nicht zu sehr von ihrem Mann finanziell abhängig zu sein. Die beiden Töchter Lolita, die in Belgien wohnte und Sabina, die in München eine Mietswohnung bezogen hatte, kümmerten sich wenig um die Probleme und Sorgen des Vaters. Darum hielt er es für nicht nötig, sie um Rat zufragen. Es vergingen keine zwei Wochen, als Winfried eines Tages auf seinem Schreibtisch ein Päckchen vorfand, das sorgfältig verschnürt war. Der Absender war sein Freund Günther.

Nachdem er es geöffnet hatte, kam ein Zettel zum Vorschein mit den Worten: „Mein lieber Winfried, ich schicke dir Zuschriften von heiratswilligen Damen, viel Spaß und  Erfolg. wünscht dir Günther.

Die Überraschung war groß. Winfried setzte sich auf einen bequemen Ledersessel und begann die Umschläge zu öffnen. Er nahm die darin enthaltenen Briefe heraus und stapelte sie vor sich hin. Sie enthielten viel mehr, als er es erträumt hätte. Für kurze Zeit war er überwältigt. Aber bald hatte er sich gefasst, und begann, einen Brief nach dem anderen zu lesen.

Teil 3 

Was er da zu lesen bekam, übertraf alle seine Erwartungen. In vielen Briefen schlug ihm guter Wille entgegen. Aber wiederum auch Sehnsucht, Einsamkeit und Verzweiflung kamen zum Ausdruck, so dass er gerührt war und manchen Brief zweimal las. Briefe von Heiratsinstituten warf er sofort in den Papierkorb. Unter den Zuschriften waren Briefe, die eine Menge orthographischer Fehler enthielten, und im mangelhaften Deutsch geschrieben waren. So schrieb z.B. eine Hausangestellte aus Köln: „Lieber Winfried, ich suche schon seit langem än Mann. Auch wenn du geschiden bist, dat steert mir nicht, die hauptsach, wir verstehen uns, ich warte bang auf dich.“

Einige Briefe dagegen waren im amtlichen Kanzleistil geschrieben:...und hiermit erlaube ich mir, Ihnen auf  Ihr wertes Inserat zu antworten. Ich bin eine gebildete Hausfrau, verfüge über erstklassige Referenzen und besitze eine gut eingerichtete Wohnung. Falls Sie sich entschließen könnten, meine Bewerbung positiv zu beurteilen, wäre ich damit einverstanden!

Es waren auch Briefe dabei, die sehr zutraulich wirkten, wie die Zeilen einer 32-jährigen Goldschmiedin aus Bonn.

In zierlichen Buchstaben schrieb sie ...als ich las, dass Sie geschieden sind, da empfand ich sofort große Sympathien für Sie. Ich bin ebenfalls geschieden, ich habe mit meinem ersten Mann Pech gehabt, und jetzt weiß ich ganz genau, wie ich einen Mann verwöhnen muss, und was ein Mann von einer Frau erwartet. Vorausgesetzt, die Anforderungen Ihrerseits sind nicht zu groß. Eigentlich wollte ich nie wieder heiraten, Sie wissen ja, gebranntes Kind scheut das Feuer. Aber bei Ihnen, so meine ich, kann ich es noch einmal wagen. Vielleicht setzen wir uns einmal zusammen, um unsere Erfahrungen auszutauschen, das wäre der richtige Anfang. Mir schwebt vor, eine Ehe auf Probe zu praktizieren, natürlich mit finanzieller Absicherung. Am besten, wir schreiben unsere Vorstellungen auf, dann tauschen wir die Wünsche aus. Ich hoffe, dass Sie ein fortschrittlich denkender Mensch sind, und Sie werden über meinen Vorschlag nicht zu sehr schockiert sein. Viele, viele herzliche Grüße Ihre Maria Wolff ... bis bald!

Solche und ähnliche Briefe legte er auf die linke Seite. Auch die Briefe, in denen keine Fotografien enthalten waren, legte er dazu. Bald wuchs der linke Stapel mit den nicht passenden Briefen entschieden schneller als der rechte. Er war noch mitten beim Sortieren und Lesen, als seine Tochter Agathe hereinplatzte, um ein Buch zurückzubringen, das sie aus dem Bücherschrank genommen hatte. Neugierig, wie die meisten jungen Mädchen in ihrem Alter, schaute sie auf die vielen Briefe und nahm ein Foto vom rechten Stapel in die Hand.

 "Sehr schön!“ sagte sie anerkennend.

„Wer ist denn das?“

„Eine Dame!“ Sie tat erstaunt. „Oh, das sehe ich, dass es eine Dame ist, aber sage mir bitte, was das für eine Dame ist, suchst du etwa eine neue Putzfrau oder Köchin für unseren Haushalt?“

Winfried wollte sie mit einer Ausrede wegschicken, sagte ihr aber nach kurzer Überlegung doch die Wahrheit.

„Ja, weißt du Agathe, das ist nämlich so, ich suche eine Frau, eine passende Frau für uns alle!“

Sie wurde unsicher und schaute ihn mit ihren dunkelbraunen Augen prüfend an. „Papa, was für eine Frau suchst du, eine neue Putzfrau?“ fragte sie ungläubig.

„Nein, mein Kind, eine Frau zum Heiraten.“

Agathe verzog leicht ihr niedliches Gesicht, kam näher, und begann in den Briefen zu wühlen.

„Alle diese Frauen hier, wollen die geheiratet werden?“

„Nimm deine Hände weg, du bringst mir alles durcheinander!“ sagte Winfried ärgerlich und nervös.

„Du darfst dir die Briefe ansehen, aber erst später, wenn ich die Spreu vom Weizen getrennt habe. Du kannst mir sogar gerne helfen, die richtige Frau auszusuchen. Wenn ich so weit bin, werde ich es dir sagen, Ehrenwort. Aber, jetzt störe mich bitte nicht, und geh` schon auf dein Zimmer!“

Zwei Tage später hatte Winfried über vierzig Briefe durchgelesen. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, und er fühlte sich erleichtert, als er endlich mit der Durchsicht der unerwartet hohen Anzahl von Zusendungen fertig war. Vor ihm lagen zwei Stapel von Zuschriften mit den dazugehörigen Fotografien. Alle Briefe, die auf der linken Seite lagen, schickte er seinem Freund Günther zurück.

Er hatte versprochen, den nicht seinen Vorstellungen entsprechenden Heiratskandidatinnen zu schreiben, dass er sich anderweitig entschieden hätte, um, wie er meinte, den Damen keine unnötigen Erwartungen zu bereiten.

Sehr erstaunt war Winfried über einen dicken Brief einer Dame, die er gut von der Zeit her kannte, als er noch aktiv im Sportclub tätig war. Lange hielt er ihr Bild in der Hand, ein sehr privates, sehr schmeichelhaftes Foto und betrachtete es kritisch. Dabei verspürte er ein ungutes Gefühl im Magen. Er stellte sich vor, was er sagen würde, wenn er von der Bekannten angesprochen würde, sich zu seinen Heiratsabsichten zu äußern. Wenn die tüchtige Sportlerin ahnen würde, dass er ihre intimen Wünsche scheinbar gelassen las, sie würde es nicht für möglich halten.

Sie hatte als Antwort auf das Inserat geschrieben, dass sie sich nicht ausgefüllt fühle, privat sehr einsam sei und  bereit wäre, mit einem entsprechenden Herrn alle ehelichen Freuden und Pflichten redlich zu teilen, so wie sie es auch von einem entsprechenden Partner erwarte. Das Kuriose in diesem Brief war jedoch, dass diese Dame es nicht versäumt hatte, ein Muster von einem Ehevertrag beizufügen. In einem 25-Punkte-Plan waren alle Voraussetzungen fein säuberlich aufgelistet, die ihrer Meinung nach, zum Gelingen einer dauerhaften Ehe nötig wären. Mit einem auf einer Schreibmaschine geschriebenen Blatt, das sie beigefügt hatte, war genau alles festgelegt worden, wenn sie noch einmal einen Mann heiraten sollte. Sie erwähnte gleichzeitig, dass sie schon einmal verheiratet war, aber schuldlos geschieden wäre, und in Zukunft kein ähnliches Fiasko erleben wollte.

Frau Elfriede Krause, sie hieß die Briefschreiberin, war für Winfried eine neue Erfahrung. Das erste Mal, dass eine nicht unintelligente Frau ihm niedergeschrieben hatte, wie sie sich ein Eheleben vorstelle. Besonders waren die Punkte interessant, in denen Frau Elfriede ihre Wünsche in Bezug auf gegenseitiges Entgegenkommen, Rücksichtnahme und Liebe beschrieben hatte. Die Ehe, so meinte sie, wäre in erster Linie eine Versorgungsgemeinschaft, in der das Nehmen und Geben ausgeglichen sein sollte. Wenn sie erst 20 Jahre alt wäre, dann wären ihre Vorstellungen von einer Ehe ganz anders. Sie hätte sich dann mindestens 4 Kindern von ihm gewünscht; heute aber sei es dazu zu spät, da sie doch bald die Vierzig erreicht hätte. In einem neuen Absatz schrieb sie: Ein jeder Ehepartner sollte genug Spielraum für sich haben, um seine Eigenständigkeit zu bewahren. Änderungsversuche des Ehepartners sollte nicht mit Gewalt erzwungen werden. An erster Stelle sollte Rücksichtnahme und Liebe in einer Ehegemeinschaft herrschen. Der Verstand und die Vernunft sollten vorherrschen, d.h. Elfriede schrieb, sie wünschte sich eine Vernunftheirat, in der beide Vorteile hätten. Wenn Immobilieneigentum vorhanden wäre, dann sollte vor einer Eheschließung beim Rechtsanwalt die Gütertrennung beantragt werden. Eine Scheidung käme grundsätzlich nicht in Frage, beide Ehepartner sollten versuchen, das Eheleben mit vielen Gemeinsamkeiten zu verschönern, denn sie hasse es, immer allein den Alltagsproblemen gegenüberzustehen. Elfriede wäre auch bereit, da sie selbst keine Kinder hätte, alle frauliche Liebe und Fürsorge seinen Kindern zukommen lassen. Dieser Hinweis, gefiel Winfried am meisten, wogegen er den anderen Punkten gegenüber, große Vorbehalte hatte. Winfried war über die Offenheit erstaunt, von einer Frau in so direkter Weise, auf die Eheprobleme hingewiesen zu werden. Ihm gefiel vieles an diesem Ehevertrag, doch von Vertrauen, Offenheit, Liebe und Fürsorge war zu wenig zu lesen. Nach reiflichem Nachdenken, beschloss Winfried zu diesem Brief keine Stellungnahme abzugeben. In einem kurzen Antwortschreiben bedankte er sich für die aufschlussreichen Vorschläge, er hätte sich aber anders entschieden. Den Absender und seine Adresse vermerkte er nur abgekürzt auf einem neutralen Umschlag, so dass er keine Schwierigkeiten zu befürchten hatte.

Nach längerer Zeit war es Winfried gelungen, etwa 25 Briefe auszusortieren, genau fünfzehn blieben jetzt noch zur engeren Auswahl übrig.

Er hielt sein Versprechen und rief die jüngste Tochter zu sich, um mit ihr noch einmal die ausgewählten Zuschriften durchzusehen. Agathe zeigte sich sehr interessiert. Sie schien das Ganze für einen großen Spaß zu halten. Zwei Frauen lehnte sie sofort ab, die eine, weil sie eine unmoderne Frisur trug, die andere, weil sie ihrer Meinung nach „Froschaugen“ hatte.

Eine der Damen hatte Winfried besonders gut gefallen. Der Absender war auf der Rückseite fein säuberlich  vermerkt: Gerda Deutschmann, Essen, Immestr.

Sie gab an, Lehrerin an einer Sonderschule für behinderte Kinder zu sein. Das Foto, das sie beigelegt hatte, ein Farbbild, zeigte sie im Sportdress, braungebrannt, mit zerzausten blonden Haaren und lachenden Augen. Diese fröhlichen Augen waren es, von denen William angetan war. Er schrieb ihr einen höflichen Brief, und bat sie, eine Zusammenkunft mit ihm zu vereinbaren.

Ungeduldig wartete Winfried auf eine Antwort. Nach drei Tagen kam ein Brief in einem rosaroten Umschlag .Es war keine Absenderangabe angegeben, der Poststempel war von einem Postamt in Oberhausen. Er hatte das ungute Gefühl, in dem Brief steht nichts Gutes. Und so war es auch. Der Brief war auf einer Schreibmaschine geschrieben, es war die Sonderschullehrerin in Essen. Frau Gerda Deutschmann, schrieb ebenso höflich wie er geschrieben hatte. In knapp formulierten Sätzen teilte sie ihm mit, dass sie schon einen Partner gefunden hätte, der ihr sehr zusagte. Sie wünschte Winfried, zu seinem Vorhaben ebenso viel Glück und Erfolg, und hoffe, dass auch er bald eine entsprechende Partnerin finden würde. Sie entschuldigte sich vielmals, dass sie ihn enttäuschen müsse. Mit dieser Antwort hatte Winfried nicht gerechnet.

Um seine Enttäuschung zu vermindern, beschloss er, noch am selben Abend drei Antwortbriefe zu schreiben, um eher eine positive Antwort zu erhalten. Sorgfältig schrieb er die angegebenen Adressen auf die weißen Umschläge, frankierte sie sorgfältig mit Sonderbriefmarken und brachte sie noch spät abends zum nächsten Postbriefkasten.

Sichtlich erleichtert und zufrieden mit sich selbst, ging er noch ein Stück am Rheinufer entlang, betrachtete den dunklen Nachthimmel mit schimmernden Sternen. Nachdenklich sah er auf der anderen Seite des Rheins viele hell erleuchtete Häuserfassaden, von den nicht wenigen Hochhäusern der Stadt Düsseldorf, über denen leichte Nebelschwaden schimmerten. Der nahe Stadtverkehr drang vom Strom herüber, das laute Ta-tü-tata eines Unfallwagens war zu hören.

Die Lambertuskirche verkündete die Mitternachtsstunde, als er leise das Gartentor aufschloss und ins Haus huschte.

Fast wäre er auf der Eingangstreppe gestolpert, ein kleines Kätzchen hatte sich auf der Fußmatte lang gestreckt und miaute ihn traurig an.

„Ach, was machst du denn da, suchst du ein Nachtlager?“

Vorsichtig nahm er das frierende Tier auf den Arm, streichelte es zärtlich, und ging zum Heizungskeller. Ein langgezogenes Miau kam kläglich aus dem Katzenmäulchen.

„Möchtest du noch etwas fressen?“ fragte er das schnurrende Wesen. Nur große, traurig blickende Katzenaugen schauten ihn an.

„Heute musst du schon hier schlafen. Morgen kümmert sich Agathe um dich, schlaf` jetzt und bleib` ruhig.“

Als ob das Kätzchen ihn verstanden hätte, sprang es herunter, und suchte die wärmste Ecke des Kellers aus. Zufrieden schloss er die Kellertür zu und ging hinauf ins Schlafzimmer.

In dieser Nacht schlief Winfried sehr unruhig. Es war schon spät am Morgen, als er aufwachte und unausgeschlafen ins Bad ging, um durch warme und kalte Dusche die Müdigkeit zu vertreiben. Selbstredend sagte er: „Mensch, Winfried, nimm es nicht so tragisch, die erste Absage ist doch kein Beinbruch. Geduld musst du haben, immer viel Geduld, am besten du nimmst dir vor, einmal gründlich im Büro Ordnung zu schaffen, wo manches liegen geblieben war."

Teil 4

Die Kinder Agathe und Helmut hatten schon das Haus verlassen, und Winfried als allein erziehender Vater setzte sich missmutig an den Frühstückstisch. Frau Seidel hatte Leberwurstbrötchen und heißen  Kaffee vorbereitet, die ihm ausnahmsweise nicht schmeckten. Ohne auf den schön gedeckten Tisch zu achten, begann er Brötchen zu essen, und versuchte dabei ein paar Zeilen in der „Rheinischen Post“ zu lesen. Bald legte er die Tageszeitung beiseite, gab der Köchin  ein paar Anweisungen bezüglich der Tageseinkäufe und ging zur Garage, um sich auf den Weg zur Fabrik zu machen. An der Oberkasseler Brücke geriet er in einen Verkehrsstau, und mit halbstündiger Verspätung betrat er die Chefetage der nicht unbedeutenden Maschinenfabrik Winfried Mehring AG.

Seine Sekretärin hatte schon eine Reihe von Unterlagen zur Unterschrift vorbereitet, die er nach kurzer Durchsicht, ohne Korrekturen zurückgab. Winfried fing an seinen Schreibtisch „aufzuräumen.“ Nachdem ihm die Tagespost hereingebracht worden war, beschäftigte er sich in den nächsten Stunden, wichtige Termine vorzumerken sowie Besprechungen vorzubereiten. In diesem Moment schellte das Telefon. Seine Tochter Agathe war am Apparat.

„Hallo, Papa, entschuldige mich, wenn ich dich störe, ich wollte dir nur sagen, dass eine Frau Naumann aus Essen angerufen hat, sie wollte sich mit dir treffen. Ich habe ihre Adresse und die Telefonnummer auf deinen Schreibtisch gelegt, komme bitte nicht zu spät nach Hause - Tschüs!“ Das war mal eine angenehme Überraschung. Bald nach der Mittagspause ging Winfried zu seinem Prokuristen.

„Hören Sie Herr Hellwig, ich muss heute Nachmittag dringend wegfahren, wenn etwas Besonderes sein sollte, dann rufen Sie mich abends zu Hause an, sonst aber, so hoffe ich, morgen wieder im Büro zu sein.“

Der Telefonanruf  von Agathe stimmte ihn gutgelaunt, und Winfried war sicher, dass der Anfang zu Bekanntschaften mit heiratswilligen Damen nun gut anlief. Er war auf dem Wege, seine persönlichen Lebensverhältnisse neu zu gestalten, die ihm neben amüsanten Erfahrungen auch traurige Begebenheiten bescheren sollten.

Das bevorstehende Treffen mit Ellen, wie er Frau Naumann kurz nannte, half ihm die Absage von Frau Gerda Deutschmann schnell zu vergessen.

Im ersten Moment konnte William mit dem Namen Ellen Naumann wenig anfangen. Sollte es etwa die Dame sein, der er vor drei Tagen geschrieben hatte? Wenn ja, dann wollte er die Gelegenheit nutzen, möglichst schnell sein Ziel zu erreichen. Und das bestand darin, Heiratskandidatinnen zu treffen, die für ihn und seine Kinder eine gute Lebenspartnerin sein sollten.

Ehe Winfried sich in den Mercedes setzte, nahm er noch einmal den Brief von Frau Naumann in die Hände. Die Zuschrift steckte er in einem blauen Umschlag, der leicht nach Parfum duftete und mit säuberlich geschriebenen Druckbuchstaben adressiert war. Frau Naumann schrieb, dass sie Witwe eines Regierungsdirektors sei. Das bedeutete, sie bezog eine gute Pension und es war anzunehmen, dass finanzielle Motive bei ihr  keine Rolle spielten. Das Farbfoto, das sie mitgeschickt hatte, schien älteren Datums zu sein, denn sie wirkte auf dem Bild sehr jung. Ein schlankes Mädchen stand unter blühenden Bäumen. Ihr Alter hatte sie mit 38 angegeben. Die Absenderangaben waren mit einem Stempel aufgedruckt: Ellen Naumann, Essen, Stadtstr. 23.

Nachdem Winfried die angegebene Telefonnummer gewählt hatte, meldete sich eine angenehme Frauenstimme. „Hallo, hier Frau Naumann, wer spricht dort?“

Nach ein paar Begrüßungsworten vereinbarte Winfried ein Treffen um 4 Uhr nachmittags, im Cafe Rosenbaum, an der Blumenstraße, die nicht weit von ihrer Wohnung entfernt war.

Im Kaffeehaus angekommen, setzte er sich an einen freien Tisch in der Nähe der Eingangstür, um einen besseren Überblick über den ganzen Verkaufsraum zu haben. Bei der Bedienung bestellte er lediglich ein Kännchen Kaffee. Eine gute Viertelstunde verging, und Frau Naumann kam nicht. Unauffällig blickte Winfried in Richtung zur Tür und wurde vom langen Warten nervös. Die halb gerauchte  Zigarette drückte er mit enttäuschter Miene aus und rief das Kuchenfräulein, um zu bezahlen. In diesem Moment wurde die Eingangstür aufgestoßen, eine Dame stürmte hastig herein, die nach der Bildfotografie Ellen Naumann sein konnte. Und sie war es auch wirklich. Zu seiner Überraschung, eine auffallend stattliche Erscheinung. Ihre schlanke Figur war tadellos, schöne lange Beine, ein wohl gebauter Körper in passender Bekleidung. Sie hatte ein rundes, schönes Gesicht, große, ehrliche Augen und einen vollen Mund. Hinter den Lippen blitzten schneeweiße Zähne, als sie lachte. Alles in allem, sie wirkte sehr mondän, und wenn sie sich nicht so unsicher umgeschaut hätte, Winfried hätte es kaum gewagt sie anzusprechen. Er erhob sich rasch und ging ihr entgegen. Wenn sein erster Eindruck eine Überraschung war, so war sein zweiter Blick eine Enttäuschung. Als er sich ihr auf zwei Schritte genähert hatte, stellte er fest, dass sie sich stark geschminkt hatte. Jede Frau kann das Beste aus sich machen und ihre kleinen Fehler und Mängel kaschieren. Aber, wenn man sich vorstellt, wie diese Frauen aussehen mögen, ohne Hilfsmittel, dann verspürt man das ungute Gefühl, betrogen zu werden.

Winfried begrüßte Frau Naumann zurückhaltend. Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte Reißaus zu nehmen, er hätte es wahrscheinlich getan. Er unterdrückte einen heimlichen Seufzer und bat die unnatürlich gut aussehende Dame an seinen Tisch. Er rückte ihr einen Stuhl zurecht, und rief das Mädchen mit dem Kuchentablett herbei. Rasch wählte sie sich ein großes Stück Schwarzwälderkuchen aus, das sie heißhungrig auf dem Teller betrachtete.

„Oh, wie das alles schön aussieht „, bemerkte sie genüsslich.

„Am liebsten esse ich Schwarzwälderkuchen und trinke meinen Kaffee dazu.“

Zu Winfried gewandt fragte sie: „Und Sie sind kein Kaffeetrinker?“

„Oh nein, nicht immer, ich habe auf Sie gewartet, und ich freue mich, dass Sie gekommen sind.“

„Oh ja „, erwiderte sie nicht zusammen hängend, „um diese Zeit trinke ich jeden Tag meinen Nachmittagkaffee.“

Sie entschuldigte sich, dass sie zu spät gekommen war, denn sie wäre in einer Bildergalerie gewesen und hätte dort die Zeit vertrödelt.

„Ich verstehe nicht viel von Bildern und der neumodernen Kunst“, gab sie freimütig zu, „früher bin ich nie dazu gekommen sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Als mein selig gestorbener Mann Alfred noch lebte“, sie stockte und seufzte traurig. Winfried half ihr weiter. „Ihr verstorbener Mann hatte sich nie für Kunst interessiert?“ „Nein. Gar nicht. Höchstens für Modelleisenbahnen, aber von denen habe ich nichts verstanden.“

Sie hatte das Tortenstück aufgegessen, nun putzte sie sich säuberlich die Finger ab, und Winfried bot ihr eine Zigarette an.

„Nein, nein, ich danke sehr“, sagte sie, „ich rauche nicht. Alfred mochte keine Frauen, die dem Rauchen verfallen waren. Er fand es abstoßend, unschick  und außerdem sehr gesundheitsschädigend.“

„Dann stört Sie es wohl auch, wenn ich mir eine Zigarette anzünde?“

„Aber nein, ganz und gar nicht, das macht mir nichts aus“, entgegnete sie rasch freundlich lächelnd.

„Mein Alfred hat auch geraucht. Bei Männern ist das etwas anderes.“

Winfried unterdrückte ein leises Lächeln und fragte gespannt.

„Hat das auch Ihr Mann gesagt?“

„Sie dürfen nicht über ihn lachen“, fuhr Ellen aufseufzend  fort „, er war ein herzensguter Mann, wirklich.“

„Das glaube ich Ihnen ja auch!“ tröstete sie Winfried Stirn runzelnd. „und jetzt fehlt er ihnen an allen Ecken und Enden?“

„Ja, wirklich“, erwiderte sie dankbar, „wie gut sie mich verstehen können. Es ist schrecklich von einem Tag zum anderen allein zu sein. Ein Herzinfarkt war schuld daran. Wissen Sie, es kam für mich alles so unerwartet. Anfangs konnte ich es überhaupt nicht fassen.“

Sie wandte den Kopf ab und senkte ihn traurig. Er ahnte, dass sie heimliche Tränen vor ihm verbergen wollte. Winfried war dieses Thema reichlich unangenehm, dennoch fragte er Mitleid vortäuschend.

„Wie lange ist es schon her, dass er...?“

„Zehn Monate und fünf Tage „ antwortete sie nach kurzer Überlegung.

„Nein, zehn Monate und 17 Tage ,Sie werden sich vielleicht wundern, dass ich schon jetzt nach so kurzer Zeit, das Trauerjahr ist ja noch nicht abgelaufen, wieder eine Partnerschaft eingehen will. Meine Freundinnen sagen mir immer wieder, dass ich verrückt sei, bei meiner guten  Pension noch einmal heiraten zu wollen. Ich könnte mir doch jetzt ein schönes Leben machen, ich könnte reisen, wohin ich wollte, aber, was ist das für ein Leben. Immer allein zu sein?“

„Wie lange waren Sie denn verheiratet?“ fragte Winfried, um sie zu trösten. „Achtzehn Jahre, eine lange Zeit, wenn man bedenkt wie schnell die Jahre vergangen sind. Manchmal kommt es mir vor, als wenn es gestern gewesen wäre“, überlegte sie nachdenklich aufblickend.

„Darf ich Ihnen einmal ein Bild von ihm zeigen?“

„Aber gerne, warum nicht?“ Sie öffnete umständlich ihre schwarze Krokoledertasche. „Hoffentlich habe ich auch ein Bild bei mir“, bemerkte sie, zu sich selbst redend, „es wäre doch zu schade. Hier ist eins, schauen Sie mal hin.“

Sie reichte ein buntes Foto über den Tisch. Es war eine Urlaubsaufnahme am Strand. Ein dicker, dunkelhaariger Mann mit Schnurrbart, der auf einer bunten Decke saß, schaute breit lächelnd geradeaus in die Kamera. Neben ihm eine vollschlanke Frau im Bikini mit starrem Blick und künstlichem Lächeln. Ellen zeigte mit dem Zeigefinger auf die Frau.

„Das bin ich, als ich noch jünger war. In Spanien an der Costa Brava“

„Nein!“ rief Winfried kopfschüttelnd, „das gibt es nicht, das kann nicht wahr sein. Das waren Sie? Ehrlich, ich hätte Sie wirklich nicht erkannt.“

„Doch, doch“, sagte Frau Naumann  seufzend, „ich habe mich sehr verändert, dazu müssen Sie bedenken, das die Aufnahme vor über zehn Jahren gemacht wurde.“ Langsam begann William zu begreifen. Der Tod ihres Mannes hatte sie tatsächlich umgeworfen. Früher war sie gertenschlank und gar nicht mal so unschön. Danach aber, nachdem sie sich wahrscheinlich monatelang gehen ließ, hatte sie mächtig zugenommen, ganz ihrem Schmerz zugetan. Und nun hatte sie einen Neuanfang gemacht. Sie war zum Friseur gegangen, hatte sich Dauerwelle legen lassen, in einem Kosmetiksalon hatte man versucht aus ihr das Beste zu machen. Sie meinte, ein neues Glück nur mit Hilfe von kosmetischen Verschönerungen zu erreichen. In ihrer jetzigen eleganten Aufmachung hoffte sie, schneller aus der Einsamkeit heraus zu kommen.

„Sie haben keine Kinder?“ wollte Winfried wissen. „Nein, leider“, antwortete sie bedrückt, „leider nein, es hat nie geklappt. Mein Alfred wollte auch nie unbedingt Kinder haben. Wir waren auch ohne sie glücklich.“

Ihre Stimme klang traurig als sie nach einer Pause weiter sprach.

„Aber heute bin ich anderer Meinung, da denke ich anders darüber, nicht so wie damals." 

„Wie denken Sie denn heute über Kinder?“

„Oh, ich habe sie sehr gern“, meinte sie, „ich sitze manchmal stundenlang am Kinderspielplatz und schaue ihnen zu.“

„Würden Sie auch welche adoptieren?“

„Natürlich, nur müsste ich zuerst verheiratet sein und einen Partner haben der mit allem einverstanden ist.“

In diesem Punkt war Winfried ganz ihrer Meinung. Ellen fuhr langsam sprechend fort. „Heute mache ich mir Gedanken, ob es nicht meine Schuld war, dass unsere Ehe kinderlos geblieben ist.“

„Was ist der Grund zu dieser Vermutung?“

„Ich weiß nicht, ob Sie das interessiert, es ist schon so lange her. Es betrifft meine ersten Jugendjahre. Ich habe bis heute mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit meinem verstorbenen Mann.“

„Da bin ich aber neugierig, was sie in all diesen Jahren ihrem Mann eisern verschwiegen haben!“

 Ellen trank wieder einen tüchtigen Schluck Kaffee, räusperte sich versteckt und begann ein tief gehütetes Geheimnis preiszugeben.

Teil 5

„Ich war noch ein Kind, als alles anfing, als ein unglückliches zehnjähriges Mädchen, das keine Ahnung von Gott und der Welt hatte, das leider seinen geliebten Vater viel zu früh verloren hatte und sich nichts sehnlicher wünschte, als wieder ein bisschen Wärme und Geborgenheit zu finden. Die letzten zwei Jahre hatte ich hilflos mit ansehen müssen, wie meine Mutter vor lauter Trauer schon morgens mit rot verweinten Augen an mein Bett kam, um mich zu wecken. Und so erhoffte ich vom Freund meiner Mama: Geborgenheit und Verständnis. Meine Mutter hatte ihn mir als „neuen Papi“ vorgestellt, der das Lachen in unsere Familie bringen würde. Meine Hoffnung wurde bitterböse enttäuscht. Ein halbes Jahr nach der erneute Heirat meiner Mutter und dem Einzug meines Stiefvaters geschah es zum ersten Mal.

Meine Mutter war an jenem heißen Sommerabend in die Klinik gefahren, weil sie als Krankenschwester Nachtdienst hatte. Ich lag bereits im Bett und blätterte in einem Kinderbuch. Es ist seltsam, dass man sich an solche Einzelheiten noch so genau erinnern kann. Ich kann mich auch noch genau an die große Tasse, den Kakao, der neben meinem Bett stand erinnern, an den Teddybär, der in meinem Arm lag. Vor allem aber an den Augenblick, als Onkel Ludwig, wie ich meinen Stiefvater nannte, prüfend im Türrahmen stand.

„Deckst du dich auch ordentlich zu?“ fragte er scheinbar besorgt und kam langsam auf mich zu. Etwas an der Art, wie er mich ansah, war anders als sonst. Mir war plötzlich unheimlich zumute.

„Kommt Mama bald wieder?“ fragte ich ängstlich. Er antwortete nicht, sondern setzte sich auf den Bettrand, schlug die Decke zurück und schob seine Hand unter mein Nachthemd. Ich lag stocksteif da, vor Entsetzen wie gelähmt. Als seine Finger mich an Stellen berührten, die bisher nur mir gehört hatten, bäumte sich alles in mir auf. Vor lauter Entsetzen brachte ich keinen Laut hervor. Ich starrte ich in das fremd gewordene Gesicht und biss mir vor Schmerz und Ekel die Lippen wund. Dieser Mann tat all die Dinge mit mir, von denen ich bis dahin nie etwas gewusst hatte. Bis heute ist es mir ein Rätsel, warum ich mich damals nicht sofort gewehrt hatte.

Ich erinnere mich nur, dass ich in meinem Inneren flehentlich nach meiner Mutter rief. Ich flüchtete mich in die Vorstellung, ich könnte Mama später alles erzählen, und sie würde mich trösten. Aber die Wirklichkeit war völlig anders. Als meine Mama in den frühen Morgenstunden nach Hause kam und an mein Bett trat, lag ich noch immer wach. Schluchzend warf ich mich in ihre Arme. Ich fand kaum Worte für das Schreckliche, das ich erlebt hatte. Dennoch begriff sie sofort. Ich sah es ihrem blassen Gesicht an. Ihre Reaktion war ein weiterer Schock für mich. Wütend schrie sie mich an.“

„Du lügst! Ich will kein Wort mehr hören von deinem gemeinen Geschwätz!“

Abrupt stand sie auf und verließ das Zimmer. Ich rannte ihr nach und klammerte mich weinend an sie, doch sie stieß mich einfach weg. Verzweifelt suchte ich nach einer Erklärung für ihr Verhalten. Nach etwas, das auch für meine Kinderseele verständlich war. Es gab nur eine Möglichkeit: Mama war böse mit mir, weil ich etwas Schlimmes getan hatte. Von da an hielt ich mich für die Schuldige, nicht meinen Stiefvater, der in den folgenden fünf Jahren regelmäßig in mein Zimmer kam, wenn wir allein in der Wohnung waren.“

Ellen atmete tief ein und machte eine Pause.

„Wie ging es weiter?“ fragte Winfried und sah sie dabei mitleidsvoll an.

„Ich fühlte mich damals mutterseelenallein auf der Welt, vergrub mich in mein Elend und fasste zu niemandem mehr Vertrauen. Kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag starb mein Stiefvater an einer Lungenentzündung. So schlimm es sich  anhören mag. Sein Tod war für mich die Erlösung. Wenige Tage nach seiner Beerdigung versuchte ich ein letztes Mal, mit meiner Mutter zu reden. Nie vergesse ich ihren Blick.

„Du hast Ludwig nie gemocht! Du hast dir diese Lüge nur ausgedacht, weil du von Anfang an ein kleines eifersüchtiges Biest warst!“ schrie sie mich an.

Ich fing bitterlich an zu weinen und begriff endgültig, dass ich meine Mutter für immer verloren hatte.“

Nach dieser ergreifenden Lebensbeichte, fragte Winfried Frau Naumann teilnahmsvoll: „Wie war denn so etwas überhaupt möglich? Wie kann eine Mutter nur so reagieren? Es ist nicht zu glauben, was manche Kinder erdulden müssen.“

„Sie werden es nicht für möglich halten“, sprach Frau Ellen weiter, „noch heute habe ich manchmal Alpträume. Ich schrecke mitten in der Nacht aus dem Schlaf auf und sehe den hungrigen Blick meines längst verstorbenen Stiefvaters, der abschätzend über meinen Körper gleitet. Ich schäme mich noch heute, wenn ich im Geiste seinen  zusammengebissenen  Mund sehe, der sich zu einem seltsamen Lächeln verzieht und Worte der Beruhigung murmelt, die falsch und höhnisch klangen. Nach so vielen Jahren kann ich mich noch genau an die Kindheitserlebnisse erinnern. Ich zermartere mir immer wieder den Kopf mit der Frage: „Warum hat damals meine Mutter nicht wahrhaben wollen, was mein Stiefvater mir antat?“

„Haben Sie später versucht mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, um sie danach zu fragen, warum sie so gehandelt hat?“

„Nein, das konnte ich nicht, meine Mutter starb ein Jahr nach dem Tod meines Stiefvaters. Ich habe kurz darauf Alfred kennen gelernt, er hat mir geholfen, meine Kindheitserlebnisse zu verdrängen. Aber vergessen habe ich sie nie!“

„Warum haben Sie“, wollte Winfried wissen, „nie mit ihrem Mann darüber gesprochen?“

„Dann hätte er mich vielleicht nie geheiratet!“

Die Antwort von Frau Ellen klang ehrlich und Vertrauen erregend.

Winfried rutschte auf dem Stuhl unruhig hin und her. Es hatte keinen Sinn, dieses Gespräch länger fortzusetzen. Frau Naumann war ein liebenswerter Mensch, und er hatte Mitleid mit ihr. Aber als Ehefrau kam sie für ihn nicht in Frage. Er versuchte sie zu trösten.

„Ich glaube, Sie machen einen Fehler, jetzt nach so kurzer Zeit schon einen neuen Ehepartner zu suchen. Sie müssen Geduld haben. Noch sind Ihre Wunden nicht verheilt. Und eine Ehe ich weiß es, ist alles andere als eine heilende Medizin.“

„Habe ich zu viel von Alfred erzählt?“ fragte Frau Ellen enttäuscht.

„Ich bin froh, dass sie es getan haben. Schlimmer wäre es, sie hätten nur an ihn gedacht, obwohl sie sich innerlich noch nicht von ihm gelöst haben.“

„Ich gefalle Ihnen also nicht“, fragte sie tonlos.

„Doch, doch „, behauptete Winfried wenig überzeugend, „ich finde sie schon reizend. Aber verstehen Sie mich, bitte, es wäre für Sie falsch, jetzt schon wieder zu heiraten, egal wen auch immer, ob mich oder ein anderen Mann. Es müsste zwangsläufig eine Enttäuschung für Sie werden.“

„Aber was soll ich denn tun? Den ganzen Tag zur Schneiderin laufen? Zum Friseur? Ausstellungen besuchen, die mir nichts bedeuten? Bücher lesen, die ich nicht verstehe? Ich habe niemanden“ Ihre Stimme versagte.“

„Nehmen Sie sich ein Pflegekind“, sagte Winfried spontan, „er wusste selber nicht, woher ihm diese Idee plötzlich kam.

„Es gibt viele Mütter, die dankbar wären, ihr Kind gut versorgt zu wissen. Es gibt Heime, die Ihnen gerne ein Pflegekind vermitteln. Es gibt Kinder, die genauso einsam und verloren sind wie sie selber. Sie haben Zeit, Sie haben so viel aufgespeicherte Liebe, mit der Sie ein Kind glücklich machen könnten.“

„Ein Kind ?“ wiederholte sie.

„Meinen Sie wirklich?“

„Ja, das meine ich!“

„Aber ich habe doch noch nie ein Kind betreut, ich weiß gar nicht, was ich mit einem kleinen Kind anfangen sollte. Und dann die Verantwortung, wenn das Kind krank wird, was mache ich dann?"

 Winfried wurde langsam ungeduldig und wusste selbst nicht, wie er ihr erklären sollte, was man alles mit kleinen Kindern unternehmen kann. Darum sagte er ihr etwas härter als beabsichtigt.

„Ja, liebe Frau Naumann, wenn sie so viele Bedenken haben, dann schreiben Sie das nächste Mal nie auf Anzeigen, worin ein Mann mit Kindern eine Partnerin sucht.“ „Ja, ja, da haben Sie recht, das habe ich nicht bedacht, ich habe nur den Mann gesehen, und nicht berücksichtigt, dass zu einer Familie auch Kinder gehören.“

„Ja, liebe Frau Naumann daran denken die meisten Leute nicht. Sie vergessen, dass das wichtigste in einer Familie die Kinder sind, für die Nachkommenschaft leben Vater und Mutter, und beide sollten alle Kräfte aufbringen, damit die Kinder glücklich und gesund aufwachsen.“

„Ach, Sie haben das so schön gesagt, was für ein guter Vater müssen Sie sein, Ihre Kinder sind zu beneiden.“

Sie blickte enttäuscht zu Erde. Um sie zu trösten, sagte Winfried einige aufmunternde Sätze, dass Sie noch so jung und hübsch sei, und bestimmt einen Partner findet, der ihr das geben kann, was sie sich erhoffe. Frau Naumann und Winfried  trennten sich in gutem Einvernehmen. Der Abschied war für sie, ohne bitteren Beigeschmack.

Seitdem hatte Winfried nie wieder etwas von ihr gehört.

Als Winfried am folgenden Morgen aufwachte, wusste er im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Die schlechten Erfahrungen von Ellen Naumann mit ihrem Stiefvater verfolgten ihn noch bis tief in die Nacht hinein. Da er öfters unter Asthmabeschwerden zu leiden hatte, bekam er schlecht Luft, was wiederum zu Schlafstörungen führte. Noch vor dem Zubettgehen hatte er einige Zuschriften zur Hand, um sie nochmals durchzulesen. Vielleicht war ihm das viele Lesen vom Vorabend nicht bekommen, denn eine Menge verschiedener Namen und Adressen schwirrten ihm im Kopf herum, das einen gesunden Menschen auch belastet hätte. Noch müde und nicht ausgeschlafen erhob er sich. Laut gähnend ging er ins Badezimmer unter die Dusche und ließ sich abwechselnd heißes und kaltes Wasser über den Rücken laufen. Er hatte sich während der Morgentoilette sorgsam rasiert und setzte sich nun erwartungsvoll an den Frühstückstisch. Er aß mit großem Appetit ein Spiegelei mit Toastbrot und trank dazu zwei Tassen Kaffee. Nun sah für ihn die Welt ganz anders aus. Er war im Besitz seiner vollen geistigen und körperlichen Kräfte. Es war Sonntagmorgen. Die Sonne schien ins  Arbeitszimmer, und seine Augen richteten sich auf den Schreibtisch mit den Briefen von heiratswilligen Frauen. Winfried setzte sich auf einen Korbsessel, und begann in ihnen u lesen.

Teil 6

Die letzten 5 Zuschriften waren es, die ihn interessierten. Ganz langsam und aufmerksam las er einen Brief nach dem anderen. Die Adresse mit der Telefonnummer von Heidi Dragon zwang ihn genauer hinzublicken. Ein Foto von ihr war mit einer bunten Büroklammer beigeheftet. Heidi Dragon sah auf dem Foto sehr jugendlich aus, ein sportlicher Typ mit hübschen Rundungen an den richtigen Stellen. Sie schrieb, dass sie 38 Jahre alt sei, und vor zwei Jahren schuldlos geschieden worden wäre. Das Abitur hätte sie in Leipzig, in einer Mädchenschule bestanden und hätte später an mehreren Sprachkursen teilgenommen. Sie schrieb, in England und Frankreich gewesen zu sein, wo sie mehrere Jahre als Auslandskorrespondentin gearbeitet habe. Sie behauptete nicht, eine gute Hausfrau zu sein, diese Ehrlichkeit rechnete Winfried ihr hoch an. Dass sie nicht kochen konnte, störte ihn weniger, denn in einem großen Haushalt wie in dem seinigen, würde sie kaum Gelegenheit haben, in der Küche zu stehen. Für solche Tätigkeiten war seine langjährige Köchin Frau Seidel zuständig. Für ihn  war es wichtig, dass sie ein hohes Bildungsniveau besaß und fließend englisch und französisch sprechen konnte. Da viele von seinen Geschäftsfreunden Ausländer  waren, brachte sie alle Voraussetzungen mit, eine gute Gastgeberin zu sein. Sie schrieb dazu, dass sie in der Freizeit gerne gute Bücher lesen würde, gerne ins Theater und auch in die Oper ginge, alle  Beschäftigungen, die er selbst als sein Hobby bezeichnete. Neugierig auf ihre Reaktion, wählte Winfried die  Düsseldorfer Telefonnummer und lauschte aufmerksam in die Hörermuschel. Heidi Dragon meldete sich erst nach mehrmaligem Läuten. Er hörte, wie sie sich mit außer Atem geratener Stimme meldete.

„Hallo, hier Dragon, wer ist am Apparat?“

„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie am Sonntagmorgen belästige, aber Sie waren so freundlich, mir Ihre Telefonnummer mitzuteilen.“

„Wer sind Sie denn, ich wüsste nicht bei welcher Gelegenheit das geschehen sein sollte.“

„Sie haben doch auf mein Zeitungsinserat geschrieben, Mehring ist mein Name, Winfried Mehring, ich wohne in Düsseldorf.“

„Ach, Sie sind es!“ erwiderte sie erfreut, „ ich dachte schon, sie verschluckte das Ende des begonnenen Satzes.

„Ich möchte Sie gerne einmal persönlich kennen lernen!“

„Ich Sie auch“, erwiderte sie unbefangen.

Die erste Kontaktaufnahme war getan.

Es ging alles viel leichter, als Winfried sich das vorgestellt hatte. Er fragte weiter: „Wann und wo kann ich Sie treffen?“

„Wie wäre es, wenn Sie mich von der Wohnung abholen würden?“

Sie nannte eine Adresse in Düsseldorf-Benrath.

Nach kurzer Überlegung erwiderte Winfried mit erwartungsvollem Unterton.

„Wie wäre es, wenn wir uns am S-Bahnhof treffen würden, an einem neutralen Ort?“ „Also gut, am Ausgang zum Bahnhof Benrath, morgen Abend um achtzehn Uhr.“

Als Erkennungszeichen sollte er einen schwarzen Regenschirm in der rechten Hand halten. Als wenn sie es geahnt hätte, am nächsten Tag regnete es wirklich Bindfaden. Mit dem Schirm in der Hand stand Winfried ziemlich unschlüssig am Eingang zum S-Bahnhof. Viele Menschen strömten aus dem Bahnhofsgelände, sie kamen von den Zügen und hasteten eilig  zu den Haltestellen von Bus und Straßenbahn. Der große Bahnhofsvorplatz war voller Menschen, und Winfried hatte wenig Hoffnung, Frau Dragon zu treffen. Die Bahnhofsuhr zeigte schon 10 Minuten nach sechs, als jemand ihn von hinten auf die Schulter klopfte.

„Sie haben vergessen Ihren Schirm aufzuspannen, Sie werden ganz nass!“ hörte er eine tiefe Männerstimme.

Winfried drehte sich um und blickte in ein unrasiertes Männergesicht. „Machen Sie sich keine Sorgen um mich, ich weiß schon, was ich tue“, erwiderte er gereizt.

Der Mann verzog sein Gesicht zu einem Grinsen und verschwand hinter einer Gruppe Jugendlicher.

Winfried hasste es, auf Menschen zu warten, die nicht pünktlich sein konnten. Vielleicht wäre er schon nach wenigen Minuten gegangen, wenn er nicht gedankenverloren das Taxi fortgeschickt hätte mit dem er gekommen war. Er wartete noch fünf Minuten, dann wurde es ihm aber doch zu dumm. Er wollte gerade den Regenschirm aufspannen, um zum Taxistand hinüberzugehen, als Frau Dragon kam. Es regnete immer noch Bindfäden, doch sie kam schnell wie ein Wiesel herbeigeeilt, um die großen Wasserpfützen herumlaufend.

„Hach, was für ein scheußliches Wetter, entschuldigen Sie vielmals, dass ich mich verspätet habe.“ rief sie von weitem.

Als sie näher kam, bemerkte er, wie sie tief ein- und- ausatmend, ihren Schirm zusammenfaltete. Sie kam ganz nah heran, stellte sich unter seinen aufgespannten Schirm, und ihre Augen strahlten ihn erwartungsvoll an.

Winfried hätte sie auch dann erkannt, wenn sie nicht wie verabredet, einen roten Schirm in einer Hand gehalten hätte. Sie trug einen eng gegürteten, hellen Regenmantel mit passendem Regenhut und weiße, hohe Gummistiefel an den Füßen. Winfried hatte die Stirn in waagerechte Falten gelegt, als ob es ihm schwer fiele, ihre Worte zu verstehen. Diese Verlegenheitsgeste dauerte nur eine Minute an, danach vergaß er seinen Ärger, und alle bösen Worte, die er sich während der langweiligen Wartezeit zurechtgelegt hatte, waren wie weggefegt. Sie wischte sich schnell über das regennasse Gesicht, um dann ihm die Hand, eine warme, feste Hand mit sympathischen Druck zu geben.

Winfried musste zugeben, dass sie es war und nicht er, die das Kunststück fertig brachte, rasch die Verlegenheit der ersten Minuten zu verscheuchen. Sie erzählte ihm ohne Umschweife, dass sie noch nicht zu Abend gegessen hätte, ein Wink mit dem Zaunpfahl mit ihr in Richtung Benrather Schloss zu gehen, zum Hotel-Restaurant „Rheinfähre". Winfried war schon mehrmals mit Geschäftsfreunden dort gewesen, und wusste, dass man dort immer gut speisen konnte. Der Oberkellner grüßte ihn mit zuvorkommendem, aber nicht aufdringlichem Lächeln. Heidi Dragon machte einen repräsentablen Eindruck, nachdem sie Mantel und Hut abgelegt hatte. Winfried registrierte viele bewundernde Blicke der herumsitzenden Herren, und gutgelaunt setzte er sich mit ihr an einen Tisch, mit Blick auf den nahe vorbei fließenden Rhein. Bei der Bedienung bestellte er Abendessen für zwei Personen. Für sich und auch für seine Tischgefährtin: Zarten Kalbsbraten mit Champignons, dazu einen guten Wein. Heidi wollte aufstehen, taumelte etwas, setzte sich wieder und begann mit Appetit zu essen. Ohne Gier, langsam kauend, aß sie und Winfried stellte fest, dass ihre Tischmanieren nichts zu wünschen übrig ließen. Am Anfang plauderten sie über belanglose Dinge, wie über die Hitzewelle, die schon über einen Monat angehalten hatte. Dafür regnete es nun seit ein paar Stunden umso mehr. Sie sprachen über die Ergebnisse der olympischen Spiele und das letzte Fußballspiel im Rheinstadion. Aber überraschend schnell, zwischen Hauptgang und Dessert, wurde das Gespräch persönlicher. Heidi begann von ihrer missglückten Ehe zu erzählen, zuerst zaghaft und stockend, dann aber immer lebhafter und eindrucksvoller. „Lieber Herr Winfried, so darf Sie doch nennen, Sie werden es nicht glauben, ich war mit einem fünf Jahre älteren Studienrat verheiratet gewesen. Für mich war es meine erste große Liebe, ich möchte sogar behaupten, es war die einzige große Liebe gewesen, die ich je erlebt habe. Nach einigen Jahren hatte ich erkannt, dass ich einer Illusion zum Opfer gefallen war. Mein Mann wünschte sich sehnlich Kinder. Auch ich selber hatte mich sehr nach Kindern gesehnt, und als sich die ersten Anzeichen einer Schwangerschaft einstellten, waren wir beide überglücklich.

Mein Mann verlangte, dass ich sofort mit meiner Berufstätigkeit aufhörte sollte.“

Frau Heidi Dragon erzählte in eindrucksvollen Sätzen von ihren Erlebnissen während der Schwangerschaft und wie es zum Verlust des Kindes kam.

„Stellen Sie sich einmal vor „, wandte sie sich an Winfried theatralisch.“ Ich sollte als jung verheiratete Frau nur zu Hause sitzen und auf das Baby warten. Gesundheitlich fühlte ich mich den Umständen entsprechend wohl. Nur das lange Alleinsein in einer kleinen Wohnung, das konnte ich nicht ertragen. Mein Hausarzt meinte, dass ich eine längere Berufstätigkeit in der Schwangerschaftszeit ganz ruhig riskieren könnte. Schon in dieser Zeit kam es zwischen meinem Mann und mir zu alltäglichem Streit, wobei unliebsame Worte fielen. Ich hatte doch meinem Mann vor der Ehe eindeutig gesagt: „Ich bin kein Hausmütterchen, ich mag keine Hausarbeiten, ich will lieber in meinem Beruf weiterarbeiten. Ich hatte den Verdacht, dass die Sorge meines Mannes um die Gesundheit, mehr dem werdenden Kind galt als mir. Im siebten Monat gab ich dem Drängen meines Mannes nach, und ließ mich von einer gut bezahlten  Bürotätigkeit beurlauben. Mein Chef, alle meine Kollegen und Kolleginnen bedauerten es sehr, dass ich nicht mehr mit ihnen arbeiten konnte. Ich war in der großen Anwaltskanzlei gut eingearbeitet, meine Leistungen wurden anerkannt, mir fehlte sehr der tägliche Umgang mit Menschen. Frau Heidi Dragon fiel es schwer über die Vergangenheit zu sprechen und dabei sachlich zu bleiben. Die Erinnerungen wühlten sie innerlich auf, und Tränen drängten sich ihr in die Augen. „Es sollte für mich noch schlimmer  kommen“, fuhr sie mit wehmütiger Stimme fort. „Es fiel mir wirklich schwer, auf Alle Rücksicht zu nehmen und nur für die Gesundheit zu leben. Meinem Mann zuliebe betrieb ich jeden Morgen  Schwangerschaftsgymnastik, lebte nach strenger Diät, machte täglich lange Spaziergänge im Schlosspark. Aber, wie das Schicksal so will, stürzte ich eines Tages so unglücklich auf dem nassen Bürgersteig, dass die Wehen vorzeitig einsetzten, und ich schnell ins Benrather Krankenhaus gebracht wurde. Dort wurde ich von einer Frühgeburt entbunden. Ein kleiner Junge, er wog nur 1200 Gramm, der nach vierzehn Tagen starb, trotz aller ärztlichen Bemühungen war ein Schock für meinen Mann und für mich. Ich litt sehr darunter. Aber noch viel schlimmer war die Diagnose der Ärzte, die mir behutsam eröffneten, dass ich nie wieder Kinder bekommen würde. Eine schwere Unterleibsentzündung war die Ursache. Frau Dragon machte eine lange Pause. Die Erinnerungen an die Vergangenheit hatten sie zu sehr aufgewühlt. „Wie ging es denn weiter, was geschah danach?“ fragte Winfried mitleidsvoll.

„Ja, es war wirklich nicht einfach, für mehrere Wochen war ich ans Krankenbett gefesselt. Ich hatte mich abgefunden kinderlos leben zu müssen. Mein Mann dagegen war anderer Meinung. Für ihn war eine Ehe ohne Kinder sinnlos. Er warf mir vor, ich hätte nicht genügend aufgepasst. Ich hätte allein Schuld an dem Missgeschick und müsste nun alle Konsequenzen tragen. Was er mit diesen Worten aussagen wollte, das habe ich erst später erfahren. Ich quälte mich noch fast zwei Jahre in dieser unglücklichen Ehe bis ich erfuhr, dass er eine junge Studienkollegin geschwängert hatte. Riesengroß war meine Enttäuschung über das Verhalten meines Mannes. Kurze Zeit danach reichte ich die Scheidung ein und wurde nach einem Jahr Trennung schuldlos geschieden. Ich muss aber dazu erwähnen, dass ich nach dem neuen Ehescheidungsgesetz getrennt wurde, wobei ich beim Versorgungsausgleich recht gut bedacht wurde". Nach dieser ergreifenden Lebensbeichte wandte sich Heidi mit leblosen Augen an Winfried. „Sie werden jetzt verstehen, warum ich auf Ihr Inserat geantwortet habe. Da Sie selber fünf Kinder haben, hatte ich gehofft, das nötige Verständnis bei Ihnen zu finden.“ „Selbstverständlich“, erwiderte Winfried rasch, „es ist mir sehr lieb, dass Sie mir gleich offen und ehrlich die ganze Wahrheit gesagt haben. Ich kann Ihre Enttäuschung und Ihr Leid voll verstehen.“

„Oh, wie bin ich froh, dass Sie so verständnisvoll sind“, sagte sie, und legte ihre rechte Hand voller Dankbarkeit auf  seinen freiliegenden Arm. Heidi war in diesem Augenblick wirklich sehr liebenswert und Winfried meinte, eine gute Bekanntschaft gemacht zu haben. In ihren Augen bemerkte er unterdrückte Tränen, sie fasste sich jedoch rasch, zog ein Taschentuch aus ihrem Krokotäschchen und trocknete ihr tränennasses Gesicht. Als sie das Thema wechselte, fragte Winfried nicht weiter nach Einzelheiten ihrer unglücklichen Ehejahre. Beim Ober, der gerade vorbei eilte, bestellte William eine zweite Flasche Wein. Schnell waren drei Stunden bei angeregter Unterhaltung vergangen, und er betrachtete seine Gesprächspartnerin mit zunehmendem Interesse. Er stellte fest, dass sie sehr jung wirkte. Die kleinen Fältchen um die Augen machten sie nicht älter, im Gegenteil, sie verliehen ihrem hübschen Gesicht mehr Ausdruck. Sie hatte sich dezent geschminkt, ihr Make-up war tadellos. Das braune, weiche Haar, das ihr schulterlang in den Nacken fiel, hatte einen silbergrauen Schimmer, das nicht störte. Sie gefiel Winfried in jeder Beziehung. Ihre lebhaften doch beherrschten Bewegungen, ihr rasches, charmantes Lächeln und auch die manchmal traurig blickenden Augen, alles faszinierte ihn an ihr. Er konnte sich ganz gut vorstellen, dass sie eine exquisite Gastgeberin und mütterliche Freundin seiner Kinder sein könnte. Es war inzwischen halb elf geworden, und Winfried schlug vor, noch irgendwohin tanzen zu gehen. Sie lehnte dankend ab.

Um sie nach Hause zu bringen, bestellte er ein Taxi und schlug ihr vor, dass sie ein kurzes Wegstück gemeinsam zu fahren. Sie war damit einverstanden, und als sie Auf dem Weg zu ihrer Wohnung fragte sie lächeln.

 "Hätten Sie nicht noch Lust mit nach oben zu kommen, um eine Tasse Kaffee zu trinken?“

Dieses Angebot überraschte ihn und machte ihn neugierig. Und es geschah wirklich etwas, womit er wirklich nicht gerechnet hatte. Als sie unbefangen sagte, sie wolle ihm ihre Wohnung zeigen, betrachtete er die Einladung als Vertrauensbeweis, ohne dabei irgendwelche Hintergedanken zu hegen. Ihre Wohnung war in keiner Weise bemerkenswert oder originell. Die Diele war klein, ein großes Wohnzimmer war modern eingerichtet, das aber nicht seinem Geschmack entsprach. Das störte ihn nicht sonderlich, er würde ja doch nicht bei ihr wohnen müssen.

Heidi bat ihn, charmant und mit bezauberndem Lächeln, sich zu setzen. Sie schaltete die schwarzgraue Stereoanlage ein, und leise erklang Mozarts „Kleine Nachtmusik". Sie ging in die Küche, und William machte es sich auf einem rotbraunen Ledersessel bequem. Geduldig und entspannt wartete er auf Heidi. Nach ein paar Minuten hörte er, wie sie ihn mit dem Vornamen rief:

„Winfried, komm` doch bitte mal hierher!“

Er folgte dem Ruf, der aber nicht aus der Küche kam, sondern aus dem erhellten Schlafzimmer. Für eine Sekunde war er wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte in der Zwischenzeit keinen Kaffee gekocht, sondern sie hatte sich in einen Hauch von Neglige gekleidet. Ihr makellos gut geformter Körper war deutlich sichtbar. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm, legte ihre schlanken Arme um seinen Hals und flüsterte: „Winfried, ich bin ja so glücklich!“ Ihr Mund war leicht geöffnet, sie beugte sich auf Zehen stehend zu ihm hoch, ihre Aufforderung war unmissverständlich. Später fragte sich Winfried, warum er nicht in diesem entscheidenden Moment gegangen war. Das war der Augenblick, an dem er unter einem Vorwand aus dem  Schlafzimmer gehen sollte. Aber zu diesem Zeitpunkt war er schon vom schönen Frauenkörper berauscht, sein gesunder Menschenverstand war dahin. Diese Situation ist der Beweis dafür, dass die menschliche Neugier, bei Männern mehr die sexuelle Begierde, jedes klare Denken ausschaltet. Das soll keine Entschuldigung für das Verhalten von Winfried sein, denn er tat nämlich das, was viele andere Männer auch getan hätten. Er tat nur das, was Heidi heiß von ihm erwartete. Dieses Erlebnis mit ihr empfand er so schön, dass er noch Wochen danach daran dachte. Heidi war wirklich reizend gewesen. Ihre Wangen glühten zartrosa, ihre Augen leuchteten dunkelblau, mit zerzausten Haaren schaute sie ihren Liebhaber lächelnd an, und schien wie verzaubert zu sein. Sie erhob sich rasch, wandte sich errötend zu ihm und sagte verschämt: „Aber jetzt bekommst du deinen Kaffee!“

Winfried zog sich schnell wieder an, und er musste gestehen, Heidi war eine einmalig wunderbare Geliebte gewesen. Unruhig ging er ins Wohnzimmer zurück und begann, die Bilder an den Wänden zu betrachten. Auf dem Schreibtisch lag eine Mappe, die er gedankenverloren aufschlug. Für einen Moment war er sprachlos. Denn in der Briefmappe befanden sich mehrere Heiratsinserate, alle fein säuberlich ausgeschnitten und mit kurzen Randbemerkungen versehen. Ihm wurde klar, was er von Anfang an hätte wissen müssen. Er war nicht der einzige Mann, auf dessen Inserat sie geschrieben hatte. Wahrscheinlich war er auch nicht der einzige Mann, dem sie ihre „Liebe“ geschenkt hatte. Leise schlug er die Mappe zu, und setzte sich rasch auf einen Ledersessel. „Warum hatte sie gleichzeitig auf mehrere Anzeigen geschrieben? War es weibliche Neugier oder kalte Berechnung?“

Winfried bemühte sich den eingeschenkten Kaffee so unbefangen wie nur möglich auszutrinken. Bald danach erhob er sich etwas steif, um sich von ihr zu verabschieden. Wie benommen ging er mitten in der Nacht leise die Treppe hinunter. Der Weg zum Taxistand war nicht weit, und es dauerte nicht lange, so war er wieder in seinem Bett, in das er sich zufrieden kuschelte. Ehe er einschlief, dachte er noch einmal an das raffinierte Verhalten von Heidi, der es gelungen war, einen so beherrschten Mann wie Winfried zu verführen. Im Grunde war ihm das Erlebnis nicht unangenehm, in Gedanken sandte er ihr ein gehauchtes „Dankeschön". Am nächsten Tag schickte Winfried durch Fleurop ihr einen Strauß roter Nelken mit einem kurzen Begleitschreiben. Er bedankte sich noch einmal für den schönen Abend, teilte ihr aber gleichzeitig mit, dass er dringend verreisen müsste. Es war ihm nicht leicht gefallen diese Notlüge zu erfinden. Heidi hat diesen Satz richtig verstanden. Seit diesem Erlebnis  hat er nie wieder etwas von ihr gehört.

Teil 7

 Zwei Tage später traf sich Winfried mit einer jungen Frau, an die er noch lange denken sollte, da es nicht jedermanns Sache ist, plötzlich mit nicht einmal 50 Jahren zum alten Eisen abgestempelt zu werden. Sie war Mitte dreißig, hoch gewachsen und schlank, elegant gekleidet und bildete eine imposante Erscheinung. Sie trug ein elegantes Reisekostüm aus Tweed, einen engen Rock mit einer großzügig geschnittenen Jacke, als er sie in einem Düsseldorfer Hafenrestaurant kennen lernte. An ihren  Namen: Lydia von Thomalla, dachte er noch viele Monate, und jedes Mal, wenn er im Auto über die Südbrücke nach Neuss fuhr, erinnerte er sich an den verregneten Abend, den er mit ihr verbrachte. Die Begrüßung am vereinbarten Treffpunkt vollzog sich problemlos, der bestellte Tisch in einem Hinterzimmer war festlich vorbereitet, und Winfried hörte eine Lebensgeschichte, die ihm wieder einmal bestätigte, dass es Frauen nicht so leicht haben, aus dem Teufelskreis: Elternhaus, Ehe, Familie, Kinder und Liebe auszubrechen.

Frau Lydia, wie Winfried sie nach einem kurzen Begrüßungstrunk nannte lehnte, sich zurück, zündete sich eine Zigarette an, und begann mit gewählten Worten zu sprechen.

 "Ach, lieber Herr Mehring, wenn Sie wüssten, wie ich mich gefreut habe, endlich in einer Großstadt in eine eigene Wohnung zu ziehen, um allein über mein Leben bestimmen zu können.

„Konnten Sie das bisher nicht?“ unterbrach Winfried sie nicht sehr galant.

„Nein, leider nein, ich lebte seit meiner Geburt mit meinem Bruder auf einem Eifelgutshaus, das wir von unseren verstorbenen Eltern geerbt hatten. Das Elternhaus, lag etwas höher auf einem Hügel, und nur ein asphaltierter Privatweg führte zu unserem Anwesen. Meine Jugendzeit verlief problemlos, ich erhielt das Abiturzeugnis im nahen Eifelstädtchen Daun, als mein Leben einen ungewöhnlichen Lauf vernahm. Ich war gerade 21 Jahre alt geworden und sehnte mich nach einem Partner, der Hobbys und Gemeinsamkeiten mit mir teilen würde. Ich hatte schon mehrere Verehrer gehabt, aber keiner war unter ihnen, der meinen Vorstellungen von Ehe und Familienleben entsprach, noch meine recht außergewöhnlichen Freizeitbeschäftigungen unterstützt hätte. Ich war seit vielen Jahren eine recht begabte Schachspielerin und reiste von einem Tournee-Spiel zum anderen, um sich mit ebenbürtigen Gegnern zu messen. Ich war eingeschriebenes Mitglied im Düsseldorfer Schachverein und Sie werden es nicht glauben, in unserem geräumig eingerichteten Wohnzimmer standen auf einer eichenen Wandkonsole mehrere Pokale, die von gewonnenen Schachspielen zeugten, auf die ich besonders stolz war. Lediglich die langen Winterabende, im zugeschneiten Gebirge, mit dem Bruder allein unter einem Dach, hatten etwas Düsteres an sich, das mir manchen seelischen Kummer bereitete. Doch die Aussicht auf das Tal inmitten der herrlichen Eifellandschaft, mit dem immer wiederkehrenden Frühlingserwachen entschädigte mich für das Ausharren in den Kältemonaten. In dieser für mich so langweiligen Zeit, kam eines Tages kurz nach Aschermittwoch, der Bruder nach Hause und gestand nach hartnäckigen Nachfragen ein, dass er einhunderttausend Mark aus der Firmenkasse genommen hätte, um preisgünstige Aktien kaufen zu können.

„Aber Christian, wie konntest Du nur so etwas tun?“ fragte ich enttäuscht.

Seine Erklärungen wirkten wenig glaubhaft, und nach kurzer Zeit ging ich aus dem Wohnzimmer, um einen sich anbahnenden Streit zu vermeiden. Mit Tränen in den Augen blickte ich auf ein Familienbild mit den geliebten Eltern, das in einem vergoldeten Rahmen steckte. Als ob ich bei ihnen Trost und Rat finden könnte, verharrte ich einige Minuten im Schweigen, auf einem wuchtig wirkenden Ledersessel sitzend. Ich hörte nicht das zaghafte an die Tür Klopfen meines Bruders, der in die altdeutsch eingerichtete Wohnstube kam, um mich in meiner Enttäuschung zu trösten. „Ich habe es doch nur für uns getan, ich hoffte darauf, dass die Aktien Gewinn einbrächten, weil wir doch dringend das Geld für die Reparaturkosten benötigen, um das Dach erneuern zu lassen, durch das Schneewasser sickert. Aber nun sind die Aktien so tief gefallen, dass ich, wenn nicht ein Wunder geschieht, eines Tages ins Gefängnis muss." 

„Aber das darf auf keinen Fall geschehen, gibt es da keinen Ausweg?“ fragte ich betrübt.

„Doch, doch liebes Schwesterherz, du kennst Harry, den ältesten Sohn vom reichen Gutsbesitzer Görlich, der dich gern heiraten möchte. Harry ist ein wohlhabender Immobilienmakler. Er hat in den letzten Jahren ein Vermögen erworben und zu seinem Geld fehlt ihm nur noch eine Frau mit Rang und Namen.“

 "Und weil wir zufällig in einer adeligen Familie geboren wurden, soll ich ihn heiraten, nein Christian, das kannst du nicht von mir verlangen“, widersprach ich ihm aufgebracht. „Sei nicht so voreilig“, unterbrach Christian mich, „du weißt noch nicht, dass Harry Görlich von meinem Pech weiß“, fuhr er fort, wobei er die Augen senkte. „Zufällig war er in der Bank, in der ich den Aktienkauf vornahm, und er kann jederzeit sein Wissen an meinen Chef weiterleiten.“

Aufseufzend ließ ich mich auf den Sessel nieder, von dem ich vorher aufgestanden war. „Und was nun, was soll jetzt geschehen?" 

„Deine Heirat mit Harry wäre die einzige Lösung.“

 "Lass mich überlegen, ich brauche Bedenkzeit“, war meine wenig Hoffnung versprechende Antwort.

Ich schlief schlecht in jener Nacht. Ich wälzte mich im Bett hin und her, und als der Morgenhimmel graute, hatte ich mich durchgerungen, Harry Görlich zu heiraten.

Die Hochzeit wurde im gebührenden Rahmen gefeiert. Da Geld und Adel zusammenkamen, war auch die Heiratszeremonie dementsprechend. Freunde, Bekannte und Verwandte wurden eingeladen, die meisten fuhren in ledernen Pferdekutschen zur nahe gelegenen Kirche. Die prunkvolle kirchliche Trauung war ergreifend, die Hochzeitsgäste waren zufrieden, und nachdem die letzten Gäste abgereist waren, begann für mich der Ehe-Alltag.

Ich hatte vor der Hochzeit einen Vertrag mit meinem Bräutigam aufsetzen lassen, worin notariell beglaubigt wurde, dass ich nach der Heirat, alle auf unserem Grundstück lastenden Schulden von ihm getilgt werden, und dass er eine Abfindung von 100 000 Mark als quasi Hochzeitsgeschenk übergibt, die zur Bezahlung des Mankos meines Bruders in der Firmenkasse dienen sollten.

Die folgenden Jahre vergingen in kühler Reserviertheit, in denen ich meinem Mann lange Zeit etwas vorspielte. Harry arbeitete als selbstständiger Immobilienmakler mit großem Eifer. Die Einnahmen waren beträchtlich, die auf den wachsenden Geschäftskonten zu sehen waren. Die nach außen gezeigte Vornehmheit des jungen Ehepaares, die eine Hälfte war meine Wenigkeit, wich mit der Zeit einer Gleichgültigkeit, die alsbald zu Unterstellungen und Streitigkeiten führten. Ich warf meinem Mann vor, mich nur geheiratet zu haben, um meinen Bruder vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren. Auch banale Missverständnisse häuften sich, wie eines Tages, als ich zu einem Geschäftsessen erwartet wurde, obwohl Harry vergessen hatte, mir eine persönliche Einladung zu schicken. Für ihn war es selbstverständlich, dass er, wenn er mit seiner Ehefrau zu einer Geschäftsverabredung eingeladen wird, nicht die Frau noch eine extra Einladung erhalten muss. Mit bewundernswerter Gelassenheit verstand es Harry, mich zu überzeugen, dass solche Missgeschicke nicht wert seien, um sich darüber aufzuregen. Im freundlichen Umgang mit seinen Büroangestellten, erwarb Harry das Vertrauen von vielen, die ihn kennen lernten. Ich sprach eines Tages mit meinem Bruder über meinen Ehemann, mit dem ich nun schon seit 3 Jahren verheiratet war. Christian konnte nur Gutes über Harry berichten. Er erzählte mir, dass Harry eine größere Spende zur Renovierung der Kircheneinrichtung überwiesen hätte. In der ländlichen Gegend, war der Opel Wagen der Familie Görlich oft unterwegs, und die Dorfbewohner wussten nur Gutes über uns zu berichten. Harry ließ keine Gelegenheit aus, um den Ruf eines mildtätigen Wohltäters zu festigen. Ich hingegen vermied es peinlich, sich mit meinem Ehemann in der Öffentlichkeit zu zeigen. Ich verbrachte viele Tage zusammen mit einer älteren Tante im komfortabel eingerichteten Neubau, den man fast mit einem Schloss vergleichen konnte. Die Passion für das Schachspielen hatte ich aufgeben, ich war älter geworden und zog es vor, in der mit vielen Büchern ausgestatteten Haus-Bibliothek zu sitzen, und alte Familienchroniken zu lesen. Am beruflichen Leben meines Mannes nahm ich wenig Anteil. Ich interessierte mich nicht für Immobilien. Umso mehr war ich erstaunt, als mein Mann mich eines Tages einlud, ein Grundstück zu besichtigen, das etwa 50 Kilometer von meinem Wohnort entfernt lag. Es war Herbst, und es regnete leicht aus dunklen Wolken. Harry selbst chauffierte den Wagen mit mir im Fonds sitzend. Ich saß schweigend auf gepolstertem Ledersitz und betrachtete gelangweilt die Landschaft. Da geschah es. Eine Kuh, die sich von einer am Wege weidenden Herde entfernt hatte, sprang mit einem Satz vor das heranfahrende Auto und wäre überfahren worden, wenn nicht der Harry das Steuerrad herumgerissen hätte. Die Kuh war gerettet, aber das Auto fuhr sich überschlagend eine Böschung hinunter,

wo es auf dem Dach liegend von einem Landarbeiter gefunden wurde. Beide Insassen, Mann und Frau lagen ohnmächtig eingeklemmt im arg beschädigten Auto, das jeden Moment zu explodieren drohte. Mit einer Axt schlug der Arbeiter die Scheibe ein, zog zuerst Harry aus dem Wagen, der leicht benommen die Besinnung wiedererlangte. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, auch mich aus dem Auto zu zerren. Mein Mann hatte mich zärtlich auf die Hände genommen und am Straßenrand abgelegt. In der Zwischenzeit war ein Bauernwagen herangekommen. Ich, die junge Gutsbesitzerfrau, wurde auf den Wagen gebettet. Harry nahm selbst die Zügel in die Hand, um das Pferd zur Eile anzutreiben. Fast halb ohnmächtig wurde ich nach einer geraumen Zeit durch das das Wackeln des Wagens geweckt. Ich sah meinen Mann mit halbgeschlossenen Augen von der Seite an, wie er ängstlich bemüht war, einen in der Nähe wohnenden Doktor zu erreichen. Dort angekommen, wurde bei mir eine Gehirnerschütterung festgestellt. Harry hatte einige Schürfwunden abbekommen und blutete aus der Nase. Der Arzt, der uns Verletzte kannte, legte Notverbände an und ließ einen Krankenwagen kommen, um uns mit Blaulicht ins Krankenhaus in Adenau zu bringen. Ich hatte zum ersten Mal Gelegenheit die Ruhe und Fürsorge meines Mannes zu bewundern. Drei Jahre mussten vergehen, bis dieser Unfall, der mir, der bis dahin schweigsamen Ehefrau, zeigte, wie der Mann sich rührend um sie kümmerte. Die Reaktion war für uns beide erfreulich. Mit übertriebener Vorsicht streichelte ich die rechte Hand meines Mannes und murmelte mit leiser Stimme.

„Lieber Harry, womit habe ich verdient, dass du dich so um mich sorgst?" 

 "Pst - sei ruhig,“ flüsterte er mir ins Ohr, küsste mich dabei zärtlich aus echtem Mitgefühl heraus,“ es wird schon alles gut werden, wenn du erst einmal gesund bist, mein Schatz.“

„Entschuldigen Sie bitte, Frau Lydia, wenn ich Sie unterbreche, ich kann es kaum glauben, dass es heutzutage noch solche Männer gibt, die sich so vorbildlich verhalten hätten.“

„Das haben Sie sehr schön gesagt, doch für mich brach danach eine Welt zusammen, als in weniger als zwei Wochen später, mein Mann an einer Lungenentzündung plötzlich verstarb.

„Oh, das tut mir aber leid, das wusste ich nicht, dass sie noch so jung und schon Witwe sind.“

„Ja, ja, man sieht dem Menschen äußerlich nicht an, was für ein Leid er mit sich trägt.“

„Ja, aber wohnen Sie jetzt allein in Düsseldorf und suchen einen Partner fürs Leben?“

„Offen gestanden, ich kann das Alleinsein und die Abgeschiedenheit in den Eifelbergen nicht ertragen. Auch wenn ich einen flotten Opel-Wagen mir zugelegt habe, ich fühle mich einsam und nicht ausgelastet.“

„Und da haben Sie gedacht, ich schreibe einmal auf Partnerschaftsangebote?“

„So ist es, leider weiß ich nicht, welche Vorstellungen Sie von einer Kandidatin für die Ehe  erwarten?“

„Ich suche eine fürsorgliche Frau und Ersatzmutter für meine Kinder. Entschuldigen Sie, ich habe vergessen zu fragen, haben Sie eigene Kinder?“

„Nein, leider nein, oder vielleicht ist es besser so, dass ich keine habe?“

„Warum denken Sie so?“ wollte Winfried wissen.

„Ach, denken Sie nur an die vielen Tausend Kinder auf der Welt, die an Hunger und Elend tagtäglich sterben, darum sollten es Männer und Frauen geben, die verantwortungsvoll keine Kinder mehr in die Welt setzen.“

Indirekt verspürte Winfried einen Vorwurf, dass er 5 Kinder zu versorgen hatte, und zur Vergrößerung des Elends auf der Welt beigetragen hätte. Für ihn war Frau Thomalla mit ihren Vorstellungen unbegreifbar. Ohne sich in weitere Diskussionen einzulassen, nahm er von seiner Zufallsbekannten Abschied, um danach wieder in seinen vier Wänden daheim, sich auf ein weiteres Treffen mit neuen Kandidatinnen vorzubereiten.

Teil 8

Nach einiger Zeit entschloss sich Winfried mit einer Dame Kontakt aufzunehmen, deren Anständigkeit sozusagen durch ihre Eltern garantiert wurde, die ihm mit blumigen Worten ein Treffen mit Tochter Claudia vorschlugen. Aus dem Antwortbrief konnte Winfried entnehmen, dass Tochter Claudia eine junge Dame von 34 Jahren wäre, die unverheiratet war, und im Büro ihres Vaters als tüchtige Bürokraft beschäftigt war. Als Adresse war Neuss, Kanalstr. 44 angegeben. In einem Zusatz war im Brief vermerkt, dass die Eltern von Claudia Bauder erfreut wären, ihn bald kennen zu lernen. Sein Erscheinen  würde auch von Tochter Claudia begrüßt werden, die leider aus persönlichen Gründen bis jetzt keine Gelegenheit hatte, Menschen kennen zu lernen, die ihrer Ansicht nach sich im heiratsfähigen Alter befänden. Winfrieds Neugier war geweckt worden. Wie war es möglich, dass in der heutigen Zeit eine junge Dame es nicht wagte, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen?“ Das halbseitige, bunte Foto, das dem Schreiben beigelegt war, stellte eine junge hübsche Frau dar, schlicht frisiert, mit ausdrucksvollen hellblauen Augen. Von einem Make-up war nichts zu erkennen, der Mund war leicht geöffnet, worin tadellose schön geformte Zähne zu sehen waren. Die Eltern beschrieben ihre Tochter als anständiges Mädchen, das sehr häuslich, sensibel und leider ein wenig für die heutige Zeit zu schüchtern wäre. Unterschrieben war der Brief mit Alfred und Theodora Bauder. Winfried antwortete auf diese recht ungewöhnliche Einladung in kurzen aber höflichen Sätzen. Er gab sein Erscheinen am Mittwoch, den 27.September um 15 Uhr bekannt, und versicherte, dass er alles tun würde, um pünktlich zu erscheinen. Der Mittwochnachmittag sollte Winfried Überraschungen bringen, mit denen er niemals gerechnet hätte. Um sich nicht zu verspäten, fuhr er mit der Linie 9 rechtzeitig vom Graf-Adolf-Platz in Richtung Neuss los, und hatte bald die Straße gefunden, in der Familie Bauder wohnte. Auf dem Grundstück mit der Hausnummer, die er suchte, stand eine Villa, die von einem gut gepflegten Garten umgeben war. Das mit Balkonen und Terrassen bestückte Haus, schien während des Krieges ausgebrannt und später wieder aufgebaut worden zu sein. William nahm seinen Begrüßungsblumenstrauß in die linke Hand und ging zielstrebig ein paar Stufen die Steintreppe hinauf, wo er an der eisernen Haustür das Namensschild entdeckte, das er suchte. Er klingelte zweimal kurz hintereinander. Der Summton des Türöffners war noch nicht verstummt, als die Tür sich öffnete, und eine Hausangestellte erschien, die ihn höflich bat, einzutreten. Sie musterte Winfried  neugierig und begrüßte ihn mit einem für solche Gelegenheiten auswendig gelernten Standardsatz. Sie half ihm aus dem Mantel, versäumte es aber nicht, rechtzeitig einen Papierkorb zu zeigen, worin er die Umhüllung von den mitgebrachten Blumen werfen sollte. Dann führte sie ihn in ein großes Wohnzimmer, das mit schweren, dunklen Möbeln im altdeutschen Stil eingerichtet war. Der Kaffeetisch war mit Tassen aus Meißner Porzellan gedeckt, die auf einer bunt bestickten Tischdecke sehr einladend wirkten. In einem großen Bücherschrank sah er eine Menge Bücher, unter anderem auch die Gesamtausgaben von Goethe, Schiller und anderen Klassikern. Neben vielen Unterhaltungsromanen und Reisebeschreibungen waren auch Schallplatten zu sehen, die offensichtlich einem Liebhaber von klassischer Musik gehörten. Es war schwer, anhand der gesammelten Bücher Rückschlüsse auf das geistige Niveau der Familie zu schließen. Winfried  hatte nicht viel Zeit sich im Zimmer umzuschauen. In knapp einer Minute erschien eine ältere, wohl gepflegte Dame .Ihr Alter war schwer abzuschätzen, denn ihr silbergraues Haarstand im krassen Gegensatz zum gut gepflegten, faltenfreien Gesicht. Im blauen Seidenkleid, mit Symbolen des heutigen Wohlstands geschmückt, mit einer Nerzstola, doppelte Perlenkette um den Hals, sowie goldenem Brillantring an der Hand, betrat sie das Zimmer und musterte aufmerksam den für ihre Tochter auserkorenen Heiratskandidaten. Herr Bauder folgte mit gesengtem Kopf ein Schritt hinter seiner Frau. Den Blumenstrauß, der ursprünglich für die Tochter des Hauses bestimmt war, nahm die Hausdame selbst in beide Hände, dankte mehrmals höflich, um ihn danach dem Zimmermädchen weiterzureichen. Die Begrüßungsworte wurden mit eifrigem Kopfnicken zur Kenntnis genommen. Winfried war vom Empfang nicht zufrieden, unterdrückte aber seinen Unmut so gut es ging, sondern wartete neugierig das weitere Geschehen ab. Die ersten Minuten waren für beide Seiten etwas ungewöhnlich, denn wann kommt es schon einmal vor, dass Eltern für eine erwachsene Tochter selbst den Schwiegersohn aussuchen. Der auserkorene Heiratskandidat fühlte sich in seiner Haut unwohl, er wusste nicht recht, wie und womit er das Gespräch beginnen sollte. Er schaute sich versteckt um, und suchte unauffällig mit gesenktem Kopf Tochter Claudia zu erblicken. Frau Bauder bat ihn, an einem gläsernem Rauchtisch Platz zu nehmen, um den vier Stühle standen. Er setzte sich so hin, dass er mit dem Rücken zur Wand saß, und das Zimmer überblicken konnte. Herr Bauder brachte eine Flasche Weinbrand herbei, und zu sich selbst redend schenkte er kleine Kristallgläschen voll. Seine Frau lehnte Alkohol brüsk ab. Sie begann das Gespräch mit der Frage nach dem Fahrweg, den Winfried gekommen war. Nachdem er in knappen Sätzen seine Herfahrt erklärt hatte, vertiefte sich das Frage- und Antwortspiel. Herr Bauder hörte aufmerksam zu, sprach aber selbst kein Wort, sondern nippte zaghaft an seinem Weinbrandglas. Winfried prostete ihm und seiner Gattin freundlich zu, vermied es aber mehr als einen kleinen Schluck zu trinken. Die Hausherrin wechselte alsbald das Thema und ging zu den Tagesereignissen über, die sie in der Zeitung gelesen hatte. Sie wollte ihren Gast nach seiner Meinung  fragen, er aber hielt sich mit seiner Überzeugung zurück, da er nicht wusste, wie sie reagieren würde. Winfrieds Einstellung zur Politik war von jeher sehr liberal, und er war sich nicht sicher, wie sie von den Gastgebern aufgenommen würde. „Und was halten Sie vom Krieg in Jugoslawien?“ warf etwas zaghaft Herr Bauder ein. „Wann hört dort unten das Morden auf?“ Von dieser direkten Frage war Winfried überrascht worden, enthielt sich aber jeder Prophezeiung, sondern vertrat die Meinung, dass jeder in seinem engsten Familienkreis für Frieden und Ruhe sorgen sollte, dann würde es auch in der hohen Weltpolitik aussehen. Frau Bauder war mit seiner Antwort nicht zufrieden, ließ sich aber nichts anmerken, und als William immer öfter zur Tür hinschaute, warf sie mit entschuldigendem Lächeln ein. „Sie müssen sich noch etwas gedulden, lieber Herr Mehring, Claudia wollte es sich nicht nehmen lassen, zu Ehren des Besuches den Kaffee selber aufzugießen. Sie versteht es ganz vorzüglich Kaffee zu kochen, nicht wahr, Alfred?“ Alfred brummte etwas vor sich hin und genehmigte sich noch ein Glas vom Weinbrand. Seine Frau dagegen ließ sich nicht entmutigen und plauderte munter drauf los. „Übrigens, Claudia hat auch selbst den Kuchen gebacken, einen Apfelkuchen, nach einem alten Rezept unserer Familie. Sie ist eine ausgezeichnete Köchin und bäckt mit großer Vorliebe, und kann auch, wenn es sein muss, für mehrere Personen eine Hochzeitstafel zusammenstellen.“

Ohne auf irgendwelche Reaktionen der Anwesenden zu warten, holte sie tief Luft und pries weiterhin Claudia in hohen Lobestönen. Zu Winfried gewandt flüsterte sie: „Sie müssen nicht denken, dass mein Mann nichts von den Kochkünsten unserer Tochter hält. „Nein, nein, im Gegenteil. Heute Mittag erst sagte er: „Niemand kann so ein gutes Essen zusammenstellen wie unsere Claudia. Sie hat wieder einen Schweinebraten zubereitet, mit Klößen und Rotkohl, ein Gedicht von Essen. William saß erwartungsvoll mit Claudias Eltern am Rauchtisch, ohne dass jemand geraucht hätte. Die Mutter redete und redete, als ob sie dem Gast etwas sehr Wichtiges verkünden müsste. Sie merkte gar nicht, wie das auf die Dauer langweilig wirkte. Ohne die Zuhörer auch einmal zu Wort kommen lassen, sprach sie weiter. „Ach, wissen Sie, wenn wir nicht unsere Claudia hätten, mein Mann wäre in seinem Büro arm dran. Sie sorgt doch ganz allein für eine ordentliche Buchführung. Heutzutage ist kein Verlass mehr auf Büroangestellte. Sie allein hat es fertig gebracht, die neue Datenverarbeitungsanlage zu beherrschen.“ Redselig und vehement ging es weiter. „Entschuldigen Sie, wenn ich zu viel von meiner Tochter erzähle, aber dieses muss ich Ihnen noch sagen, Claudia kann auch gut sticken. Schauen Sie sich einmal diese Tischdecke an. Das hat sie ganz allein fertig gebracht. Stundenlang hat sie daran gesessen, um sie so auszusticken, wie sie jetzt vor Ihnen liegt. Gefällt sie Ihnen?“

 "O ja, ja, sie ist wirklich schön, das muss ich sagen, so eine schöne Decke habe ich nirgendwo gesehen“, stimmte Winfried ohne Überzeugung zu. Im weiteren Verlauf des einseitigen Gesprächs erfuhr er auch, dass Claudia Kindergärtnerin werden wollte, sie hätte sehr gerne Kinder, aber um über Kinder sich Gedanken zu machen, müsste erst der richtige Mann gefunden werden. „Claudia ist auch musikalisch, sie spielt Klavier, meistens Werke von Mozart oder Haydn, lieben Sie auch Musik?“

„Ja, natürlich, ich höre gern Musik, aber selber spiele ich kein Instrument.“ Um die Redseligkeit von Frau Bauder zu stoppen, fuhr Winfried fort: „Ich besitze auch eine sehr große Schallplattensammlung, ebenso viele Kassetten mit klassischer Musik. Am liebsten aber sehe ich mir Opernaufführungen im Theater an. Es gibt nichts Schöneres, als eine gut inszenierte Oper mit berühmten Schauspielern.“ Endlich war Winfried auch wieder einmal zu Worte gekommen. Frau Bauder schaute ihren Gast überrascht an, ließ ihn aber nicht weiter reden, sondern fragte: „Waren  Sie schon in La Traviata, das hat mir und meinem Mann gefallen, nicht wahr Alfred?“ Ihr Mann zuckte wieder zusammen, „gewiss, gewiss, das war ein Hochgenuss!“

„Na, haben Sie es gehört, mein Mann versteht etwas von Musik, auch wenn er manchmal nicht so schnell von Begriff ist.“ Alfred lächelte seine Frau süßsauer an, wagte aber nicht zu widersprechen. Das Gespräch wurde noch eine Weile in der gleichen Art fortgesetzt. Winfried konnte aber, außer einigen Zwischenbemerkungen, zu allem nicht viel sagen. Aus den Erzählungen von Frau Bauder konnte er auch über sie selbst einiges erfahren. Für ihn stand fest. Sie war eine nervöse Frau, die unter den Wechseljahren zu leiden hatte. Nach seiner Meinung hatte sie ein bestimmtes Ziel vor Augen. Tochter Claudia so schnell wie möglich zu verheiraten. Die Unterhaltung ging nach kurzer Pause weiter. „Wissen Sie, Claudia könnte längst verheiratet sein. Wie oft habe ich ihr schon zugeredet, einmal auszugehen, mit jüngeren Leuten zum Tanzen oder einfach so. Aber sie lehnt junge Männer ab, für sie sind sie zu albern, zu oberflächlich, nicht reif genug zum Heiraten. Im Ton der festen Überzeugung sprach Claudias Mutter weiter: „Die Männer sind doch heute nur auf ein schnelles Abenteuer aus, dafür ist aber meine Tochter doch wirklich zu schade. Wissen Sie, warum ich Ihre Anzeige in der Zeitung so interessant fand? Sie stand nämlich unter der Rubrik: „Spätere Heirat nicht ausgeschlossen.“ Das war doch etwas für unsere Claudia, sie ist sehr kinderlieb, und da Sie selber welche zu betreuen haben, hätte sie eine Aufgabe. Vorausgesetzt natürlich, dass die nötige Sympathie bei beiden vorhanden wäre!“ Langsam kam bei Winfried der Verdacht auf, dass die viel gepriesene Claudia ein entscheidendes Handicap haben müsste, einen Fehler, den man zu verbergen suchte. Herr Bauder schien seine Gedanken erraten zu haben. Zu seiner Frau gewandt, sagte er: „Nun mach mal einen Punkt, Theodora, du bietest ja Claudia an wie unreife Tomaten. Der Herr muss ja den Eindruck gewinnen, dass Claudia ein Holzbein hat, oder ein uneheliches Kind ist!“

Die Angesprochene lief vor Zorn rot an. „Alfred! „zischte sie“ wie kannst du nur, wo du doch genau weißt!“ Sie unterbrach sich, holte tief Luft und sagte zu Winfried gewandt: „Claudia, ist noch unschuldig, ja, das müssen Sie uns glauben. Sie hat ihre Tugend bis zum heutigen Tag bewahrt!“ Diese Behauptung  kam für Winfried völlig überraschend. Ein junges Mädchen von über 30 Jahren sollte noch jungfräulich sein? Er meinte sich verhört zu haben. Zu allem Überfluss kam genau in diesem Augenblick Claudia ins Zimmer. Beim Gedanken, sie könnte die letzten Sätze verstanden haben, fühlte sich Winfried peinlich berührt. Als er Claudia erblickte, erhob er sich sofort, um sie zu begrüßen. Es kostete ihm Mühe, ihr unbefangen ins Gesicht zu schauen. Mit einer blauweißen Kaffeekanne in der Hand machte sie ein paar Schritte zum Rauchtisch. „Nun stell doch die Kanne weg, komm her Claudia, und begrüße unseren Gast“, mahnte die Mutter. Sie sprach zu ihr wie zu einem kleinen Kind. Claudia protestierte nicht, sie kam näher, und als ihre Mutter den Gast bekannt machte, streckte sie schüchtern die rechte Hand aus. Im ersten Moment wirkte Claudia unscheinbar, viel unscheinbarer als auf dem Foto, das ihre Mutter beigefügt hatte. Sie war ein schlankes, großes Mädchen, das im einfachen Hauskleid etwas zu dünn wirkte. Ihr schmales Gesicht mit hohen Backenknochen war nicht geschminkt, ihr sensibler Mund farblos, und ihr helles Haar war hinten zu einem Knoten zusammengebunden. Ihre großen, ausdruckvollen Augen waren dunkelblau und schauten Winfried unsicher an. Claudia hätte, geschickt zurechtgemacht, ein erstklassiges Fotomodell abgegeben. Aber so, wie sie an diesem Tag aussah, wirkte sie völlig verschüchtert, sie schien voller Hemmungen und  Komplexe zu sein. Claudia hielt unschlüssig die Kaffeekanne in der Hand und wollte einschenken. Aber ihre Mutter nahm die Kanne aus der Hand und sagte tadelnd: „Lass das, Kind, du weißt doch.“ Zum staunenden Besucher gewandt fügte sie lächelnd hinzu: „Claudia ist ein bisschen ungeschickt, besonders in der Gegenwart Fremder.“ Die Mutter klingelte nach der Hausangestellten, damit sie den Kaffee einschenkte und servierte. Claudia wirkte eingeschüchtert, sie rückte auf ihrem Stuhl hin und her und ließ die Schultern nach vorn hinübergebeugt hängen. Die Mutter warf ihr wieder einen mahnenden Blick zu, und als das nichts nutzte, sagte sie tadelnd: „Setz dich gerade hin und iss was!“ Claudia gehorchte, sie richtete sich gerade auf, aber nur für kurze Zeit, dann ließ sie wieder die Schultern hängen. Der Kaffee war gut, der Apfelkuchen schmeckte ausgezeichnet, und alles wurde von William gebührend gelobt.

Claudia registrierte seine Zufriedenheit ohne darauf zu reagieren. Alle Bemühungen sie zum Sprechen zu bringen waren erfolglos. Wenn sich die Gelegenheit ergab an Claudia eine Frage zu stellen, antwortete die Mutter für sie. Herr Bauder saß schweigend Kaffeetisch, blickte ab und zu versteckt zu Winfried herüber und überließ seiner Frau die Unterhaltung. Alle waren froh, als die Kaffeetafel aufgehoben wurde. Frau Bauder rief die Hausangestellte, die sofort anfing die leeren Tassen und den Rest vom Kuchen wegzubringen. Claudia und ihre Mutter erhoben sich gleichzeitig und gingen zusammen in die Küche. Claudias Vater und Winfried blieben für ein paar Minuten allein, sie standen auf und nahmen wieder am Rauchertisch Platz. Behutsam füllte der Hausherr die Weinbrandgläser, bot eine Zigarre an, räusperte sich, und mit neugierigem Blick wandte er sich an Winfried:

„Sie wollen also in unseren Betrieb einheiraten?"

„Wie kommen Sie denn darauf?“ entgegnete er erstaunt. „Hat Ihnen Ihre Frau nicht gesagt, dass ich selbständiger Unternehmer bin, und dass ich in meiner Fabrik etwa einhundertzwanzig Leute beschäftige?"

„Sie hat mir etwas von einem reichen Mann erzählt, aber nichts Konkretes. Ich würde gerne von Ihnen selbst erfahren, was Sie für ein Unternehmen leiten, und ob Sie Referenzen vorweisen können.“

Jetzt erst begriff Winfried, sein Gegenüber hielt ihn für einen Mitgiftjäger. Einige Unterlagen, die er immer bei sich trug, überzeugten ihn von der Wahrheit seiner Person. Er berichtete ihm über die Bedeutung und den Umsatz seiner Fabrik. Die finanzielle Situation, gab er vage an, wobei er einige Einzelheiten verschwieg.

„Sie können sich überall und jederzeit über mich erkundigen“, schlug Winfried vor, „ich bitte Sie sogar darum, damit Klarheit zwischen uns herrscht.

„Herr Bauder erwiderte erstaunt: „Ja, um Gottes Willen, warum wollen Sie denn meine Tochter heiraten?“

„Das wird sich erst in der Zukunft erweisen“, antwortete er ausweichend. „Tatsache ist im Moment, dass ich eine Frau suche, und Ihre Tochter gehört zu den Damen, die ich in die nähere Wahl einbezogen habe.“

„Ist das alles?“

„Ja, das ist alles.“ - „Und von was hängt Ihre Wahl für Claudia ab?“

„Das kommt darauf an, ich müsste Ihre Tochter näher kennen lernen“

Herr Bauder zog an der Zigarre und blies den Rauch genüsslich vor sich hin. „Und wie weit, wenn ich fragen darf, wird das Kennen lernen gehen?“ In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass der Vater eifersüchtig auf ihn war.

„Ich werde Ihre Tochter nicht verführen, das verspreche ich Ihnen.“ Er machte sofort einen Rückzieher. „Das wollte ich Ihnen auch nicht unterstellen.“

„Herr Bauder ich möchte einmal mit Ihnen offen sprechen. Ich bin der Meinung, Sie haben etwas gegen mich, warum eigentlich?“

„Nein“, antwortete er,“ durchaus nicht, nur die Art wie man meine Tochter unter die Haube bringen will, die gefällt mir nicht. Warum soll sie auf einmal heiraten? Sie hat es doch gut bei mir, sie ist doch nicht unglücklich?"

 "Anscheinend doch, denn sonst hätte Ihre Gattin nicht auf mein Heiratsinserat geschrieben."

„So? Meinen Sie? Aber davon hat Claudia gar nichts gewusst, das hat meine Frau hinterm Rücken eingefädelt.“

„Sie möchten also, dass ich mich zurückziehe und Ihre Tochter in Ruhe lasse?“ fragte Winfried direkt. „Es gibt doch noch genug andere Mädchen, die froh wären von Ihnen geheiratet zu werden!“ Winfried wusste später selber nicht, warum er nicht in diesem Moment aufgestanden war und sich entfernt hatte. Vielleicht tat ihm auch Claudia leid. Er sah im Geiste ihre schönen Augen fragend auf  sich gerichtet und glaubte, sie beschützen zu müssen. „Herr Bauder“, sprach Winfried weiter, „Sie glauben doch nicht im Ernst, wenn ich das Feld hier räume, dass Sie damit gewonnen haben. Ihre Frau wird bestimmt auf andere Heiratsinserate schreiben, davon bin ich überzeugt.“

„Das kann ich nicht unterbinden, hören Sie bitte auf, mir wird bei diesem Gedanken übel.“ „Warum geben Sie mir nicht die Erlaubnis, Ihre Tochter einmal auszuführen? Ins Theater oder in die Oper? Sie wird sich bestimmt freuen, unter andere Menschen zu kommen, und außerdem bleibt die letzte Entscheidung danach immer noch offen.“ Nach einigem Hin und Her willigte der Vater ein, dass Winfried Claudia am nächsten Freitag ausführen sollte. Auch die Mutter war letztendlich damit einverstanden. Der Tochter schien die Einladung nicht sonderlich zu gefallen, gehorsam fügte sie sich aber in ihr Schicksal. Die Kaffeerunde bei Familie Bauder war für Winfried ein Erlebnis, an das er in den folgenden Tagen öfters denken musste. Er war sich aber nicht sicher, ob die Absicht sich mit Claudia allein zu treffen, als positiv zu bewerten war, oder ob er lieber den ganzen Plan unter einem Vorwand abbrechen sollte. Es wäre ihm leicht gefallen, eine Ausrede zu finden, sich vom Theaterbesuch zu drücken. Aber der Ehrgeiz, verbunden mit einer gewissen Portion Neugier, hielten ihn davon ab, seine einmal gegebene Zusage zurückzuziehen. Er sollte in den Augen der Familie Bauder nicht als Feigling dastehen, der sich nur in ein gemachtes Nest setzen wollte. Dieser Eindruck schreckte ihn ab, das Versprechen zu brechen. Die traurig blickenden Augen Claudias spürte er noch lange auf sich ruhen, und das gab ihm den nötigen Ansporn, allen Einwänden zum Trotz, die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Er bestellte bei der Theaterdirektion zwei gute Logenplätze für die Vorstellung am Freitagabend. Winfried war sich nicht sicher, ob er richtig handelte, die Zukunft sollte es beweisen. Nach etwa zwei Stunden verabschiedete sich William von der Familie und ließ seine Visitenkarte zurück. Er hegte die Befürchtung, dass sie ihn anrufen würden, um den Theaterbesuch rückgängig zu  machen. Aber nichts dergleichen geschah. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf.

Teil 9 

Zum Wochenende wurde in der Rhein-Oper „Nabucco“ gegeben, und Winfried meinte, auch Claudia würde sich über einen Opernbesuch freuen. Freitagnachmittag rief er bei Bauders an. Er hörte die etwas unwirsche Stimme der Mutter.

„Hallo, wer ist am Apparat, ich verstehe nicht, ach Sie sind es, Herr Mehring, Sie rufen wegen Claudia an, wie nett, wie nett.“

Winfried wusste nicht, wie er ihre Worte zu deuten hatte, er war aber froh, als sie versprach, darauf zu achten, dass Claudia ordentlich gekleidet wäre und rechtzeitig in der Theaterhalle auf ihn warten würde. Es schien ihm seltsam, dass eine Mutter so um das Wohl der Tochter besorgt war. Er achtete darauf keinen Fehler zu machen, um die sich anbahnende Freundschaft nicht zu gefährden.

Am Donnerstag besuchte Winfried wieder seinen Freund Günther, der Mitwisser von seinen intensiven  Heiratsbemühungen.

„Wie geht es Dir? Wie weit bist du mit der Suche deiner Traumfrau gekommen?“ fragte er kollegial.

„Kommt Zeit, kommt Rat“, erwiderte Winfried geheimnisvoll. „Du wirst es noch zeitig genug erfahren, wenn ich die richtige gefunden habe.“

Mit dieser nichts sagenden Antwort musste sich sein Freund zufrieden geben. Winfried erzählte ihm nicht alle Erlebnisse mit den Kandidatinnen, denn manche Erfahrungen waren weniger erfreulich.

Am späten Freitagnachmittag  hatte er es eilig schnell aus seinem Büro nach Haus zu kommen, um sich für den Opernbesuch rechtzeitig umzukleiden. Bei der Auswahl des Ausgehanzugs dachte er an Claudia, stellte Vergleiche an, machte sich Gedanken, wie er sich vorteilhaft ankleiden sollte, in einen Smoking vielleicht? Er verwarf diese Absicht, weil er nicht wusste wie Claudia darauf reagieren würde. Eine halbe Stunde vor der Opernaufführung bestellte er einen Mietwagen. Es dauerte keine zehn Minuten und Winfried befand sich im Vestibül der Rhein-Oper. Er ließ sich an einem Tisch mit zwei freien Stühlen nieder. Von dort konnte er die Eingangstür beobachten, durch die Claudia kommen musste. Immer mehr Theaterbesucher füllten die Halle, und seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Uhr zeigte schon 10 Minuten vor acht, aber von Claudia  war nichts zu sehen. Angespannt schaute Winfried auf die Pendeltür, wie sie sich drehte und einzelne Besucher hastig herein eilten. Die Theaterglocke läutete zum ersten Mal, die Halle leerte sich, die Tür wurde plötzlich weit aufgerissen, und Claudia kam hereingestürzt - endlich war sie da - Gott sei Dank!  „Claudia!“ rief Winfried von weitem, eilte freudig auf sie zu und wäre fast mit einem dickleibigen Mann zusammengestoßen.

Sie fuhr herum, sah ihn mit zitterndem Lächeln an und reichte ihm die Hand zur Begrüßung. Sie trug einen leichten Sommermantel, der unmodisch und etwas zu weit geschnitten war. Aber die schönen, ausdrucksvollen Augen, die ihn fragend ansahen, ließen ihn ihre ungünstige Aufmachung vergessen.

„Wie schön, dass Sie gekommen sind!“ sagte er erfreut.

„Ich hatte es doch versprochen“, erwiderte sie zaghaft, und dann fast im gleichen Atemzug fügte sie hinzu.

„Es tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss!“

„Aber, warum denn. Sie sind doch hier!“ Winfried hatte Claudia am Ellenbogen gefasst, um sie zur Garderobe zu führen. Sie aber sträubte sich und blieb stehen. „Ich kann nicht mit Ihnen ins Theater gehen.“

„Und warum nicht?“ fragte er enttäuscht.

„Ich hatte keine Zeit mich umzuziehen.“ Sie schluckte verlegen. „Ich kann so, wie ich aussehe, nicht hineingehen."

„Das ist doch nicht der wahre Grund, bitte Claudia, seien Sie ehrlich zu mir, sagen Sie mir die Wahrheit!“ Ihre Lippen bebten.

„Sie wissen doch, meine Mutter, es hat keinen Zweck, ich hätte Ihnen schon damals sagen sollen, aber meine Mutter, Sie kennen sie ja, es gab keine Gelegenheit die Wahrheit zu sagen!“

„Darum“, sagte Winfried mitfühlend,“ habe ich Sie gebeten hierher zu kommen, damit wir uns in aller Ruhe unter vier Augen unterhalten können. Und deshalb sind Sie doch gekommen, oder?“

„Ja“, kam es aus ihr kaum hörbar heraus.

„Also gut“, streichen wir die Oper, wir setzen uns aber irgendwo hin, wo wir uns gemütlich unterhalten können".

Sie nickte stumm, schaute ihn erwartungsvoll von der Seite an und machte den Weg frei für die wenigen Besucher, die noch in letzter Minute hereinkamen. Winfried wusste nicht recht, wohin er im Smoking mit ihr gehen sollte. Die Entscheidung wollte er ihr überlassen. Er packte sie tröstend am Arm und drückte sie sanft in einen nahe stehenden Stuhl.

„Nun, setzen Sie sich erst einmal, Sie sind ja ganz außer Atem, machen Sie, bitte, einen Vorschlag, was wir mit dem angebrochenen Abend anfangen. Hier können wir nicht bleiben, der Ort ist dazu nicht geeignet.“

„Am liebsten würde ich sofort wieder nach Hause fahren, bitte, bringen Sie mich zur nächsten Straßenbahnhaltestelle."

„Das wäre das Dümmste was ich täte, was würden Ihre Eltern von mir denken, wenn Sie ohne Opernbesuch zu Hause ankämen.“

Als er ihre Eltern erwähnte, zuckte Claudia zusammen und wurde unruhig.

„Ja, ja, schlagen Sie etwas vor, Sie wissen bestimmt besser als ich Bescheid, wo man in der Nähe in einem Restaurant oder Cafe sich unterhalten kann."

„Das Stadthallen - Restaurant ist hier in der Nähe, keine hundert Meter weit, wir können dorthin zu Fuß gehen. Ich hoffe, dass wir dort eine Ecke finden, wo wir uns ungestört aussprechen können.“

Winfried nahm Claudia erneut unter den Arm, und ging mit ihr auf die andere Straßenseite, um zur Stadthalle zu gelangen.

Das Wetter war für diese Jahreszeit angenehm erträglich, und in weniger als 10 Minuten betraten sie das Restaurant. In einem festlich eingerichteten Saal, worin nur wenige Gäste saßen, nahmen sie an einem runden Tisch Platz.

Beim herbeigerufenen Kellner bestellte William zwei Gläschen Killepitsch.

Nachdem Claudia auf das Wiedersehen mit ihm angestoßen hatte, lehnte sie sich entspannt zurück. Ganz langsam und vorsichtig begann Winfried ihre Bereitschaft zu wecken, ihm gegenüber offen und ehrlich zu sein. Es war ihm klar, dass er sie auflockern musste, wenn die Zusammenkunft überhaupt einen Sinn haben sollte.

Er wagte einen etwas lockeren Ton einzuschlagen, um ihr Vertrauen zu gewinnen. „Liebe Claudia“, begann er, „wir kennen uns erst seit ein paar Tagen, ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber sagen Sie mir bitte, warum sind Sie so misstrauisch mir gegenüber? Sie haben doch etwas zu verbergen? Habe ich Sie in irgendeiner Form verletzt, haben Sie Angst vor mir?“

„Angst habe ich keine vor Ihnen, sonst wäre ich nicht mit Ihnen hierher gegangen, aber ich kann es Ihnen nicht erklären was mich hindert, über Dinge zu sprechen, die ich lieber für mich behalten möchte.“

„Es liegt also nicht an meiner Person, da Sie schweigen?“

Sie schüttelte nur stumm den Kopf.

„Haben Sie kein Vertrauen zu niemandem auch nicht zu Ihren Eltern?“

Sie nickte kaum merkbar und begann leise zu sprechen.

„Was hat es für einen Zweck, wenn ich meine Vergangenheit erzähle, helfen können Sie mir ja doch nicht!"

„Um Ihnen helfen zu können, müssen Sie erst bereit sein, sich helfen zu lassen. Sie müssen Vertrauen zu den Menschen haben, Sie dürfen nicht nur an die Vergangenheit denken. Sie leben heute, jetzt sollen Sie sich auf die Gegenwart konzentrieren, die Welt ist doch so schön. Sie verbringen die Zeit mit Selbstvorwürfen, mit Gedanken über Dinge die nicht mehr zu ändern sind, sie sollten einen Neuanfang mit Ihrem jungen Leben beginnen, vergessen Sie ihre Sorgen, öffnen Sie sich, ich möchte Ihnen so gerne helfen. Haben Sie keine Freundin oder einen Freund bei dem Sie Rat und Tat holen könnten?“

Sie schüttelte nachdenklich den blond gelockten Kopf. Winfried merkte wie sie mit sich selbst kämpfte. Nach einem zweiten Glas Likör röteten sich ihre Wangen, sie schien ruhiger geworden zu sein. Immer noch sehr vorsichtig in seiner Wortwahl wandte er sich zum zweiten Mal in der zutraulichen Anrede an sie.

„Liebe Claudia, ich meine, Lebens erfahrener zu sein als Sie. Sie wissen, dass ich schon einmal verheiratet war, dass ich nicht mehr ganz junge Kinder habe, dass ich eine Frau suche, die Freundin von ihnen sein soll. Helfen Sie mir bitte!“

Mit fragenden Augen schaute Claudia Winfried an, aber nicht mehr so ängstlich wie vorher. Langsam schien der Eispanzer um ihr Herz zu schmelzen. Behutsam, immer ein wenig mehr Vertrauen erweckender sprach er mit ruhiger Stimme.

„Ich habe Sie von Anfang an richtig eingeschätzt, Sie sind nicht so wie Ihre Mutter es dargestellt hat. Sie sind nicht schüchtern, Sie tragen eine seelische Last mit sich herum, die sie bedrückt, die Sie nicht loswerden können. Werfen Sie doch die Last weg! Sie brauchen Hilfe, ich reiche Ihnen meine Hand, schlagen Sie ein.“

Winfried streckte seine rechte Hand zu ihr hin und sah, wie sie darauf blickte und sich auf die Lippen biss. Zaghaft, ganz langsam legte er seine Hand in ihre Rechte und zog sie etwas zu sich.

„Also doch, liebe Claudia, wollen Sie mir nicht sagen, was Sie auf dem Herzen haben, worüber Sie bis jetzt mit niemandem sprechen konnten?"

„Ja, aber nur unter der Bedingung, dass Sie mir versprechen mit niemandem darüber zu reden!“

„Großes Ehrenwort.“ Aufmunternd schaute Winfried sie an. Und Claudia begann zaghaft zu erzählen.

„Ich war noch keine 18 Jahre alt, als ich die erste große Liebe meines Lebens gefunden habe. Ich verlebte eine wunderbare Zeit. Ohne dass die Eltern etwas gemerkt hatten, besaß ich einen Zweitschlüssel zu unserem Haus, und immer wenn sie meinten, ich schliefe ruhig in meinem Bett, kam Willy, so hieß meine große Liebe, zu mir. Ich besaß eine kleine Wohnung im Souterrain, und es war sehr leicht für Willy, mich zu besuchen. Ich verlor nach kurzer Zeit meine Unschuld durch ihn, worüber ich nicht traurig war, denn ich glaubte an ihn, an seine schönen Worte. Er versprach, mich zu heiraten. Leider war diese schöne Zeit nur von kurzer Dauer. Mein Willy ließ sich eines Tages nicht mehr blicken. Er hat mich einfach sitzen lassen. Ich war zu enttäuscht, um nach ihm zu forschen. Meinen Eltern habe ich nichts von der schönen Zeit mit Willy erzählt, so schämte ich mich jetzt in der Not von meinem Kummer zu erzählen. Mein Vater war immer streng zu mir. Er mahnte mich oftmals: „Mädel, bleib anständig, dann wirst du eines Tages auch einen anständigen Mann bekommen! Meine Mutter wollte aus mir eine große Dame machen. Sie schickte mich zum Klavierunterricht, ich besuchte auch die Haushaltsschule, musste kochen und backen lernen, aber alles geschah auf das Kommando meiner Eltern. Ich hatte als junges Mädchen keinen eigenen Willen. Ich wäre gerne einmal tanzen gegangen, so wie es meine Schulkameradinnen taten. Ich wollte mich auch modern kleiden. Eine andere Haarfrisur hätte ich auch gerne getragen. Nein, nichts, aber gar nichts durfte ich selbst mir aussuchen. Alles wurde mir vorgesagt. Ich durfte auch niemals eine Freundin nach Hause bringen, nicht daran denken jemals einen Jungen als Freund zu haben. Bei uns zu Hause hieß es nur: lernen, arbeiten, anständig sein und den Eltern Dankbarkeit erweisen. Manchmal kam ich mir wie in einem Gefängnis vor. Nur zum Schulunterricht durfte ich das Haus verlassen. Mit den Jahren habe ich meine Selbständigkeit verloren, können Sie sich das vorstellen?“

„Oh, natürlich, kann ich mir das gut vorstellen. Ein junges Kind wird zu einem willenlosen Wesen erzogen - arme Claudia, was haben Sie alles mitgemacht. Wie konnten Sie so etwas ertragen, ist so was heute noch möglich!“ fuhr Winfried mit tröstenden Worten fort.

„Kinder werden zu Sklaven von den eigenen Eltern erzogen.“

„So war es, genau so wie Sie es sagen, ich hatte Angst vor allen älteren Menschen, ich traute mich nicht allein auf die Straße.“

Claudia machte eine Pause. Winfried bestellte für sie noch einen Likör, und nachdem sie davon getrunken hatte, fragte er behutsam.

„Was geschah danach? Haben Sie nie mehr einen Freund gehabt, jemanden bei dem Sie sich aussprechen konnten?“

„Doch, bei meinem Vater war ein Mitarbeiter beschäftigt, ein junger, hübscher Spanier. Er verliebte sich in mich, er stellte mir nach, und er überhäufte mich mit Geschenken. Ich sollte unbedingt mit ihm nach Spanien ziehen. Er konnte so wunderbar von der Sonne, dem blauen Meer und den Bergen in seiner Heimat erzählen. Ich war nahe dran, mein Elternhaus heimlich mit ihm zu verlassen. Ich wollte frei sein, nicht mehr nach Vorschriften gehorchen zu müssen. Aber wie es der Zufall so will, ich sah Romano einmal, wie er mit einem Mädchen Hand in Hand am Rhein spazieren ging. Es gab mir einen Stich ins Herz, mein Schmerz flammte brennend auf, ich war sehr traurig und bin seelisch krank geworden. Es dauerte ein halbes Jahr, ehe ich wieder zu mir gefunden hatte. Mit dem Spanier habe ich Schluss gemacht, ich habe mich in die Büroarbeit bei meinem Vater gestürzt, und seitdem bin ich immer allein geblieben bis zum heutigen Tage.“

Claudia atmete tief ein, und mit leiser Stimme presste sie heraus.

„So, jetzt wissen Sie es, jetzt ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Sie sind der erste Mensch, dem ich mein Geheimnis anvertraut habe, ich hoffe, Sie halten es für sich!“ „Selbstverständlich, von mir erfährt keiner etwas von Ihren traurigen Erlebnissen, ich danke für das Vertrauen, seien Sie unbesorgt liebe Claudia, ich weiß es zu schätzen, dass Sie so viel Vertrauen zu mir haben.“

Nachdenklich saßen beide dann einige Zeit zusammen, sprachen über dieses und jenes an diesem Abend. Winfried fühlte sich in ihrer Nähe wohl. Claudia war in seinen Augen ein liebenswerter Mensch, sie war klug und er konnte sich vorstellen, wie schön es wäre, mit ihr zusammenzuleben. Es war schon spät geworden, sie tranken noch einen Killepitsch, und Winfried machte ihr den Vorschlag, sie nach Hause zu bringen. Claudia wehrte ab.

„Nein, nein, das ist nicht nötig, ich finde schon allein zurück. Wenn Sie mir einen Gefallen machen wollen, dann bestellen Sie mir bitte ein Taxi.“

Winfried rief den Ober herbei, bezahlte die Rechnung, und verließ mit Claudia das Lokal, um sie zum herbeigerufenen Mietwagen zu bringen.

„Aber eines müssen Sie mir versprechen liebe Claudia, nächsten Sonntag besuchen Sie mich. Sie sollen meine Kinder kennen lernen, auch mein Haus wo ich wohne.“ - „Abgemacht - Ehrenwort.“

Claudia gab ihm die Hand zum Abschied, und mit sanfter Stimme und leuchtenden Augen sagte sie: „Vielen, vielen Dank für den schönen Abend, bis zum nächsten Mal.“

 "Winfried half ihr einsteigen, sagte dem Fahrer die Adresse, wohin er mit ihr fahren sollte, und wenig später war das Taxi seinen Augen entschwunden.

Teil 10

Am nächsten Morgen war Winfried in Gedanken noch lange bei Claudia. Ihre Lebensbeichte hatte ihn tief berührt, aber wie es im Leben oft geschieht, er verdrängte alle belastenden Probleme anderer Leute durch vermehrten Arbeitseifer im beruflichen wie auch häuslichen Bereich. Außerdem hatte er die Absicht, noch andere Damen zu testen, um ihre eventuelle Eignung als mögliche Lebenspartnerin zu prüfen.

Seine Kinder, Agathe und Helmut, nahmen die Ankündigung des Besuches von Claudia mit gemischten Gefühlen auf.

Agathe, von weiblicher Neugier geplagt, war sofort dafür, Helmut dagegen maulte. „Muss ich auch dabei sein, es genügt doch, wenn Agathe zu Hause ist. Ich will doch nicht heiraten, mich interessieren keine fremden Frauen, ich will lieber zu einem Fußballspiel gehen.“

Winfried musste mit ihm ein ernstes Wort sprechen.

„Helmut“, sagte er, „hör mal gut zu, es geht nicht darum was du willst, sondern ich bitte dich, am Sonntag zu Hause zu bleiben. Ich will auch nicht gleich, wie du vielleicht meinst, die erstbeste Frau heiraten, nein, ich möchte auch deinen Ratschlag hören.“

Am Sonntagnachmittag erschien Claudia in einem Kleid aus Georgetteseide und begrüßte seine Kinder ohne auf Ablehnung zu stoßen. Schnell waren die ersten Hemmungen überwunden, und Winfried stellte erfreut fest, dass die befürchtete gegenseitige Ablehnung nicht eingetreten war. Ihre Haare waren einfach frisiert, aber das Gesicht hätte man ohne Make up als schön und anziehend bezeichnen können. Sie schien über das Wiedersehen nicht so erfreut zu sein, wie er es war.

Winfried war zufrieden, als Agathe sich anbot, Claudia die Wohnung zu zeigen.

Er hoffte, dass die Scheu auf beiden Seiten schnell beseitigt würde.

Während Agathe die vielen Räumlichkeiten erklärte, brachte Frau Seidel den Kaffee herein und begann den Tisch zu decken. Mehrere Gebäckteilchen wurden auf einem Porzellanteller aufgeschichtet, und alsbald saßen alle vier gemütlich am Tisch, um vom leckeren Kuchen zu essen.

Claudia wollte es sich nicht nehmen lassen, die selbständige Hausfrau zu spielen. Sie nahm die Kaffeekanne und begann einzuschenken. Agathe reichte ihr die Tassen an, die Stimmung war gutgelaunt und da geschah es!

Helmut wollte anscheinend eine gefüllte Kaffeetasse zurückstellen, vielleicht hatte er die Untertasse nicht fest im Griff gehabt, jedenfalls die Tasse entglitt seinen Händen, und fiel auf den darunter stehenden Kuchenteller. Der abgebrochene Teil vom Teller und die Kaffeetasse fielen vom Tisch herunter, wobei sich heißer Kaffee auf das schöne Kleid von Claudia ergoss. Sie stammelte erschrocken eine Entschuldigung und lief aus dem Zimmer in die Küche.

Agathe hatte zuerst die Situation begriffen, sie rannte Claudia hinterher, und versuchte sie zu trösten.

Frau Seidel kam hereingestürzt und begann mit Lappen und Eimer die Spuren des Unglücks zu beseitigen. Es dauerte eine Weile bis Agathe wieder erschien - ohne Claudia.

„Was ist los? Wo ist sie?“ fragte Winfried kopfschüttelnd.

„Sie ist weg,“ erwiderte Agathe achselzuckend.

„Wie denn - warum denn - ist sie auf einmal weg?"

 "Ich bin nicht schuld daran, Papa“, antwortete Agathe aufseufzend, „ich habe sie nicht vergrault. Sie hat mir einen Zettel für dich gegeben. Hier ist er!“

Winfried las enttäuscht. „Ich danke für alles, ich weiß, Sie haben es gut mit mir gemeint, aber ich passe nicht in Ihr Leben, ich kann nicht anders - verzeihen Sie mir - Claudia.“

Am liebsten wäre er ihr nachgelaufen, hätte versucht sie zurückzuholen.

Helmut war der erste, der sich gefasst hatte, aber sich einer dummen Bemerkung nicht verkneifen konnte.

„Lass` sie doch laufen Papa, du bekommst doch noch eine andere Frau, die vielleicht besser ist als Claudia.“

Am liebsten hätte Winfried ihm eine runter gehauen, aber das hätte auch nichts genützt. Mit seiner Beherrschung kämpfend, sagte er zu Agathe.

„Der Tag ist gelaufen, schade, er hätte so schön sein können!“

Die Erfahrung mit Claudia veranlasste Winfried sich zukünftig vorsichtiger zu verhalten und sorgsamer in der Auswahl von Heiratskandidatinnen zu sein.

Er entschloss sich, alle Damen unter 40 aus der engeren Wahl der Bewerberinnen zu streichen. Er wollte eine Frau suchen, die ihm helfen sollte seine Kinder zu erziehen. Deshalb traf  er die nächste Verabredung mit einer Frau, die das Gegenteil von Claudia zu sein schien.

Gudrun Kandler war Unternehmerin, vermögend, 45 Jahre alt eine, energische, zielbewusste Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand. Sie hatte ihm aus Köln geschrieben, eine Frau aus der Karnevalshochburg. Das Foto, das sie beigefügt hatte, zeigte ein entschlossenes Gesicht, das Zuversicht ausstrahlte. In der Antwort auf das Zeitungsinserat schrieb Gudrun Kandler, dass sie eine Konfektionsfirma, Herstellung von Damenoberbekleidung betrieb. Winfried schlug ihr ein Treffen in ihrer Heimatstadt vor, und er erbot sich, so schnell wie möglich sie aufzusuchen.

Ihre Antwort kam postwendend. Auch sie wünschte ihn bald kennen zu lernen. Als Treffpunkt schlug sie ihm das Hotel-Restaurant „Esplanade“ in der Böttcherstraße vor. Am Freitagnachmittag um 17 Uhr sollte er an der Rezeption auf sie warten. Das war eine kurze und präzise Antwort.

Gudrun Kandler schien eine resolute Frau zu sein, die genau wusste, was sie wollte, und das gefiel ihm. Er hoffte, dass es kein gequältes Zusammensein unter elterlicher Aufsicht geben würde, wie er es mit Claudia erlebt hatte. Pünktlich um 17 Uhr war er an der vereinbarten Stelle. Den Wagen hatte er vor dem Hotel abgestellt und ging erwartungsvoll die Stufen hoch zur Hoteleingangstür. Der Empfangschef fragte ihn nach seinen Wünschen. Für einen Moment war er sprachlos. An das hatte er nicht gedacht. Was sollte er nun sagen? Der Zufall kam ihm zur Hilfe.

Er zog ein Foto von Gudrun K. aus der Brieftasche und zeigte es dem mürrisch dreinblickenden Tagesportier.

„Kennen Sie diese Dame?“

„Warum fragen Sie? Wer sind Sie? Sind Sie von der Polizei?“

„Nein, ich bin ihr Bruder!“ log Winfried schnell. Diese Notlüge fiel ihm spontan ein. Er hoffte, Frau Kandler würde nie etwas davon erfahren.

„Sie sitzt im Restaurant und wartet auf Sie“, war die knappe Antwort. Das war eine gelungene Überraschung!. Er ging in die angezeigte Richtung und betrat einen Raum, in dem mehrere Hotelgäste saßen. Der Oberkellner geleitete ihn zu einem freien Platz an einem Tisch in der Nähe der Eingangstür. Er saß noch keine drei Minuten, als die Tür aufgestoßen wurde. Eine schlanke, außerordentlich attraktive Frau mittleren Alters stürmte herein. Ein Blick genügte um festzustellen, das war Frau Kandler.

Winfried sprang auf, ging auf sie zu und begrüßte sie mit einem herzlichen: „Guten Tag, Frau Kandler“

Sie blickte ihn lächelnd an, trat ohne zu zögern einen Schritt auf ihn zu, und reichte ihm eine schmale, kräftige Hand.

„Wie schön, dass Sie gekommen sind!“ sagte sie.

Ohne verlegen zu werden fügte sie hinzu: „Wollen wir nicht lieber in die Bar gehen? Mir ist nach einem kräftigen Schluck zu Mute!“

Sie ging selbstsicher voraus, es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. An der Bar angekommen, steuerte sie zielstrebig zu einem Tisch, der nahe an einem großen Panoramafenster stand. Winfried half ihr, sich aus dem anthrazitgrauen Wollmantel zu lösen, nahm den dazu passenden Hut entgegen und brachte alles zur Garderobe. Das ging alles so schnell, dass er kaum Zeit fand, sich zu entschuldigen, nicht an der Rezeption auf sie gewartet zu haben. Souverän lächelnd schaute sie ihn an, und sagte selbstsicher.

„Ach was, das macht doch nichts, die Hauptsache Sie sind da, und haben mich gefunden. Setzen wir uns zuerst einmal hin, und erzählen Sie mir, wie die Fahrt hierher war. Haben Sie das Hotel gleich gefunden?“

Winfried schaute in dunkelbraune Augen, die ihn aus einem fein geschnittenen Gesicht prüfend ansahen. Gudrun faszinierte ihn sofort. Ihr Haar war silbrig getönt, ein dezentes Make-up verlieh ihrem Teint einen besonderen Reiz. Sie saß kerzengerade auf einem roten Ledersessel, in einem hellblauen Seidenkleid, am Hals hochgeschlossen und mit modernen Clips in den Ohren. Sie verbreitete den Eindruck einer vornehmen Dame, die gewohnt war, umschwärmt zu werden. Für Schwärmereien war William allerdings nicht zu haben. Es war sein Wunsch, eine Frau kennen zu lernen, die zu seinen Kindern und zu ihm passte. Und beim Anblick von Frau Kandler kamen ihm die ersten Bedenken, die er leichtsinnig beiseite schob. Er wollte mehr von dieser nicht  mehr allzu jungen Dame erfahren. Wieder erlebte er eine Überraschung. Beim herbeigerufenen Kellner gab sie ihre Bestellung auf.

„Einen Whisky bitte, aber einen doppelten.“ Jetzt erst wandte sie sich an Winfried und fragte zögernd.

„Sie trinken doch einen mit? Oder wollen Sie lieber...?“

„Doch, doch“, antwortete er verdutzt. Sie nahm eine Zigarettenschachtel aus der Krokotasche, ließ ein vergoldetes Feuerzeug aufspringen, und ehe er ihr Feuer anbieten konnte, zündete sie sich eine Zigarette an.

Winfried lächelte stumm vor sich hin. „Worüber lächeln Sie? Habe ich etwas falsch gemacht?“

„Nein, nein, nicht im Geringsten!“ Er hatte nicht vorgehabt, ihr zu sagen wie erstaunt er über ihr Verhalten war. Der Blick aus ihren intelligenten Augen schien ihn zu durchbohren. Er spürte, es gab kein Ausweichen, er musste ihr seine Gedanken verraten.

„Wissen Sie gnädige Frau, worüber ich lächeln muss? Es ist die Art wie Sie vorgehen!“

„Wie gehe ich denn vor?“ „Ich weiß nicht, vielleicht bin ich zu altmodisch, bis jetzt habe ich immer die Bestellungen beim Kellner aufgegeben. Heute zum ersten Mal, hat eine Dame für mich bestellt, außerdem haben Sie hier diesen Tisch ausgesucht, alles was ich nicht gewohnt bin."

Sie errötete, was ihr aber nicht stand. Rasch sprach sie weiter. „Sie haben vollkommen Recht! Ich bin manchmal unmöglich!"

„So schlimm ist es wiederum nicht, bitte, keine Übertreibungen!“

„Ich werde mich bessern“, versprach sie. Aber als die Getränke kamen, nahm sie wieder, ohne auf ihn zu warten, den ersten Schluck.

„Oh, das ist gut“, schnurrte sie wie ein Kätzchen, „wenn man den ganzen Tag auf den Beinen gewesen ist, und sich mit täglichem Kleinkram rumschlagen muss."  „Haben Sie Schwierigkeiten im Betrieb?“

„Die üblichen, immer dasselbe. Es ist schwer in der Konfektionsherstellung auf dem Laufenden zu bleiben. Die Mode wandelt sich so schnell, da kommt man kaum noch mit!"

 Sie begann nun ausführlich über ihre Sorgen und Probleme im Unternehmen zu berichten. Sie klagte über Absatzschwierigkeiten, über zu hohe Materialkosten und Steuern. „Stellen Sie sich vor, die Gewerkschaft will schon wieder streiken, wohin soll das nur führen? Wir sind doch nicht mehr konkurrenzfähig, die billigen Auslandimporte machen uns kaputt. Bei immer höher werdenden Personalkosten und den stagnierenden Umsätzen, kann kein Unternehmer auf  die Dauer existieren.“ - „Ja, ja, gnädige Frau, Sie haben vollkommen recht, ich bin ganz  Ihrer Meinung. Wie viele Leute beschäftigen Sie eigentlich in Ihrem Betrieb?"

„Ach, das weiß ich nicht so genau, es können 8 oder 9 Leute sein. Dazu kommen noch Näherinnen die in Heimarbeit für mich tätig sind.“

„Da sind Sie zu beneiden, denn ein Dutzend Leute kann man immer noch gut überblicken, da weiß man doch, wer für was zuständig ist. Aber stellen Sie sich vor, ein Unternehmen mit mehr als einhundert Beschäftigten, da weiß man manchmal wirklich nicht, wo einem der Kopf steht.“

Winfried konnte aus ihren Ausführungen entnehmen, dass sie mit Leib und Seele an ihrem Betrieb und ihrer Arbeit hing. Das imponierte ihn, obwohl er sich immer weniger vorstellen konnte, dass sie je bereit sein würde, ihre Firma aufzugeben, um sich nur noch ihm, seinen Kindern und dem Haus zu widmen. Das Gespräch wurde für eine einige Zeit über gemeinsame Schwierigkeiten geführt, die sich zwangsläufig bei der Leitung eines Betriebes tagtäglich ergeben. Die Fachkenntnisse von Frau Kandler waren anerkennenswert. Er lobte sie mehrmals, das ihr sichtlich gefiel. Nachdem sie das zweite Glas Whisky geleert hatte, lehnte sie sich entspannt zurück, lächelte Winfried charmant an und erwartete von ihm noch weitere Fachgespräche. Er aber fragte sie jetzt direkt: „Warum wollen Sie eigentlich heiraten? Wollen Sie das wirklich?“

Ihre Wangen hatten sich vom Alkohol, den sie allzu schnell trank, gerötet.

„Es ist keine Frage des Wollens“, antwortete sie nachdenklich, „ich muss.“

Winfried hatte ihre Antwort nicht sofort verstanden, darum blieb er schweigsam. Er hoffte, dass sie von sich aus versuchen würde, ihm ihre Situation zu erklären. Nach einer Pause begann sie zu sprechen, ohne ihn dabei anzusehen.

„Es ist nämlich so, der Betrieb, der gehört mir nicht wirklich.“

„Sind Sie nur dort angestellt?“ erkundigte er sich vorsichtig.

„Man könnte es auch so nennen.“

„Und wie geht es weiter, will man Sie entlassen?" 

„Ja, leider!“

„Nun hören Sie mal“, entgegnete Winfried aufmunternd, „so eine Frau wie Sie, mit Ihrem Können, mit Ihren Erfahrungen, Sie müssten doch leicht in einem anderen Betrieb eine neue Beschäftigung bekommen!“

„Ja, sicherlich, das sagt auch mein….“

Sie unterbrach sich, hob den Kopf und schaute Winfried zaghaft an. Er bemerkte in ihren Augen Angst und Verzweiflung. Mit unsicherer Stimme presste sie hervor: „Aber ich bin doch seit über 10 Jahren eigene Chefin!“

Winfried bemühte sich, es ihr leicht zu machen“

„Sie wollen also lieber heiraten, als in einer untergeordneten Stellung beschäftigt zu sein?“

 "Ja“, sagte sie erleichtert, „ja, und ich bin anpassungsfähig.“

„Ich fühle mich nicht zu alt um noch etwas Neues anzufangen. Ich kann mir vorstellen, auch in der Maschinenbranche tätig zu werden, wenn mir die Gelegenheit gegeben würde mich einzuarbeiten.“

Winfried verstand sofort, worauf sie hinaus wollte. Etwas härter als beabsichtigt betonte er.

„Ich suche keine Mitarbeiterin, sondern eine Frau für meine Kinder und mein Haus!“ Sie schaute ihn enttäuscht an.

„Glauben Sie nicht, dass man beides miteinander verbinden kann?“

Er wollte Sie nicht kränken und antwortete bedachtsam.

„Wer weiß, vielleicht doch, aber zum Glück brauchen wir ja das nicht von heute auf morgen entscheiden. Sie wissen ja viel zu wenig von mir und meiner Firma.

„Oh doch“, sagte sie, „ich habe Erkundigungen eingezogen!“ widersprach sie bestimmt. Winfried wunderte sich, dass ihm dieser Gedanke nicht früher gekommen war, zuerst sollte man Erkundigungen einziehen, ehe man mit jemandem Abmachungen vereinbart. Man sollte auch immer vorher wissen, mit wem man es zu tun hat. Innerlich widersetzte er sich gegen eine geschäftliche Eheschließung, aber grundsätzlich ist die Heirat eine sehr materielle Angelegenheit. Für viele Heiratskandidaten, die sich in Zeitungsinseraten anbieten, ist es meistens der einzige ausschlaggebende Grund. Ich bin an keiner Geldheirat interessiert; ich möchte eine Frau finden die bereit ist, alle Sorgen und Freuden mit mir zu teilen.“

Sie zündete sich eine neue Zigarette an, zog nervös den Rauch ein, und wandte sich dann an wieder an Winfried.

„Glauben Sie, dass ich diese Frau sein könnte?“ fragte sie nachdenklich. Er wollte sich nicht festnageln lassen. Winfried hatte seinen Vorschlag noch nicht ganz ausgesprochen, da merkte er, wie Frau Gudrun plötzlich zusammenzuckte, als ob sie einen Stromschlag bekommen hätte. Ein Schatten fiel auf den Tisch, und eine tiefe männliche Stimme begann.

„Einen recht schönen Abend, Frau Kandler.“ Winfried drehte sich um, und sah einen Herrn an den Tisch treten, der zu ihr gewandt leise sprach: „Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau, wenn ich Sie störe, aber sagen Sie bitte Ihrem Herrn Gemahl, dass ich mich morgen früh bei ihm melden werde.“

Der unbekannte Herr verbeugte sich, lächelte sie an, wandte sich ab und leise vor sich hin pfeifend, ging er wieder an seinen Platz zurück. Winfried glaubte, nicht recht gehört zu haben und konnte Gudrun nur enttäuscht anblicken.

Sie drückte nervös die Zigarette aus, zündete sich sofort wieder eine neue an und winkte den Ober zu sich. Sie bestellte ein Glas Whisky für sich ganz allein. Nachdem sie einen kräftigen Schluck getrunken hatte, begann sie ihren Lebenslauf zu schildern, die Tragödie einer Frau und einer Ehe.

„Damit Sie mich richtig beurteilen können“, begann sie, „muss ich Ihnen Erlebnisse aus der Jugendzeit erzählen, die viele Jahre zurückliegen. Als mich Robert, mein späterer Ehemann, in die Arme nahm, hätte ich die glücklichste Frau auf Erden sein müssen. Ich mochte ihn gern, sehr sogar. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich von ganzem Herzen verliebt. Ihm gegenüber gab ich mich locker und ungezwungen, konnte es sogar ertragen, wenn er den Arm um meine Schultern legte und mir zum Abschied einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab. Aber dann wollte er eines Tages mehr von mir. Wir kannten uns erst vier Wochen und waren zusammen im Kino gewesen. Auf dem Heimweg redeten wir von der Filmhandlung, über die Probleme von menschlichen Beziehungen.“

„Und wie steht es um unsere Beziehung?“ fragte er mich beim Abschied vor dem Haus, in dem ich mit den Eltern lebte. „Du bist so zurückhaltend, dass ich manchmal Angst habe, dich zu verlieren.“

Er wandte sich zu mir und zog mich an sich. „Ich habe dich sehr gern, Gudrun, und ich wünsche mir, dass du genau so empfindest.“

Für einen Augenblick machten mich seine Worte unbeschreiblich glücklich. Doch dieser Augenblick verging, als Robert zärtlich werden wollte. Seine Arme hielten mich umschlungen, sein Mund suchte meinen. Ich geriet in wilde Panik, bog meinen Kopf zur Seite und stieß ihn grob zurück, dass er mich sofort freigab.

Mein Ekel vor jeder Zärtlichkeit stand im krassen Gegensatz zu den Träumen, die mich seit Jahren fast jede Nacht quälten. Das Schreckliche an meinen Träumen war, dass der Mann kein Gesicht hatte. Immer wieder hatte ich mich bemüht, ihn zu sehen, zu erkennen, aber er blieb gesichtslos. Ein neutrales Monster, das mein Leben zerstörte und mich liebesunfähig machte. Ich hätte gern einmal mit jemandem über meine Alpträume gesprochen. Aber ich schämte mich zu sehr. Vor meinem Vater hatte ich Angst. Er war laut und dominierend und kam als Vertrauensperson bei einem solch heiklen Problem nicht in Frage. Auf den Gedanken, eine Familienberatungsstelle aufzusuchen, bin ich nicht gekommen. Ich musste mich wohl damit abfinden, dass ich neurotisch war und mich die Angst vor der Liebe nun auch noch um mein Glück mit Robert gebracht hatte. Irgendwann fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Ich träumte von Robert. Er war sanft und behutsam, und in seinen Augen lag eine warme Zärtlichkeit, als er sagte. „Ich liebe dich, Gudrun. Was auch immer geschieht, ich stehe zu dir, ein wunderschöner Traum.“

Winfried folgte mit wachsender Spannung Gudruns Erzählung und fragte neugierig: „Und weiter, was geschah weiter, sind Sie dahinter gekommen, wer der Mann ohne Gesicht war?“

Auf einmal war Robert wieder da und rief nach mir. Seine Stimme kam aus weiter Ferne. Ich wollte antworten, bemühte mich verzweifelt.

„Robert!“ flüsterte ich. „Bitte hilf mir!“

Plötzlich geschah, worauf ich in all diesen Jahren gewartet hatte. Der Mann wandte mir sein Gesicht zu. Und zum ersten Mal sah und erkannte ich ihn. Der Mann war mein Vater.

„Nein!“ schrie ich. „Nein, nein, nein!“ Von diesem Schreien wurde ich wach. Meine Mutter stürzte ins Zimmer.

„Was ist los? Warum brüllst du so?“ fragte sie mich ärgerlich. Sie machte Licht und starrte mich an. Kreidebleich saß ich in meinem Bett. Tränen liefen mir übers Gesicht, ich zitterte wie Espenlaub. Die Erinnerungsblockade war durchbrochen. Die grausame Wahrheit über Vater und mich war ein Schock. Ganz deutlich sah ich auf einmal die Bilder aus meiner Kindheit, die mir Furcht und Entsetzen eingeflößt hatten. Der eigene Vater hatte sich sexuell an mir vergriffen.

„Oh, Mama, es ist einfach unglaublich“, weinte ich.

„Was ist unglaublich?“ sie wirkte besorgt. Ich senkte den Kopf, dann begann ich zu reden. Es musste heraus. Ich konnte nicht länger zurückhalten, was ich jahrelang verdrängt hatte. Meine Mutter begriff sehr schnell. Sie wurde weiß wie die Wand. „Sei still“, sagte sie laut und heftig.

„Schluss damit. Das ist fast ein Vierteljahrhundert her. Du hattest es längst vergessen. Warum fängst du jetzt wieder davon an? Wen interessiert heute noch, was vor 20 Jahren war. Ich habe damals dafür gesorgt, dass es aufhörte. Also, gib Ruhe, Gudrun. Es ist doch gar nichts passiert. Es hat dir doch nicht geschadet. Ich starrte sie fassungslos an. Keine tröstende Geste, kein Verständnis, sie erwartete nicht einmal eine Antwort von mir. Bevor sie aus dem Zimmer ging, drehte sie sich noch einmal zu mir um.

„Kein Wort zu Vater. Wenn er erfährt, dass du dich erinnern kannst, wird er wahnsinnig. Heute, wo alle Welt über diese Dinge redet, weiß er längst um seine Schuld und darum, dass er einst mit einem Fuß im Gefängnis stand.“

„Sie sprach nur von ihm. Was ich durchgemacht hatte, interessierte sie nicht. Sie fragte nicht, warum ich nach 20 Jahren Schweigen plötzlich davon sprach. Meine Schreie, mein Entsetzen störten sie nur. Nie in meinem Leben hatte ich mich derart allein und verlassen gefühlt. Mir war übel. Ich kann nicht länger hier bleiben, dachte ich. Eine Stunde später hatte ich das Nötigste zusammengepackt. Im Morgengrauen verließ ich mein Elternhaus. Gudrun machte eine Pause, sie trank wieder einen Schluck, und Winfried fragte entrüstet.

 "Was geschah danach, wie ging es weiter?“

Ich wollte Vater nicht mehr sehen und Mutter auch nicht. Ich bestellte ein Taxi und ließ mich zu einer kleinen Pension fahren. Völlig übermüdet ließ ich mich auf das Bett fallen und schlief ein. Nachdem ich aufgewacht war, wenige Stunden später, wurde mir sofort klar, dass ich alles verloren hatte. Ich hatte kein Zuhause, keine Eltern, vor allem schmerzte mich, dass ich den Mann verloren hatte, den ich liebte: Robert!

Der Gedanke an ihn tat am meisten weh. Auf einmal verspürte ich eine vage Hoffnung und hatte den Wunsch, mit ihm zu reden. Ich wollte nur seine Stimme hören. Ich zog mich an und lief zur nächsten Telefonzelle. Er meldete sich sofort. Als ich kein Wort herausbrachte, rief er: „Gudrun! Gudrun! Bist du es? Was ist passiert? Ich habe bei dir daheim angerufen. Deine Mutter war so seltsam. Sie wollte dich nicht an den Apparat holen. Bitte, meine Liebe, sag mir, was los ist“

„Ich bin von zu Hause weg. Ich bin…..“

„Wo bist du? Ich komme sofort. Rühr dich nicht vom Fleck, Gudrun, und mach ja keine Dummheiten. Ich habe dich lieb. Vergiss das nicht. Hörst du?“

„Ja, ich hörte es. Und es tat mir gut. Ich brauchte ihn so sehr. Eine halbe Stunde später kam er in der Pension an und nahm mich wortlos in die Arme. Diesmal ließ ich es geschehen.

Winfried war erschüttert, und mit leiser Stimme drängte er: „Und weiter, wie ging es weiter? Wie reagierten die Eltern?“

„Zu einer Aussöhnung mit meinen Eltern ist es nicht gekommen, obwohl ich damals bereit war, wieder mit ihnen Kontakt zu haben. Als Robert den Rest meiner Habe bei ihnen abholte, damals war ich noch nicht so weit, um mitgehen zu können, ließen sie ihn schweigend ziehen. Keiner sagte ein Wort. Heute sind meine Eltern seit einiger Zeit verstorben, aber unter meinen Jugenderlebnissen habe ich noch lange zu leiden gehabt. Ich muss sagen, dass sich damals Robert vorbildlich verhalten hat, er hat mir geholfen so schnell wie möglich, mein Trauma zu vergessen. In dieser Kreisstadt haben wir auch nach einem Jahr geheiratet. Außer den Trauzeugen war niemand zu unserer Hochzeit eingeladen, ich wollte meine Vergangenheit vergessen, dass mir, so scheint es, zum großen Teil gelungen ist. In den letzten Jahren habe ich mit keinem über meine Vergangenheit gesprochen. Ich meine, wenn ich eine neue Partnerschaft eingehen will, dann schenke ich reinen Wein ein.“

Gudrun räusperte sich und sagte entschuldigend. „Sie können jetzt über mich urteilen wie Sie wollen, aber eines können Sie mir nicht nachsagen, dass ich Ihnen nicht ehrlich genug war, meine intimsten Geheimnisse preiszugeben.“

Das stimmte, Gudrun hatte Recht. Jetzt verstand ich auch ihr nervöses Zusammenzucken, als sie in meinem Beisein an ihren Mann erinnert wurde. Sie hatte gehofft, eine Partnerschaft einzugehen, ohne dass dabei die Vergangenheitserlebnisse zur Sprache kämen. Nach diesem recht langem Geständnis, lehnte sich Gudrun zurück, zündete noch eine Zigarette an und fragte: „Was gedenken Sie jetzt zu unternehmen?“

„Zuerst trinken Sie in aller Ruhe den Whisky aus. Danach gehen wir noch in den Speisesaal, wenn Ihnen überhaupt am Essen gelegen ist.“

„Offen gestanden, ich habe keine Lust etwas zu essen, aber wenn Sie gestatten, dann bestelle ich noch etwas zu trinken.“

„Kommt gar nicht in Frage, das ist meine Sache. Wenn Sie mir erlauben, dann bestelle ich einen herben Wein, ich trinke nämlich gern ein Gläschen.“

„Oh, natürlich, Sie können einen Wein bestellen, und wenn Sie es noch interessiert, dann erzähle ich Ihnen wie meine Ehe mit Robert verlief.“

Der Oberkellner brachte den gewünschten Wein, er schenkte ein, und Gudrun fuhr mit ihrer Erzählung fort. „Wir haben ein paar Jahre nach dem letzten Krieg geheiratet. Mein Schwiegervater besaß eine Kleiderfabrik, in der vorwiegend Uniformen hergestellt wurden. Leider ist er zu schnell gestorben. Mein Mann erbte den Betrieb und stellte die Produktion um. Wir stellten Damenkonfektion her, die gut anlief. Ich arbeitete mich schnell in alle Bürotätigkeiten ein und war die Chefin im Betrieb. Wenn ich ein Kind bekommen hätte, wäre vielleicht alles anders gekommen. Aber das Kind kam nicht. Mit Robert an der Seite arbeiteten wir hart und haben es auch zu etwas gebracht. Ich war überzeugt eine glückliche Ehe zu führen. Bis ich eines Tages erfuhr, mein Mann hat eine Geliebte. Ein dummes, primitives Ding, sage ich Ihnen! Stellen Sie sich vor, sie war Näherin in unserer Firma! Mein Mann leugnete nichts. Er erklärte, das Mädchen heiraten zu wollen. Es kam zu schrecklichen Auseinandersetzungen, zu bitteren Kämpfen. Ich war aber nicht bereit, in die Scheidung einzuwilligen, und er weigerte sich, seine Freundin aufzugeben. Robert richtete der Geliebten ein Haus in München ein, dort verbrachte er die meiste Freizeit. Ich sträubte mich dagegen. Ich lief von Rechtsanwalt zu Rechtsanwalt, aber niemand konnte mir helfen. Zu allem Unglück hatte ich zu Beginn meiner Ehe einen Vertrag unterzeichnet, der äußerst ungünstig für mich war. In diesem Vertrag hatte ich ausdrücklich auf jeden Anspruch in der Firma verzichtet; bei einer Scheidung sollte die Firma auf jeden Fall im Besitz der Gründerfamilie bleiben. Ich habe nur zwei Möglichkeiten, entweder ich dulde die Geliebte meines Mannes, oder aber die Scheidung einzureichen. Ich wäre vielleicht bereit auf meinen Mann zu verzichten, aber nicht auf die führende Rolle in der Firma. In dieser Hinsicht aber, zeigt sich mein Mann zu keinem Kompromiss bereit.

“ Winfried räusperte sich zustimmend, schenkte von neuem die Weingläser voll, und fragte, „und weiter, wie ging es weiter?“

„Sie erwartet ein Kind, und das hat bei mir den Ausschlag gegeben. Ich muss aus diesem Teufelskreis heraus, aber ich habe nicht den Mut, einfach ins Ungewisse zu springen! Wenn ich wüsste, dass jemand auf mich wartet, wenn ich eine neue Existenz aufbauen könnte, eine lohnende Aufgabe vor mir sähe!“

Sie schwieg, und auch Winfried wusste nichts mehr zu sagen. Gudrun gefiel ihm, sehr sogar, sie war ihm durch ihre Erzählungen wesentlich näher gekommen. Sie tat ihm aus tiefster Seele leid. Er konnte sich aber zu nichts entschließen, und so versuchte er das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen. 

 Noch einmal schlug er ihr vor, zum Essen zu gehen. Sie erklärte sich einverstanden, verschwand aber, während er bezahlte, in der Toilette und war, als sie herauskam, wieder die tüchtige selbstbewusste Geschäftsfrau geworden. Sie verbrachten noch einen netten Abend, stellten fest, dass sie viele Berührungspunkte besaßen. Aber beim Abschied bemühte sich William bewusst, jeder neuen Verabredung auszuweichen. Sie trennten sich freundschaftlich, ohne wenn und aber, die Zielvorstellungen von beiden waren zu unterschiedlich.

Teil 11

Die nächste Adresse, die Winfried aufsuchen wollte, war das Haus einer vorzeitig pensionierten Lehrerin, die in Duisburg wohnte. Ihr Alter gab sie mit 41 Jahren an, sie wäre schon vor fünf  Jahren geschieden worden, und sie hätte einen Sohn, der in Kalifornien studierte. Sie wäre bereit, einem gebildeten Herren eine liebe Ehefrau zu sein, wenn gewisse Voraussetzungen gegeben wären, die sie aber nicht erläutern wollte. Das Farbbild, das sie beigefügt hatte, zeigte eine jung aussehende Dame, mit einem gut gebauten Körper und endlos langen Beinen. Sie hatte große blaue Augen, volle Lippen und eine Mähne rotblonden Haares ragte über die Schultern. In modernen Jeanshosen und einem roten Rollkragenpullover sah sie sehr sportlich aus. Ohne seinen Kindern etwas zu sagen, setzte sich Winfried in den Wagen, um sich an der verabredeten Stelle zu treffen. Als er sich im Cafe Krone, in der Wallensteiner Straße, an einen leeren Ecktisch setzte, war er sich nicht ganz sicher, ob Frau Dagmar Treptow die Verabredung einhalten würde. Kurz vor seiner Abfahrt nach Duisburg, hatte sie ihn angerufen und mitgeteilt, dass er im Cafe spätestens bis 5 Uhr nachmittags warten sollte. Sie hätte noch vorher eine wichtige Verabredung, die sie nicht absagen könne. Auf jeden Fall würde sie sich bemühen rechtzeitig zu erscheinen. Am liebsten wäre Winfried nicht hingefahren, aber die einmal gegebene Zusage zu brechen, das wäre ihm doch sehr unangenehm geworden. Er brauchte nicht lange zu warten, und alsbald kam sie herein. Dagmar Treptow sah in Wirklichkeit noch besser aus, als er sie vom Foto her kannte. Nach freundlichen Begrüßungsworten bat er sie, bei ihm Platz zu nehmen, und er bestellte für sie ein Gedeck mit Kaffee und Kuchen, den sie sich ausgewählt hatte. Sie entpuppte sich als redegewandte Dame, die, wie sie erzählte, sich gern modern kleidete, sportliche Aktivitäten liebte und auch öfter in Theatervorstellungen ginge.

Dagmar konnte gut, ohne dabei aufdringlich zu werden, interessante Erlebnisse erzählen. Ihr zuzuhören war nicht langweilig. Bald nach der Begrüßung hatte Winfried mit Frau Treptow beschlossen, sich gegenseitig mit dem Vornamen anzureden. Sie holte tief Luft und begann.

 "Ach wissen Sie Herr Winfried, ich freue mich Sie kennen gelernt zu haben. Sie strahlen so viel Zuversicht und Optimismus aus, dass man Ihnen vertrauen kann. Als Lehrerin habe ich da meine Erfahrungen, und ich hoffen, mich kann keiner so schnell täuschen.“

Ihre Meinung konnte Winfried nur recht sein, er nickte zustimmend, räusperte sich hinter vorgehaltener Hand, und sie plauderte weiter.

„Ich habe im Selbststudium das Abitur geschafft, und habe mich an der  hiesigen Uni immatrikulieren lassen. Während meiner Studienzeit verliebte ich mich in einen Kollegen, und ich heiratete mit 25 Jahren. Aber die Ehe war nicht von Bestand. Nach kurzer Zeit wurde ich geschieden. Von meinen Eltern erbte ich ein schuldenfreies Haus und eine größere Summe von Aktiengeldern, wodurch ich von meinem geschiedenen Mann finanziell unabhängig war.“

Dagmar schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein, nippte daran, und seufzte verhalten.

„Was nutzte mir all das viele Geld? Ich fühlte mich nach der Scheidung zutiefst unglücklich und verunsichert. Ich war seelisch in keiner guten Verfassung, als ich beschloss in die Berge zu fahren, um mich zu erholen. Es war noch Vorsaison, und die meisten Hotels und Pensionen standen leer. Die langen, einsamen Spaziergänge verstärkten mein Gefühl der Verlorenheit. Und dann war plötzlich Albert da, stand neben mir auf der Spitze des kleinen Bergs, von dem man das ganze Tal überblicken konnte. Er war braungebrannt, ein sportlicher Typ, sein graues, gelocktes Haar glänzte in der Sonne. Fröhlich lächelte er mich aus seinen graublauen Augen an.

„Ist das nicht herrlich hier oben?“

Er atmete tief durch. Ich folgte seinem Beispiel. Den Rückweg traten wir gemeinsam an. Ich mochte ihn auf Anhieb. Er schien von einer erfrischenden Ehrlichkeit zu sein und erzählte, dass er Diplomkaufmann sei und lange in Hannover gelebt hätte. Aber nach der Wende sei er in den Osten gegangen, nach Leipzig, um sich dort seinen Traum von der Selbständigkeit zu erfüllen. Eine Generalvertretung, für einen westdeutschen Hersteller von Satellitenantennen, ein lohnendes Geschäft. Albert Exner sprach mit Begeisterung von seinen Plänen. Er habe in Leipzig bereits die entsprechenden Geschäftsräume gefunden und - welch ein Glück - sogar mit passender Wohnung im Haus. Er könne es kaum noch erwarten. Die kleine Pension, in der er momentan lebe, werde ihm allmählich zu eng.“

„Jetzt fehlt mir nur noch die Frau fürs Leben“, sagte er und lächelte auf eine Weise, die meinen Puls in die Höhe trieb. Ich habe es ihm wirklich sehr leicht gemacht. Meine Einsamkeit, die hinter mir liegende Enttäuschung, Versagensängste, verbunden mit dem Minderwertigkeitsgefühl, machten mich zu einem willigen Opfer. Alles, was Albert von sich erzählte, erschien mir logisch. Ich kam nicht auf die Idee, nachzufragen. Hauptsache, ich war nicht mehr allein. Wie ich es genoss von Albert umworben zu werden. Jedes Kompliment sog ich begierig auf.“

„Sie sind etwas Besonderes, Dagmar. Eine Frau wie sie ist mir noch nie begegnet. Sie haben noch viel zu geben. Wie konnte Ihr Mann so dumm sein und Sie verlassen?"

„Es tut weh, wenn ich mich an all seine lieben Worte erinnere. Er nahm mein Herz im Sturm. Wir kannten uns noch keine 4 Tage, da wurde ich seine Geliebte.“

Dagmar nippte wieder an der Kaffeetasse und erzählte mit wehmütiger Stimme.

„In den letzten Jahren meiner Scheidung hatte die körperliche Liebe in der Ehe kaum noch eine Rolle gespielt. Es lag an meinem Mann. Er war schon auf der Suche nach einer anderen. Jetzt, mit Albert erlebte ich Gefühle, wie ich sie schon für nicht möglich gehalten hätte. Sanft und dennoch fordernd machte er mir bewusst, wie schön die Liebe sein kann. Ein neues Glück mit über 40, war etwas Unfassbares, ich ließ mich voll darauf ein. Leider vertraute ich dem falschen Mann. Mein Traummann Albert reiste bald ab. Er müsse die Renovierung vorantreiben. Es hänge alles davon ab, auch unsere gemeinsame Zukunft, sagte er und lächelte viel versprechend. Die wenigen Tage bis zu meiner Abreise erschienen mir endlos. Kaum wieder zu Hause, erlebte ich eine Überraschung. Eine Gärtnerei brachte mir ein kunstvolles Gesteck aus Strelitzien und Anthurien, meinen Lieblingsblumen. Im beiliegenden Brief schrieb mir Albert, wie sehr er sich nach mir sehne, und dass er mich bereits am Wochenende besuchen würde. Ich konnte es kaum erwarten. Er fehlte mir. Er kam am Samstagnachmittag und hatte eine schreckliche Fahrt hinter sich. 500 Kilometer auf  der Autobahn, nur um mich zu sehen. Wenn das keine Liebe war! Wir fielen uns in die Arme. Den Nachmittag verbrachten wir im Bett. Abends gingen wir zusammen essen und bummelten anschließend durch die Altstadt. Später, als ich glücklich in seinen Armen einschlafen wollte, verriet er mir zerknirscht, dass er leider nicht bis Montag bleiben könne. Er müsse schon Sonntag wieder weg. Zärtlich küsste er mich und bat:

„Hab Geduld. Ich tue es für dich.“

In der folgenden Zeit besuchte mich mein Geliebter regelmäßig. Anders als mein Ex-Mann ließ er mich an allem teilhaben, was ihn bewegte. Er brachte sogar Fotos von der Renovierung der Geschäftsräume und der Wohnung mit. Albert selbst war es, der mich überredete, für ein Wochenende nach Leipzig zu kommen.

„Du musst endlich wissen, wo wir nach unserer Heirat leben werden.“ Er holte mich direkt vom Bahnhof ab und brachte mich in seine Pension. Sie war wirklich keine Offenbarung, ein enges stickiges Zimmer und unfreundliche Wirtsleute. Aber von Alberts Bauobjekt war ich begeistert. Es handelte sich um eine alte Villa aus der Gründerzeit. Im Inneren herrschte ein heilloses Durcheinander. Versorgungsleitungen lagen offen auf den Betonböden. Es war Samstagnachmittag und kein Arbeiter auf der Baustelle. So konnten wir uns in Ruhe umsehen. Albert zeigte mir unsere zukünftige Wohnung. Ich war damals nur das eine Mal in Leipzig und lebte danach für die Wochenenden, an denen mich mein Geliebter bei mir zu Hause besuchte. Wir kannten uns 3 Monate, als er eines Tages niedergeschlagen bei mir auftauchte. Er wollte nicht gleich mit der Sprache heraus. Aber ich ließ nicht locker. Schließlich gestand er mir, dass die Renovierung sehr viel mehr kosten werde als geplant. Eine Finanzierungslücke sei zu überbrücken. Seine Bank sei nicht bereit, mit einem weiteren Kredit einzuspringen.

„Wenn nicht ein Wunder geschieht, bin ich am Ende“, bekannte er. Seine gesamten Ersparnisse habe er in den Bau gesteckt. Und jetzt fehlten ihm genau 200.000 Mark. Ich war erleichtert, als er die Summe nannte. Das Geld konnte ich aufbringen. Albert wollte es nicht nehmen, jedenfalls tat er so. Ich habe es ihm förmlich aufgedrängt. Ich vertraute ihm. Meine Liebe hatte mich blind gemacht. Ich wollte seinen Lebenstraum retten, ihn glücklich sehen nichts zählte mehr für mich. Bevor er mich am Montagmorgen verließ, schrieb ich einen Scheck aus und rief sogar bei meiner Bank an, damit er bei der Auszahlung keine Schwierigkeiten bekam. Zum Abschied küsste er mich zärtlich und sagte, das würde er mir nie vergessen. Nach diesem Morgen habe ich ihn nie wieder gesehen. Als ich mir endlich eingestand, auf einen Heiratsschwindler hereingefallen zu sein, war er längst über alle Berge.“

Winfried hörte mit steigendem Interesse die fast unglaubliche Geschichte von Dagmar Treptow, vermied es aber sie zu kränken, um ihr Naivität oder Leichtgläubigkeit vorzuwerfen.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, dass er in naher Zukunft dran war „ausgenommen“ zu werden, von einer Frau, die es nur auf  sein Geld abgesehen hatte und ihm „Liebe“ vorheuchelte.

Dagmar legte eine Atempause ein. Kopfschüttelnd fragte Winfried:

„Sind Sie denn nicht zur Polizei gegangen? Haben die Ihnen nicht helfen können?“ „Doch, doch, aber allen Spuren, denen die Ermittler nachgingen, verliefen im Sande. Die Befragung der Wirtsleute in Leipzig blieb ergebnislos. Die Schlüssel für die alte Villa hatte er von einem Makler, der in ihm einen finanzkräftigen Kunden vermutete.“ Dagmar legte wieder eine kleine Pause ein, und zu Winfried gewandt, sprach sie wehmütig:

„Ich habe unter dieser größten Enttäuschung meines Lebens lange gelitten. Heute bin ich vorsichtiger geworden. Wenn ich Männerbekanntschaften mache, erkundige ich mich vorher, ob auch die angegebene Adresse stimmt, ob es sich um einen Menschen handelt, dem man vertrauen kann.“

Winfried fragte neugierig: „Haben Sie das bei mir auch gemacht?“

„Ja, ich bitte Sie, mich richtig zu verstehen, ich habe, ehe ich zu Ihnen ins Cafe kam, bei Ihnen in Düsseldorf angerufen, um zu erfahren, ob die Telefonnummer stimmt.“ - „Und was haben Sie herausbekommen?“ fragte Winfried leicht irritiert.

„Ihre Tochter, Fräulein Agathe war am Apparat und sagte mir, dass der Papa nicht zu Hause sei, sie wüsste nicht, wohin er gefahren sei und fragte mich, ob sie ihm etwas ausrichten solle.“

Winfried fragte mit skeptischem Unterton:

„Und nach dieser großen Enttäuschung wollen Sie trotzdem sich noch einmal heiraten?"

 "Warum nicht ? Es müssen doch nicht alle Männer Betrüger sein. Und außerdem bilde ich mir ein, aus Fehlern gelernt zu haben. Eine zweite Ehe würde ich ganz anders führen, viel toleranter, nicht blind vertrauend auf das Wohlverhalten des Partners, sondern immer mit einer gewissen Vorsicht in all meinen Entscheidungen. Außerdem finde ich, dass man mit dem zunehmenden Alter noch mehr einen aufrichtigen Menschen braucht als in der Jugendzeit. Ich bin nicht gerne allein. Ich brauche das Gespräch mit einem Menschen, dem ich vertrauen kann. Ich hoffe doch, dass ich mich bei Ihnen nicht getäuscht habe.“

„Gnädige Frau“, sprach Winfried ernsthaft zu ihr.

„Sie machen einen Fehler, wenn Sie meinen, weil sie von einem Heiratsschwindler hereingelegt worden sind, können Sie alle anderen Männern mit Misstrauen begegnen. Es gibt natürlich Betrüger vor denen sollte man sich hüten, aber ich habe den Eindruck, Sie gehen mir etwas zu weit. Mir gefällt es nicht, wenn jemand bei mir zu Hause anruft, und die Kinder fragt, wo ich mich befinde. Es wäre doch für Sie einfacher gewesen, in ein Telefonbuch hineinzuschauen, dort bin ich doch mit voller Adresse eingetragen, das sollte genügen, um den Wohnort von jemandem festzustellen."

„Oh, entschuldigen Sie, wenn ich mich unkorrekt verhalten habe, ich wollte Ihnen keine schlechten Absichten unterstellen. Aber Sie kennen bestimmt das Sprichwort: gebranntes Kind scheut das Feuer. Und da ich nun einmal sehr enttäuscht worden bin, reagierte ich so und nicht anders.“

„Es ist schon gut, wir wollen uns nicht den schönen Abend verderben, sprechen wir lieber von etwas anderem.“ Dagmar sagte mit wehmütiger Stimme:

„Ach, Herr Winfried, Sie sind so ein netter Mensch, Sie strahlen so viel Vertrauen aus, warum haben wir uns nicht schon eher getroffen. Mir wäre viel Leid und manche Enttäuschungen erspart geblieben.“

„Nehmen Sie es nicht so tragisch Frau Treptow, vielleicht treffen Sie einen noch besseren Mann als ich es bin.“

Winfried war die Lust vergangen mit Dagmar noch lange über ihre Vorstellungen vom zukünftigen Leben zu diskutieren. Er spürte, dass sie nicht seinen Erwartungen an eine Ehefrau entsprach. Aus reiner Höflichkeit, wartete er noch bis sie die Kuchenreste gegessen hatte. Sie lehnte sich zurück und verstummte nachdenklich. Winfried bedankte sich für die interessante Unterhaltung, vermied es aber von einer erneuten Zusammenkunft zu sprechen. Er bezahlte großzügig das bestellte Kuchengedeck, und beide gingen zusammen auf die Straße. Als ein Taxi vorbeigefahren kam, half Winfried ihr beim Einsteigen. Für die Zukunft wünschte er ihr alles Gute und in wenigen Sekunden war der Mietwagen mit Frau Treptow in der Ferne aus dem Blickfeld verschwunden.

Teil12 

Winfried kam langsam der Verdacht auf, dass alle Frauen, die er bisher „getestet“ hatte, in den Zuschriften auf sein Inserat, bewusst oder unbewusst nicht immer die Wahrheit geschrieben hatten. Denn wie war es möglich, dass die Damen oft leidvolle Lebensbeichten ablegten, von denen ihre nächsten Angehörigen keine Ahnung hatten. Alles, was er bei seinen Zusammenkünften bisher mit den heiratswilligen Damen erfahren konnte, war wenig ermutigend. Er zweifelte, ob es je eine ihm zusagende Partnerin geben würde.

Dieses Mal traf er sich mit großer Skepsis mit Frau Isolde Jungnickel, einer jungen Dame von 38 Jahren, die ihn in einer Konditorei an der Königsallee treffen wollte. Als Winfried sie erblickte, wurde ihm bald klar, dass sie eine Frau war, die gern Süßigkeiten naschte. Sie bestellte ein Stück Schwarzwäldertorte und ein Stück Schokoladentorte, dazu eine Portion Schlagsahne und ein Kännchen Kaffee. Winfried störte das nicht, auch nicht die Tatsache, dass sie für 38 Jahre ein wenig zu gut gepolstert war. Sie war eine appetitliche, rundliche, gepflegte Frau, und ihre blauen Augen strahlten Gutmütigkeit und Wärme aus. Das schwarze Kostüm, das sie trug, war offensichtlich darauf zugeschnitten, sie schlanker erscheinen zu lassen. Der kleine blaue Hut betonte ihr hübsches Profil. Nachdem Winfried sich mit ihr bekannt gemacht hatte, redeten beide hastig drauf los. Aber dann, plötzlich entstand eine peinliche Stille. Winfried hatte sich Brandy bestellt und nippte verlegen daran. Sie aß mit sichtbarem Appetit und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Zu dumm“, begann Winfried nach einer Schweigeminute, „ich hatte mir so viel zurecht gelegt, was ich Ihnen sagen wollte, und nun ist es einfach weg.“

„Macht nichts“, erwiderte sie etwas phlegmatisch, „es wird  schon wieder kommen.“ Sie wandte sich ihrem halbleeren Teller zu und begann das zweite Stück Torte zu verspeisen. Nach einem weiteren Glas Brandy fing Winfried an einige Erlebnisse aus seinem Leben zu erzählen. Sie hörte ihm aufmerksam zu, wischte sich mit der Serviette ein Krümelchen aus dem Mundwinkel, und sagte: „Jetzt bin ich doch sehr froh, dass ich gekommen bin.“

„Wollten Sie eigentlich nicht?"

„Es ist so schwer eine Entscheidung zu treffen, wenn man niemanden hat, mit dem man sich beraten kann. Mein Sohn ist noch zu jung, und für meine Kolleginnen - Sie wissen ja, ich bin Oberbuchhalterin gewesen, wäre es ein gefundenes Fressen gewesen, meine Absicht zu verraten, auf Heiratsanzeigen zu schreiben. Ihnen gegenüber tue ich so, als wenn ich gar nicht daran dächte, mich wieder zu verheiraten. Im Betrieb sage ich immer, ich fühle mich wohl in meiner Haut.“

„Aber sind Sie es denn nicht? Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt danach frage.“ „Bis vor kurzem war ich noch ganz zufrieden. Sehen Sie, ich habe  eine schöne Eigentumswohnung, ich verdiene ganz gut, ich kann mir hin und wieder ein Stück Kuchen leisten oder einen Theaterbesuch. Alles ist ganz schön und gut. Aber allmählich, bekomme ich das merkwürdige Gefühl, als wenn ich ausgeschlossen wäre vom wirklichen Leben. Ich kann mich nicht so gut ausdrücken, aber Sie wissen schon, was ich meine.“

„Doch, doch, das verstehe ich sehr gut. Sie haben sich so weit durchgerungen einen neuen Anfang zu suchen.“

„Ja „, sagte sie, „ja, so ähnlich.“ Sie nahm die letzten Tortenkrümel mit ihren Fingerspitzen vom Teller.

„Und dann natürlich mein Sohn Peter!"

„Was ist mit Ihrem Sohn Peter, ist etwas nicht in Ordnung?“ unterbrach Winfried ungeduldig ihren Redeschwall.

„Nein, nein, es ist schon soweit alles in Ordnung, aber ich meinte zuerst, ich könnte ihn ganz alleine erziehen. Nun aber meine ich, dass Peter doch einen Vater braucht.“ - „Wie kommen Sie darauf, macht ihnen der Sohn Probleme?“

Sie stockte. „Ach, das ist eine lange Geschichte!"

„Erzählen Sie mir etwas mehr von Ihnen“, ermunterte Winfried sie mit freundlichem Lächeln, „wir sind doch hier beisammen, um etwas voneinander zu erfahren.“

Erst stockend, dann immer sicherer begann Frau Jungnickel die Geschichte ihrer kurzen Ehe zu erzählen.

„Richard, mein heiß geliebter Mann, in meinen Träumen und Gedanken lebt er weiter, mit ihm hatte ich die große Freude 14 Monate voller Glück und Zärtlichkeit zu verbringen, davon zehre ich noch heute. All die schönen Erinnerungen. Wir hatten uns sehr geliebt. Es war mein Fehler, als ich damals schwanger wurde. Eine vergessene Pille. Ich wollte es ihm schonend beibringen, rechnete sogar mit Vorwürfen. Er aber geriet völlig außer sich vor Freude und rief begeistert:

„Isolde, das ist der absolute Wahnsinn. Oh, du kannst einen Mann unbeschreiblich glücklich machen. Es wird ein Junge. Ich bin ganz sicher. Ein kleines Peterchen“, prophezeite er mir und begleitete mich zur nächsten Vorsorgeuntersuchung, um sich selbst davon zu überzeugen, dass mit Mutter und Kind wirklich alles zum besten war. Von den vielen Plänen die Richard hatte, konnte er nur noch einen verwirklichen: den Kauf einer Wohnung in guter Lage.“

„Der Junge braucht ein gesundes Umfeld, es soll ihm an nichts fehlen.“ Frau Isolde wischte sich versteckt eine Träne aus ihren Augen und fuhr fort.

„Ich war schon im vierten Monat schwanger, als das Grauenvolle, Unfassbare geschah, an dem ich bis heute darunter leiden muss. Auf dem Heimweg, nach einer dreitägigen Geschäftsreise, kurz vor seinem Ziel, verunglückte Richard mit seinem Wagen auf der Autobahn. Ich kam noch rechtzeitig ins Krankenhaus. Er starb in meinen Armen.“

Isoldes Stimme bebte, sie sprach leise weiter.

„In der ersten Zeit war ich wie versteinert, empfand weder Schmerz noch Trauer. Ich saß da, und wiederholte nur die gleichen Worte:

„Es ist nicht wahr, es kann einfach nicht wahr sein.“

Eine gute Freundin zog zu mir und versuchte, mir zu helfen. Du bist erst 38. Dein ganzes Leben liegt noch vor dir. Denk an dein Kind.“

„Da begriff ich endlich, und das war der schlimmste Augenblick, mein Kind wird keinen Vater haben. Es wird ihn niemals kennen lernen.“

Vorsichtig wies meine Freundin auf die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs hin."

„Du bist ja erst im vierten Monat. Und unter dem seelischen Druck würdest du sofort einen Arzt finden. Sie meinte es gut mit mir, aber in der Nacht nach diesem Gespräch hatte ich einen entsetzlichen Alptraum. Ich stand allein auf einem Bahnsteig. Es war schon dämmrig. Von weitem hörte ich die herankommende S-Bahn. Langsam ging ich vorwärts, immer näher an die Kante heran. Das Kind in mir bewegte sich. Ich beugte mich vornüber, wollte springen und schrie gellend auf. Schweißgebadet und zitternd vor Entsetzen erwachte ich von meinem eigenen Schrei. Vorsichtig legte ich beide Hände auf meinen Bauch und flüsterte:

„Peterchen, wir beide werden leben. Ich freue mich schon auf dich. Mein Kind wurde geboren und es war wirklich ein kleiner Junge wie mein verstorbener Mann vorausgesehen hatte. An Peters Geburtstag vergaß ich Trauer und Schmerz. Ich hielt ein süßes Kind im Arm. Mit Staunen sah ich seine kleinen rosigen Händchen, sein dunkles Haar, seine winzige Stupsnase. Meine Schwiegermutter kam ans Krankenbett geeilt und sagte:

„Das ist Richards Ebenbild. Erfüllt von einer tiefen Zärtlichkeit für meinen Jungen, lag ich da, liebkoste Peterchen und erzählte ihm Geschichten von seinem wunderbaren Papa. Es sollte ihm an nichts fehlen. Ich würde ihm alles geben, ihm Mutter und Vater zugleich sein, nahm ich mir vor. Es klappte nicht so, wie ich es mir gedacht hatte. Mein Mann war zu früh gestorben. Ich bekam zwar eine Lebensversicherung ausbezahlt, mit ihr löschte ich die auf der Eigentumswohnung lastenden Schulden, so dass ich wenigstens mietfrei wohnen konnte. Aber das Leben ist auch dann teuer genug, denn ich bekam nur eine kleine Unfallrente. Ich war gezwungen, hinzuzuverdienen und suchte eine Stelle in meinem Beruf als Buchhalterin.“

Isolde legte eine kleine Pause ein und nahm  wieder einen tiefen Schluck Kaffee zu sich. Dann fuhr sie mit der Erzählung fort.

„Der Zufall brachte mich mit dem Chef eines Handwerkbetriebs zusammen, der eine Buchhalterin wie mich brauchte. Dieser Mann war bereit, mich als freiberufliche Kraft daheim zu beschäftigen. Trotz meiner Berufstätigkeit war ich immer für meinen kleinen Sohn da. Sobald er nach mir rief, war ich zur Stelle. Ich erlebte mit, als er seine ersten Schritte wagte. Als er in den Kindergarten kam, und morgens nicht mehr im Hause war, fehlte er mir schrecklich. Bei seiner Einschulung wischte ich mir versteckt Tränen aus den Augen. Kinder wachsen viel zu schnell heran. In all den Jahren fürchtete ich um seine Gesundheit. Die Furcht saß mir stets im Nacken, es könnte ihm etwas zustoßen. Sie ließ mich oftmals falsch reagieren. Meine Furcht übertrug sich auf das Kind. Damit muss jetzt Schluss sein, ich darf den Jungen nicht zu sehr an mich binden. Peter ist kein Ersatz für seinen toten Vater. Er soll sein eigenes Leben führen, frei fröhlich und unbeschwert heranwachsen.“

Frau Jungnickel machte wieder eine Pause, lehnte sich zurück und schaute Winfried aus flehenden Augen an.

„Was würden Sie an meiner Stelle tun? Ich will doch nur das Beste für meinen Jungen! Ein Kind braucht doch einen Vater?“

Winfried war mit einem Male nicht wohl zu Mute.

„Und ich soll diesen Vater jetzt ersetzen?“

„Ja, das hatte ich gehofft“, sagte sie ehrlich.

„Sie sind selber Vater. Sie verstehen es doch bestimmt mit Kindern umzugehen. Mein Peter ist ein liebes Kind, ganz und gar nicht schwierig.“

Winfried hüllte sich in Schweigen, denn damit musste er erst fertig werden.

„Es ist nicht nur des Jungen wegen“, sagte Isolde leise und legte schüchtern ihre Hand auf Winfrieds Arm, „ich bin sehr lange allein gewesen, und ich habe, solches Vertrauen zu Ihnen!“

Frau Isolde und Winfried verabredeten, dass er sie am Donnerstagnachmittag besuchen sollte, um ihren siebenjährigen Sohn Peter kennen zu lernen. Sie wohnte in der Nähe des Hofgartens, in einem breit gestreckten Hochhaus. Als Winfried zur vereinbarten Zeit erschien, musste er eine Weile warten, bevor der Haustürdrücker zu summen begann. Offensichtlich wurden drinnen noch die letzten Vorbereitungen getroffen. Endlich öffnete sich die Tür, und Winfried fuhr mit dem Aufzug bis zur fünften Etage, wo Frau Isolde mit erhitztem Gesicht auf  ihn wartete.

„Oh, entschuldigen Sie, bitte“, sagte sie nervös, „ich wollte noch ….“

„Macht nichts“, beruhigte er sie und überreichte ihr Blumen, einen Strauß roter, eben erblühter Rosen. Sie zeigte sich über diese Aufmerksamkeit sehr erfreut, steckte sie in eine Vase, und rief nach ihrem Sohn. Aber Peter erschien nicht. Sie zögerte einen Augenblick, bat aber dann den Besuch den Sommermantel abzulegen. Sie führte Winfried in ein Zimmer, das modern eingerichtet war. Er sah sich versteckt um. Das Zimmer wirkte blitzsauber und aufgeräumt, aber er hütete sich davor, daraus allgemeine Schlüsse auf die Ordnungsliebe der Hausfrau zu schließen. Sie hatte vom Besuch gewusst und sicher die Gelegenheit genutzt, die ganze Wohnung auf Hochglanz zu polieren. Übrigens hatte sie das auch mit sich selber getan. Ihr Haar war sorgsam in kleine Locken gelegt, die dunkelbraun glänzten. Selbst ihr freundliches, Gesicht strahlte wie geschrubbt, rosig und glatt. Der Wohnzimmertisch war für den Nachmittagskaffee gedeckt, in der Mitte prangte eine prächtige Apfeltorte.

„Selbstgebacken!“ erklärte Frau Isolde. Daneben stand eine Flasche Brandy.

„Weil sie den doch so gerne trinken!“ Winfried machte Frau Isolde ein Kompliment. Es war wirklich seine Lieblingsmarke. Sie verschwand in der Küche, um den Kaffee zu holen.

„Wo bleibt nur der Junge?“ fragte sie unruhig, als sie wieder hereinkam „er weiß doch genau, dass Sie hier sind. Ich glaube, ich werde doch mal nachsehen müssen. Sie stellte die Kaffeekanne aus der Hand und wollte schon wieder aus dem Zimmer. „Nein, bleiben Sie hier“, sagte Winfried beschwichtigend.

„Der Kleine weiß, dass wir auf ihn warten, also wird er früher oder später schon ganz von selber aufkreuzen.“

„Glauben Sie?“ fragte sie unsicher.

„Aber ganz bestimmt“, behauptete Winfried, „wenn der Besuch ihn vielleicht nicht so interessiert, dann aber sicher der Apfelkuchen. Außerdem haben Sie ihm gesagt, wer ich bin und warum ich komme?“

„Nnnein“, stotterte sie zögernd. „Vielleicht wäre es besser gewesen.“ Sie stellte die Kanne, aus der sie eingegossen hatte, wieder auf den Untersetzer zurück.

„Ich habe lange darüber nachgedacht“, sagte sie, „aber ich konnte mich dazu nicht entschließen.“

Als sie Winfrieds Lächeln sah, fügte sie schnell hinzu. „Nicht dass ich feige wäre! Ich fürchte mich nicht vor meinem Jungen. Aber ich finde doch, man sollte ihn schonend vorbereiten. Schließlich würde doch das alles eine große Umstellung für ihn bedeuten.“

Als sie merkte, dass sie ihn mit dieser Erklärung nicht beeindruckte, ging sie entschlossen zum Gegenangriff über.

„Oder haben Sie ihren Kindern gesagt, dass Sie eine Frau suchen?“

„Doch, das habe ich getan, meine Kinder wissen Bescheid.“

Sie sah ihn skeptisch an, rieb sich die Hände an der blütenweißen Schürze und erwiderte: „Nun ja, ich kenne Ihre Kinder nicht, aber was meinen Peter anbetrifft, er ist sehr feinfühlig, er ist zu gut für diese Welt.“

Sie legte William ein großes Stück Apfeltorte auf den Teller, und ehe er abwehren konnte, einen gewaltigen Klecks Sahne darauf.

„Eigentlich“, sagte sie, während sie sich selber eine mächtige Portion spendierte, „dürfte ich das ja nicht, wegen der Figur, Sie wissen schon! Aber immer kann man nicht fasten, und heute ist doch ein besonderer Tag.“

Sie sah ihn aus ihren kleinen blauen Augen um Verständnis bittend an.

„Aber sicher“, bestätigte Winfried, „heute dürfen wir beide ruhig mal sündigen. Es schmeckt ja auch ausgezeichnet.“

„Und stört Sie das nicht“, sagte sie, dass ich ... nun, nicht eben schlank bin? Ich habe alles versucht, wirklich alles, Gymnastik, Diät, Kuren aber bei mir hilft einfach nichts. Es muss eine Veranlagung sein.“

„Eine reizende Veranlagung“, erwiderte er lachend. „Mollige Frauen strahlen eine gewisse Behaglichkeit aus."

„Oh, das freut mich aber, dass Sie das so sehen. Ich hatte schon gedacht, Sie mögen keine molligen Frauen. Bei der heutigen Mode ist es auch gar nicht verwunderlich, denn alles wird getan um Schlanksein zu loben.“

So ging die Unterhaltung weiter, und hätte sich vielleicht noch lange hingezogen, wenn er nicht so unruhig zur Tür geschaut hätte. Sie bemerkte es, und sich entschuldigend sagte sie:

„Ich glaube, jetzt werde ich doch einmal nach meinen Peter suchen.“

Sie erhob sich halb, ließ sich  aber wieder sinken.

„Ah, da bist du ja, na endlich!“ rief sie erfreut.

„Wir haben eben über dich gesprochen.“

„Peter, lass dich mal anschauen!“, sagte Winfried und drehte sich um.

Jetzt erblickte er zum ersten Mal den viel gepriesenen Sohn. Er war ein mittelgroßer Junge, mit kindlichem schmalem Gesicht, in ausgefransten Jeanshosen und Micky-Maus Pullover. Ohne ihn anzuschauen ging er zur Mutter, setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand.

„Hast du mich gerufen, Mutti?"

„Ja, mein Junge, aber begrüße zuerst einmal unseren Gast.“

Peter drehte sich um, streckte zaghaft seine schmale Hand aus. „Guten Tag!“ brachte er schüchtern heraus. Er wandte sich aber sofort wieder seiner Mutter zu und lehnte sich bei ihr Hilfe suchend an die Schulter.

„Wo warst du denn gewesen, als ich dich gerufen habe, hast du nichts gehört?“ - „Doch, im Fernsehen zeigten sie gerade Bonanza, das wollte ich zu Ende. sehen. Und jetzt kommt aber bald der Alf den möchte ich mir auch anschauen.“

„Darf Ihr Sohn alle Sendungen sehen, die im Fernsehen gezeigt werden?“ erkundigte sich Winfried neugierig.

„Nein, nein, das nicht, aber er hat im Kinderzimmer einen Apparat, da kann er immer die Jugendsendungen sehen.“

Peter schaute ihn mit funkelnden Augen an. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er fluchtartig das Zimmer. Er ließ den vorbereiteten Teller mit dem Kuchen stehen und war verschwunden.

„Jetzt haben Sie ihn verärgert, meinen armen Peter, er hat doch sonst nichts.“

Frau Isolde nahm den Kuchenteller und eilte ihm nach. Durch die geöffnete Tür hörte Winfried wie sie ihn tröstete.

„Warum bist du so schnell weggelaufen? Hast du keinen Hunger? Hat dich der Herr geärgert?"

„Ja, das hat er, was will er hier?"

„Das erzähle ich dir später. Komm und iss etwas vom Kuchen!“

Das weitere Gespräch konnte Winfried nicht verstehen. Bald erschien Frau Isolde im Türrahmen und hatte wieder ihr strahlendes Gesicht.

„Lassen Sie sich nicht stören, essen Sie ruhig weiter, ich bin gleich wieder da.“ Ihm aber war der Appetit vergangen, er zündete sich eine Zigarette an und wartete auf Isolde. Ein paar Minuten blieb er allein an der mit einem Schlag ungemütlich gewordenen Kaffeetafel zurück. Eigentlich hätte er schon jetzt gehen können. Aber aus purer Höflichkeit wartete er noch eine Zigarettenlänge. Dann stand er auf, ging in die Diele, zog sich seinen Mantel an. Winfried hatte den Griff von der Wohnungstür bereits in der Hand, als Isolde wieder auftauchte.

„Sie wollen schon gehen?“ fragte sie erstaunt, fügte aber im gleichen Atemzug hinzu :"Sie haben recht, es ist besser so. Peter ist heute ganz durcheinander, ich habe ihn ins Bett gesteckt, damit er sich beruhigt.“

„So lange werde ich nicht warten können."

„Nicht?"

„Nein. Denn bis Peter einen zweiten Mann oder auch nur einen Freund von ihnen akzeptiert, wird es noch Jahre dauern. Er ist eifersüchtig. Peter will Sie ganz allein für sich haben."

„Aber, meinen Sie wirklich? Das wäre ja schrecklich. Was soll ich denn tun?“ Isolde tat ihm wirklich leid. Er aber hielt es für das beste, ihr die Wahrheit zu sagen, so wie er sie sah.

„Sie haben zwei Möglichkeiten“, erklärte er ihr.

„Entweder geben Sie Peter in ein Internat, wo er unter gleichaltrigen Jungen sein wird, oder sie warten ab, bis Peter erwachsen ist und selbst mal heiratet. Aber denken Sie mal nach, wie alt Sie dann selber sind!"

„Nein, das kann ich nicht! Das wäre zu grausam!" 

„Ja, liebe Frau Isolde“, versuchte Winfried sie zu trösten,

„Sie müssen sich schon entscheiden. Sie haben einen großen Fehler gemacht, den Jungen zu sehr an sich zu ketten. Sie haben es versäumt Peter unter gleichaltrigen Jungen und Mädchen aufwachsen zu lassen. „Aber Sie wissen doch, wie die Kinder heutzutage sind, schauen Sie sich doch nur einmal auf einem Spielplatz um. Was man da zu sehen und zu hören bekommt, das alles wollte ich von meinem Peter fernhalten.“

„Aber das gehört nun mal zur Entwicklung einer Kinderseele, ein Kind muss auch beizeiten die raue Wirklichkeit kennen lernen. Es muss unterscheiden lernen, zwischen Gutem und Bösem. Dabei sollten sie ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen. Dieses haben Sie leider versäumt. Ich würde Ihnen gerne bei dieser Aufgabe helfen, aber leider verfüge ich nicht die nötige Zeit, und bringe auch nicht mehr die nötige Geduld dafür auf.“

Nach diesen Worten verabschiedete sich Winfried recht herzlich und wünschte ihr für die Zukunft alles Gute. Winfried war froh, als er nach dem Besuch bei Frau Isolde Jungnickel, wieder zu Hause war. Wenn er seine Kinder mit ihrem Sohn Peter verglich, dann konnte er Gott danken, dass sie niemals so unselbständig waren wie er.

Teil 13

Von nun an nahm er sich vor, wenn es möglich war, eine Dame ohne Kinder zu finden, die bereit wäre einen neuen Anfang mit ihm zu wagen. Für einen Augenblick dachte er an den missglückten Theaterbesuch mit Claudia und meinte, sie könnte vielleicht die geeignete Frau für ihn sei. Aber es sollten noch viele Tage dauern, ehe er die Eltern von Claudia wieder aufsuchen sollte.

Am folgenden Sonntag traf sich Winfried mit einer Dame, die in Leverkusen wohnte, und die ihm einen Brief geschrieben hatte, der sich durch seinen außergewöhnlichen Inhalt von den anderen Antwortschreiben abhob.

Lieber Kontaktsuchender! ... schrieb sie, ich habe Ihr Inserat gelesen und schreibe Ihnen mit aller Gewissheit, dass wir ein gutes Paar sein werden. Wenn Sie wollen, dann besuchen Sie mich bitte, am Sonntag, den 26. September um 15 Uhr in meiner Wohnung am Worringer Platz Nr. 56 in Leverkusen.

Mein Name lautet: Maria Cofalla. Daneben war eine Telefonnummer angegeben. Diesen Brief mit dem ungewöhnlichen Text hätte er am liebsten sogleich vernichtet, doch das beigefügte Foto interessierte ihn. Auf dem Bild war eine nette, junge, adrett gekleidete Frau zu sehen, die mit ihrem rotblondem Haar, das ihr bis in den Nacken reichte, freundlich auf einen Herrn schaute, der anscheinend ihr Ehemann war oder ihr Bruder. Die fehlende Erklärung zum Doppelbild, hätte ihn nicht so gestört, wie die Vermutung, dass dieser recht vornehm ausschauende Mann ein ehemaliger Schulkollege gewesen sein könnte. Der Name Cofalla war ihm unbekannt, doch das ovale Gesicht, die markanten Gesichtszüge, die etwas nach vorn gebeugte Haltung, bestärkten ihn in der Annahme, einen Kollegen zu erkennen, nach dem er schon seit Jahren Ausschau hielt. Dieser Klassenkamerad war bald nach dem Krieg in die neue Welt ausgewandert, und wie er von anderen Kollegen gehört hatte, sollte er dort reich geworden sein. An dieses Gerücht musste er denken, als er etwas länger die Fotoaufnahme betrachtete, dann kurz entschlossen den Telefonhörer ergriff und die Nummer in Leverkusen wählte.

„Cofalla“, vernahm er eine ruhige Frauenstimme.

„Hier Winfried Mehring aus Düsseldorf, darf ich Sie Sonntagnachmittag besuchen kommen, Sie haben doch auf meine Zeitungsanzeige geschrieben.

„Oh, wie nett, natürlich, kommen Sie nur vorbei, ich freue mich darauf, Sie kennen zu lernen.

Als Winfried mit einem Blumenstrauß an ihrer Tür klingelte, bekam er doch Zweifel, eine Frau zu besuchen, die ihn auf die Spur eines Klassenkameraden bringen sollte. Die Begrüßung war ziemlich kühl, aber nicht unfreundlich. Beim obligatorischen Nachmittagskaffee, sprach Winfried von seiner Vermutung einen Freund zu erkennen, mit dem er ins Gymnasium gegangen wäre, und von dem er gern wüsste, was aus ihm geworden sei.

„Oh, ich muss Sie enttäuschen, mein Mann ist seit einem halben Jahre tot, und auf dem Bild, da stehen wir beide an Rhein, und hätten nie gedacht, dass der Tod uns so schnell trennen würde.

Frau Cofalla lehnte sich auf einem Ledersessel zurück, zündete sich eine Zigarette an und begann ihr Schicksal zu erzählen.

„Ich war schon 26 Jahre alt und arbeitete als Sekretärin im hiesigen Bayerwerk. Zu meinen Aufgaben, gehörten auch Übersetzungstätigkeiten aus der englischen Sprache ins Deutsche und umgekehrt.

„Was die Frau anfasst, das gelingt ihr“, sagte man mir nach, und ich war stolz auf meinen beruflichen Erfolg. Ich unternahm in meiner Freizeit viel allein, weil mein Mann an einer Partnerschaft nicht interessiert war, in der man alles teilt. Mit 30 Jahren bekam ich ein Baby und um so viel Zeit wie möglich für meine Tochter zu haben, kündigte ich den Fulljob bei Bayer und suchte mir eine Halbtagsbeschäftigung.

Als Violetta älter war, eröffnete ich einen Textilladen. Diese Arbeit machte mir sehr viel Spaß. Ich hätte wirklich glücklich sein können, doch leider lief es in unserer Ehe immer schlechter. Mein Mann wurde mir gegenüber gleichgültiger und machte mir Szenen, weil er behauptete, ich würde ihn betrügen.

Als Walter, so hieß mein Mann, eine seltene Immunkrankheit bekam, gab ich meinen geliebten Laden auf und nahm stattdessen eine Stellung in einer Sparkasse an. Ich tat alles um meinen Mann das Leben zu erleichtern.“

Frau Cofalla seufzte auf und blickte nachdenklich in die Ferne.

„Und wie ging es weiter?“ fragte Winfried etwas ungeduldig.

„Es war eine schwere Zeit für mich: die Sorgen um meinen Mann, Beruf und Kind mussten unter einen Hut gebracht werden. Ich bekam Depressionen und fehlte öfters in der Arbeit. Nach einiger Zeit äußerten meine Vorgesetzten Zweifel daran, dass ich wirklich krank war. Die Ärzte fanden keinen Grund für meine Beschwerden, und ich befürchtete an Krebs erkrankt zu sein. Die Probleme in der Arbeit und meine Ängste wurden immer größer. Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch und wollte meinem Leben ein Ende setzen. Drei Monate lang wurde ich mit starken Medikamenten ruhig gestellt, und als mich ich auf dem Weg zur Besserung befand, da starb ganz plötzlich mein Mann. Die Zeit danach habe ich nicht so schmerzhaft empfunden, wie es vielleicht anderen Frauen ergeht. Mein Töchterchen ist heute 5 Jahre alt, sie fragt mich öfters, wann sie wieder einen Papa haben könnte, und das hat mich letztendlich bewogen, auf Ihr Zeitungsinserat zu antworten.

Winfried hatte die Lebensgeschichte von Frau Cofalla nicht so stark beeindruckt, dass er nicht schlafen gekonnt hätte. Ein trauriges Schicksal von vielen anderen Frauen, die den Verlust des Partners schlecht wegtun können. Sie meinen, durch die Bindung mit einem verständnisvollen Menschen, ihre Probleme besser in den Griff zu bekommen. Nach etwa zwei Stunden verabschiedete sich Winfried von Frau Cofalla, bedankte sich für Kaffee und Kuchen und wünschte ihr noch viel Glück bei der Suche eines neuen Partners, der bereit und fähig wäre, mit ihr einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Er wäre dazu nicht fähig, was sie auch nach einigen Erklärungen auch akzeptierte.

Teil 14

Die nächste Dame die Winfried besuchen wollte, war eine Modedesignerin, die in einem vornehmen Villenviertel Ratingens wohnte. Ihre Adresse stand in seinem Terminkalender: Gisela Franzke, Ratingen, Düsseldorferstr 74. Sie hatte auch auf sein Heiratsinserat geschrieben, und sie war nach ihren Angaben 33 Jahre jung. Sie machte auf dem beigefügten Bild, einen ausgesprochen netten Eindruck. Das Foto zeigte ein junges, attraktives Mädchen mit schmalem Kopf auf schlankem Hals, mit schwarz glänzendem Haar und dunklen, großen Augen. Ihr Körper, rassig geformt, mit schönen schlanken Beinen, wirkte verführerisch. Ihre Zuschrift auf das Heiratsinserat war handgeschrieben, mit geraden halbgedruckten Buchstaben. Schon vor über einer Woche hatte er ihr geschrieben und sie um ein Kennen lernen gebeten. Die Zusage kam verspätet an, und zwar aus Aachen. Sie schrieb auf Papier des Domhotels, und teilte ihm höflich mit, dass sie dort für ein paar Tage Urlaub machen würde. Gleichzeitig bat sie ihn, wenn es ihm nichts ausmachen würde, sie dort am nächsten Wochenende zu besuchen. Diese Antwort hatte er offen gestanden nicht erwartet. Sie klang nach Abenteuer, nach Versteckspielen und das störte ihn. Die Art wie sie geschrieben hatte, das Bild aber wirkte so verlockend, dass Winfried dennoch beschloss die Einladung anzunehmen. Kurz entschlossen rief er das Dom-Hotel an und bat Frau Franzke zu sprechen. Eine angenehme Stimme meldete sich und klang erfreut, als er seinen Namen nannte. Das Telefongespräch war so offen und ehrlich, dass er keine Bedenken hatte, sich mit ihr zu treffen.

Am Samstagmorgen setzte Winfried sich in den Mercedes und fuhr voller Erwartungen nach Aachen. Auf der Autobahn waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs, das erleichterte ihm die schnelle Hinfahrt. Als er vor dem Hotel ankam, fand er ohne Schwierigkeiten einen Parkplatz in der Tiefgarage. Beim Hotelempfangschef gab er seinen Namen an und wünschte ein Zimmer mit Bad. „Einen Augenblick, nehmen Sie doch bitte Platz“, vertröstete ihn ein glatzköpfiger Portier, „ich schaue nach, ob wir noch etwas frei haben“

„Oh, ja, ist ja alles o.k.“, sprach er freundlich, „Ihre Nichte hat für Sie ein Zimmer bestellt, und mich gebeten, sie sofort von Ihrer Anreise zu benachrichtigen.“

Von der Antwort des Empfangchefs überrascht, setzte Winfried sich zunächst auf einen in der Nähe stehenden Stuhl. Das Wort Nichte gefiel ihm nicht, aber er musste Frau Franzke zugestehen, clever genug zu sein, um sich ihren guten Ruf zu bewahren. Er brauchte nicht lange zu warten. Seine „Stelldicheindame“ kam mit schnellen Schritten die Hoteltreppe herunter. Ihr braungebranntes Gesicht strahlte ihn von weitem an, der eng anliegende Pullover betonte ihre gut geformte Brust. Die schwarze neumoderne Jeanshose saß wie an gegossen. Schneeweiße Zähne, dunkle Augen, schwarze Haare, ein makelloser Teint, alles in allem eine Schönheit. Sie verkörperte den Traum eines jeden Mannes.

„Hallo!“ rief sie frohgelaunt“, endlich sind Sie ja da, ich habe Sie schon eher erwartet und ein Zimmer für Sie reservieren lassen.“

„Das ist aber nett von Ihnen“, antwortete er mit fragendem Blick.

„Oh, das macht nichts, ich hab` es gern getan, ich weiß doch wie schwer es ist, in Aachen zum Wochenende ein Zimmer zu bekommen.“

Winfried streckte zur Begrüßung seine Hand entgegen und verspürte ihren sanften Druck, der ihm unter die Haut ging.

Frau Franzke gab sich völlig unbefangen. Sie plauderte auf ihn drauf los, als ob sie sich schon seit langem kennen würden.

„Wie war die Fahrt?“ sprach sie weiter,

„ist wieder viel Betrieb auf den Straßen?“

Er konnte sie beruhigen, die Fahrt war wirklich ohne Schwierigkeiten verlaufen und einen Parkplatz hatte er auch gefunden. Sie schob ihre Hand unter seinen Arm.

„Und was machen wir jetzt? Gehen wir in die Bar auf einen Begrüßungsdrink?“

Ihm kam das Tempo, wie sie vorging, sehr rasant vor. Er war dem nicht gewachsen. Um Zeit zu gewinnen verneinte er ihren Vorschlag.“

„Draußen ist es so schön“, widersprach Winfried, „die Sonne scheint, ich möchte mich nach dem Autofahren etwas bewegen.“

„Oh, das kann ich gut verstehen.“ Nach der Autofahrt ist man immer ganz steif vom langen Sitzen.“

Gisela, so nannte er Frau Franzke kurz, zeigte sich nicht im Geringsten enttäuscht. Vorsichtig ging sie mit ihm ein paar Stufen die Treppe herunter.

Auf der Straße blieben sie stehen. Er schaute sie fragend an.

„Gehen wir rechts oder nach links?“

„Ich will mir ja nur etwas die Beine vertreten, da ist es gleich in welche Richtung wir gehen“, äußerte er sich arglos.

Sie gingen langsam rechts die Straße herunter. Gisela hatte sich bei ihm zutraulich eingehängt und passte sich rücksichtsvoll seinen Schritten an. Die frische Luft tat ihm gut, er fühlte sich stolz und erhaben. Vor allem deswegen, dass neben ihm das zauberhafte Mädchen der Welt ging, das die Blicke vieler Männer auf sich zog.

Es war Gisela die zuerst sich an ihn wandte.

„Mir scheint, ich erlebe einen Traum!“

„Wieso denn?“ fragte er ahnungslos.

„Weil ich mit einem so gut aussehenden Mann spazieren gehe“, erwiderte sie frohgelaunt. Tun Sie bloß nicht so, als ob sie es nicht selber wüssten! Sie sind die reizvollste männliche Gestalt, die mir begegnet ist. Ich hätte es nie für möglich gehalten.“

Sie stockte abrupt. „Na, was hätten Sie nicht für möglich gehalten“, fragte er aufmunternd“, sprechen Sie es ruhig aus.“

Das Kompliment von Gisela hatte ihm gut getan, sein ausgetrockneter Verstand erwartete noch mehr Lobpreisungen.

„Ich hätte es nicht für möglich gehalten, das so ein faszinierender Mann wie Sie, es nötig hat ein Heiratsinserat aufzugeben!“ erwiderte sie mit weiblicher Neugier.

„Es ist mir offen gestanden unverständlich, dass Sie in der Zeitung nach Ihrem Glück suchen müssen.“

„Diese Frage hätte ich auch an Sie stellen können. Sie mit ihrem Charme und weiblichen Attributen, Sie können doch an jedem Finger Verehrer haben.“

„Windige Verehrer, ja“, gab sie zu, „aber keiner hat wirklich ernste Absichten, das ist das Dilemma. Die wirklich netten Männer sind alle verheiratet, die anderen sind zu jung oder aufs Geld aus.“

Sie seufzte Mitleid erregend.

„Ein armes Mädchen wie ich hat es schwer im Leben!“

„So arm können Sie doch gar nicht sein, sonst wären Sie nicht in diesem Hotel eingekehrt."

„Das stimmt in etwa“, gab sie zu, „ich verdiene nicht schlecht, aber ich gebe auch viel Geld aus. Sie wissen ja, wie alles teuer geworden ist, überhaupt hier in Aachen. Ich bin nicht verschwenderisch, aber für eine kleine Urlaubsreise, für ein schickes Kleid, das lasse ich mir einiges kosten. Nur für eine Mitgift oder Aussteuer, da reicht es bei mir nicht, da versuche ich vergebens einiges zusammenzusparen.“

„Das würde mich nicht im geringsten stören“, erwiderte Winfried frei heraus.

„Sie schmiegten sich an ihn, drückte seinen Arm und flüsterten voller Freude.

„Oh, das ist ja wunderbar, endlich mal ein Mann ohne Hintergedanken. Als ich Ihr Inserat las, hatte ich das Gefühl, das darf nicht wahr sein, da muss ein Pferdefuß dahinter stecken. Ich bin froh, dass ich mich geirrt habe."

„Und ich bin glücklich“, antwortete Winfried hoch erfreut, „dass Sie auf mein Inserat geschrieben haben.“

„Ich weiß nicht, wie ich dazu gekommen bin. Es ist das erste Mal, dass ich auf eine Annonce geschrieben habe. Und mir kommt es vor, als ob es eine Eingebung des Himmels gewesen sei!“

Gisela redete und redete, ohne Unterbrechung. Man sah es ihr  an, dass sie sich noch freuen konnte wie ein kleines Kind über einen reich gedeckten Gabentisch. Winfried ließ Frau Franzke plaudern, sie hatte eine angenehme Stimme, die nicht aufdringlich wurde. Beide waren schon etwa 10 Minuten unterwegs, als sie still wurde und angespannt in eine Richtung schaute. Er konnte nichts Besonderes entdecken und fragte zögernd: „Erwarten Sie jemanden, suchen Sie etwas?“

„Nein, das nicht, wie kommen Sie denn darauf?“

„Sie sind so merkwürdig still geworden, fehlt Ihnen etwas?“

„Das haben Sie gut gesagt“, strahlte sie ihn mit reizendem Lächeln an, natürlich fehlt mir immer was, in erster Linie.“ Sie stockte, stieß einen Seufzer aus und brachte mühsam hervor.

„Sehen Sie dort drüben das Schild? Dort befindet sich eine Änderungsschneiderei. Und dort habe ich mein bestes Kleid hingebracht, das ich heute Ihnen zu Ehren anziehen wollte.“

„Sie sind doch gut angezogen, sie sehen blendend aus!“ tröstete er sie.

„Darum geht es ja nicht, das Kleid ist fertig zum Abholen. Nur zu dumm, dass ich vergessen habe, heute früh bei der Bank Bargeld abzuholen. Einen Scheck möchte ich der Schneiderin nicht geben, sie kennt mich doch kaum!“

Jetzt erst hatte Winfried sie verstanden. „Wie viel kostet denn die Änderung?“ - „Zweihundertfünfzig Mark!“ Winfried wollte schon die Brieftasche zücken und ihr ein paar Scheine in die Hand drücken.

In diesem Moment ertönte ein Warnzeichen in seinem Gehirn: „Halt, die junge Dame will dich nicht etwa ausnehmen?“ Mit übertriebener Freundlichkeit lächelte er sie an. „Aber Sie gefallen mir ausgezeichnet in Ihrem alten Kleid. Es soll ja auch nicht unsere erste und letzte Begegnung sein. Ich hoffe, Sie werden noch genug Gelegenheit haben, Ihre Garderobe mir vorzuführen!“ –

„Das hoffe ich auch, aber ich ärgere mich maßlos, dass ich gerade heute so ein Pech habe, nicht passend angezogen zu sein.

„Sie verzog ihren hübschen Mund wie ein kleines, trotziges Kind.

„Na, schauen Sie nicht so enttäuscht auf mich, ich bin doch wirklich nicht schuld daran!“

„Das stimmt schon, nur ich kann mich ärgern, in einem alten Fetzen herumlaufen zu müssen. Heute spielt in unserem Hotel die Media-Big-Band aus London, die möchte ich gerne hören."

„Wir werden schon ein Lokal finden, wo wir uns amüsieren können, ohne besonders vornehm gekleidet zu sein“, versuchte Winfried sie zu trösten".

Sie verstehen mich nicht!“ sagte sie enttäuscht.

„Möglich, wir haben uns ja eben erst kennen gelernt.“

Plötzlich blieb sie stehen und sagte überraschend:

„Die Sonne ist verschwunden, mir ist kalt, wollen wir nicht lieber ins Hotel zurückgehen?“

„Selbstverständlich, Sie sollen sich doch nicht erkälten“, räumte er ein. Jetzt bemerkte er auch, dass es erheblich kühler geworden war. Schweigend drehten sie um und gingen zum Hotel zurück. Gisela hatte versucht von ihm Geld zu erschleichen. Winfrieds Laune war getrübt worden und lustlos betrat er die Hoteleingangshalle. Fast wäre seine Eitelkeit ihm zum Verhängnis geworden. Er hätte wissen müssen, dass so ein schönes, junges Mädchen es nur auf sein Geld abgesehen hatte, nicht auf seine Person. Seine Zurückhaltung wirkte auf Gisela aufmunternd. Ihre ursprüngliche Heiterkeit kam wieder, und als sie sich  in der Halle umschauten, waren sie sich einig, dass der Spaziergang gut getan hatte. Sie trennten sich freundschaftlich, als ob nie etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre.

Er bekam seinen Schlüssel, und jeder ging auf sein Zimmer. Endlich kam er dazu seinen Koffer auszupacken und sich frisch zu machen.

Zum Abendessen erschien Gisela in einem rosaroten Seidenkleid, das ihre schlanke Figur hervorhob und von anderen Damen neidvoll registriert wurde. Sie hatte ein zweites Gedeck für sich auftragen lassen. Die bestellten Speisen und Getränke waren ausgezeichnet. Die Bedienung gab sich große Mühe, alle Wünsche zu erfüllen. Nach dem exquisiten Mahl machte Winfried ihr den Vorschlag noch  hinüber in die Bar zu gehen. Er bestellte 2 heiße Mokka, und für sie einen großen Fruchteisbecher.

Ihre dunklen Augen strahlten ihn  an. Danach bat er sie, mit ihm ins kleine Gesellschaftszimmer zu gehen, um sich dort vom reichlichen Essen und  dem Spaziergang zu erholen. Um ihr zu zeigen, dass er nicht geizig  war, bestellte er einen französischen Champagner, aber einen von den teuersten. Das Aufleuchten ihrer Augen zeigte ihm, dass er das Richtige getroffen hatte.

Sie setzten sich in dem elegant eingerichteten Aufenthaltsraum an einen Ecktisch und genossen in gelöster Atmosphäre die Zweisamkeit. Nach dem zweiten Glas Wein fragte er sie gut gelaunt:

„Wie ist`s,  wenn wir uns beim Vornamen nennen, Ihr Name klingt so schön!“

„Aber sicherlich, sehr gerne, darf  ich zu Ihnen Herr Winfried sagen?“

Beide waren gut gelaunt, und er war nahe dran seinen klaren Verstand zu verlieren. Nach ein paar Minuten erholsamen Schweigens begann Gisela erneut sehnsuchtsvoll zu sprechen.

„Es muss schön sein, reich zu sein“, hörte er sie leise vor sich hinmurmeln. Ihre Ehrlichkeit machte ihn betroffen.

„Haben Sie viele unerfüllte Wünsche?“ fragte Winfried deutlich, nachdem er ihr zum zweiten Mal mit dem gefüllten Champagnerglas zugeprostet hatte.

„Das gerade nicht, nur wenn man kein Kapital hat, verpasst  man alle Chancen.“ Etwas zweideutig antwortete er:

„Sie brauchen doch nur in den Spiegel zu schauen, dann sehen Sie, wo ihre Möglichkeiten sind.“

Sie schüttelte den Kopf und seufzte verschämt.

„Eine gute Figur und ein hübsches Gesicht genügen heute nicht, um im Leben voranzukommen.“ Gisela fing an zu sinnieren:

„Ein Bekannter von mir, hat einen todsicheren Tipp, womit man viel Geld verdienen kann.“ Winfried wurde hellwach, als ich dies hörte.

„Das interessiert mich auch sehr, aber ist dabei nicht ein Haken? Meistens ist es doch so, dass der Tippgeber immer andere sucht, die ihm Geld geben sollen. Ist das so?“

„Natürlich, einer muss schließlich ein gutes Anfangskapital einbringen. Dann kommt die große Rendite.“

„Oder auch Pleite!“ konterte Winfried sarkastisch.

Misstrauisch sah ihn Gisela an. Sie wusste nicht recht, ob er es ernst meinte oder nur scherzte.

„Nun erzählen Sie mir mal, wo man großen Gewinn machen kann.“

„In Spanien, beim Hotelbau, man braucht sich nur mit zehntausend Mark beteiligen. Wenn ich Geld hätte, wäre ich sofort eingestiegen!“ fügte sie träumerisch hinzu. „Dann seien Sie froh, dass Sie es nicht gemacht haben. Das ganze klingt nämlich sehr unseriös. Früher vielleicht, am Anfang des Baubooms, aber heute!“ Winfried schüttelte ungläubig den Kopf und schaute ihr tief in die Augen. „Der einzige, der bei so einem Geschäft verdient, das ist ihr Bekannter, eine nicht neue Idee.“

Gisela merkte, dass er nicht für Geldspekulationen zu haben war. Sie gähnte unterdrückt, zupfte an ihrem Kleid herum und hatte es eilig aufzustehen.

„Sind Sie sehr müde?“ fragte er dumm, „ich möchte Sie nicht aufhalten.“

„Oh, nein“, erwiderte sie lachend, „ich weiß nicht, was mit mir heute los ist, ich muss mich wohl übernommen haben. Ich möchte mich bei Ihnen für den schönen Abend bedanken, und hoffe, dass wir uns morgen wieder sehen.“

„Das erwarte ich auch, also bis morgen, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“ Winfried stand auf und begleitete sie noch bis zum Aufzug. Sie stieg ein, lächelte noch süßsauer zurück, und er blieb allein.

Unauffällig winkte er den Oberkellner herbei, bezahlte die Rechnung und rauchte noch eine Entspannungs-Zigarette. Enttäuscht vom vorzeitig abgebrochenen Abend, schaute er sich die Nachrichten im Fernsehen an. Nach dem Wetterbericht, der für die nächsten Tage Regen voraussagte, fuhr er mit dem Lift bis zur siebten Etage, wo er sein Zimmer hatte. Winfried öffnete die Balkontür und betrachtete das grandiose Stadtbild von Aachen. Hellwach nahm er den Regenmantel aus dem Koffer und fuhr wieder nach unten, um einen kleinen Stadtbummel zu machen. Weit wollte er nicht gehen, er wechselte die Straßenseite, und ohne es zu wollen, betrat das berühmte Aachener Spielkasino. Winfried zeigte seinen Ausweis, kaufte die obligatorischen Chips und mischte sich unter die Spielenden. Die Atmosphäre war laut und rauchgeschwängert, brachte aber Abwechslung in seine Gedanken. Es war interessant zu beobachten, mit welcher Verbissenheit Männer und Frauen versuchten, ihr Glück im Spiel zu erzwingen. Er schlenderte ohne Ziel durch die großen Säle und sah, wie Menschen gespannt auf die rollende Kugel schauten oder krampfhaft an den Knöpfen der Spielautomaten drehten. In der Mitte des Hauptsaales wurde an einem Tisch Roulett gespielt. Die Spieler saßen oder standen herum, der Croupier kassierte oder schob die Gewinne zu, ein faszinierendes Treiben. Mit seinen paar Chips in der Hand drängte er sich an den Spieltisch. Tief über den Tisch gebeugt, erblickte er seine nette Hotelbekannte, Frau Gisela Franzke, wie sie mit flackernden Augen die rollende Kugel verfolgte.

Sie hatte ihn nicht gesehen, das war gut so. Winfried fiel es wie Schuppen von den Augen. Gisela war eine Spielerin. Weil sie bei ihm kein Glück hatte, versuchte sie hier mehr Erfolg zu haben. Zum zweiten Mal wurde ihm an diesem Abend die Stimmung verdorben. Ohne sein Glück im Spiel zu versuchen, verließ er den Saal und war nach wenigen Minuten wieder im Hotel. Er ging zum Nachtportier und sprach ihn an.

„Guten Abend, ich möchte etwas klarstellen. Die Dame, die für mich das Zimmer bestellt hat, ist nicht meine Nichte.“

„So, so, und was wollen Sie damit sagen?“

„Ich will sagen, dass ich diese Dame heute zum ersten Mal hier gesehen habe, und ihr gegenüber zu nichts verpflichtet bin".

Der Portier blätterte unruhig in einem Stapel von Papieren. „Hier, mein Herr, hier habe ich eine Rechnung auf Ihren Namen. Ihre Bekannte will morgen früh abreisen und hat uns gebeten, alles mit Ihnen zu verrechnen.“

„So was habe ich mir fast gedacht“, erwiderte Winfried energisch, „aber nicht mit mir.“

„Sie wollen also nicht zahlen?“

„Nein, auf keinen Fall, ich habe keine Bestellung aufgegeben, ich bin bereit nur für mein Zimmer zu zahlen, alles andere interessiert mich nicht.“

Der Nachtportier knirschte mit den Zähnen und unterdrückte einen Fluch.

„Bitte, machen Sie für mich die Rechnung fertig, ich reise mit meinem Wagen morgen früh sofort nach dem Frühstück ab. Gute Nacht!“

Winfried begab sich auf sein Zimmer und verbrachte die erste und letzte Nacht im Dom-Hotel mit unguten Gedanken.

Er schlief schlecht in dieser Nacht und musste sich beeilen, um rechtzeitig am Frühstückstisch zu erscheinen. Hastig trank er 2 Tassen Kaffee, aß nur  Brötchen mit geräuchertem Schinken, und setzte sich in den Wagen um Aachen so schnell wie möglich zu verlassen. Wieder in Düsseldorf zurück, sinnierte Winfried noch lange über die Erfahrungen nach, die er mit heiratswilligen Damen gesammelt hatte. Durch die Damenverabredungen, konnte er sich zu wenig um seine Kindern kümmern, die das auch spürten. Um mehr Zeit für sie zu haben, beschloss er, nicht mehr so oft wegzufahren.

Teil 15

Er rief Agathe zu sich, strich ihr liebevoll über das hellblonde Haar, das zu zwei Schwänzchen zusammengebunden war.

„Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht? Ist das heute modern?“

„Doch, ich habe im Fernsehen Pippi Langstrumpf gesehen, ich möchte auch so wie sie Abenteuer erleben.“

Winfried schmunzelte, räusperte sich versteckt und erwiderte versöhnlich.

„Ja, ja, wenn du einen guten Schulabschluss schaffst, dann kannst du studieren, vielleicht kommst du in die weite Welt hinaus, da erlebst du bestimmt genug.“

Agathe stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange.

„Ich weiß schon Daddy, ohne Fleiß keinen Preis, willst du sagen, das kenne ich. Aber sei beruhigt, ich lerne auch ohne Aufsicht.“

„Na, das freut mich aber, jetzt warte ich nur noch auf ein gutes Schulzeugnis.“ Winfried wurde von Gewissensbissen geplagt. Machte er es richtig, dass er unbedingt eine neue „Mutter“ für seine Kinder suchte? Ohne sich seine Zweifel anmerken zu lassen, wandte er sich besorgt an Agathe.

„Hat Helmut seine Schularbeiten auch gemacht? Oder habt ihr die ganze Zeit ferngesehen?“

„Nein, Papa, ich bin zeitig schlafen gegangen. Was Helmut gemacht hat, das weiß ich nicht, aber ich kann ihn ja gleich mal holen.“

„Tu das bitte“, entgegnete Winfried gelassen, „sag ihm bitte, er soll zu mir kommen!“ Als beide Kinder vor ihm saßen, fing Helmut von allein an.

„Papa, ich habe aufgepasst, dass Agathe um 9 Uhr schlafen gegangen ist. Ich habe mir um 10 Uhr noch die Spätnachrichten angeschaut, und dann bin ich auch ins Bett gegangen."

„Und wie ist es mit dem Schulunterricht? Lernst du auch fleißig? Ich möchte keine Klagen hören!"

„Keine Bange Papa, ich weiß schon was ich zu tun habe, du hast mir alles so oft erklärt."

„Na, dann lasse ich mich mal überraschen, was für Zeugnisse ihr mir nach Hause bringt. Denkt bitte nicht, wenn ich euch in der letzten Zeit öfters allein gelassen habe, dass das noch lange so sein wird.“

„Warum denn nicht?“ fragte altklug Agathe, „hast du eine Frau gefunden die dir gefällt. Wie sieht sie denn aus? Kommt sie mal zu uns?“

„Bis jetzt bin ich mir nicht sicher, wer von den Damen die mir geschrieben haben, die richtige sein könnte.“

„Schade“, erwiderte Agathe mitleidsvoll und fügte hinzu:

„Sei nicht traurig Daddy, was nicht ist, kann ja noch werden!“

„Du wünschst dir wohl sehr eine neue Mutter?“

„Ich?“ rief  Agathe, „aber überhaupt nicht. Ich bin ganz zufrieden so wie wir hier wohnen.“

Helmut wandte sich an seine Schwester:

„Meiner Meinung nach ist die ganze Brautschau ein höherer Blödsinn!"

„Was willst du damit sagen?“ fuhr Winfried ihn hart an.

Helmut ließ sich nicht einschüchtern.

„Na, ja, das weiß man doch. Du bist eben ein Mann im gefährlichen Alter. Das sollte aber kein Grund für dich sein, verrückt zu spielen.“

„Ich verbitte mir solche respektlosen Bemerkungen, sieh du erst mal zu, dass du trocken hinter den Ohren wirst, bevor du an mir herumkritisierst.“

Verärgert ließ Winfried die Kinder stehen und ging in sein Arbeitszimmer. Am Schreibtisch setzte er sich hin, und begann die Briefpost vom Vortage durchzusehen. Er hatte begriffen, dass seine Situation langsam, aber sicher unhaltbar wurde. Nicht nur, dass er selbst allmählich jede Hoffnung verlor eine passende Lebensgefährtin zu finden, er hatte auch die Achtung seiner Kinder aufs Spiel gesetzt. Kein Wunder, dass sie anfingen, ihn für einen bemitleidenswerten, alten Trottel zu halten. Winfried begann die eingegangenen Briefe zu ordnen. Reklameangebote wanderten sofort in den Papierkorb. Die untere Schublade des Schreibtisches zog er weit heraus, um sich zu vergewissern, dass nichts liegen geblieben war. Ein Foto von Claudia Bauder fiel ihm  in die Hände. Lange betrachtete er das Bild, und plötzlich hatte er den Eindruck, als ob nur sie, dieses unauffällig hübsche Mädchen mit der schlichten Frisur, dem zarten Mund und den ausdrucksvollen Augen die richtige Frau für ihn wäre. Er begann nachzudenken.

„Warum war es bloß mit ihr schief gegangen? Wegen einem kleinen Malheur am Kaffeetisch war sie erschreckt davongelaufen und hatte einen Abschiedsbrief geschrieben. Warum hatte er sie nicht zurückgeholt? Ihm wurde bewusst, dass sie ein wunderbares Mädchen war. Im Vergleich zu allen anderen Heiratkandidatinnen schnitt sie am besten ab. Die meisten Damen hatten unrealistische Vorstellungen von der Kindererziehung. Und auf eine harmonische Partnerschaft mit seinen Kindern legte er besonderen großen Wert. Er ärgerte sich, dass er Claudia so schnell vergessen hatte. Selbstredend sprach er: „Was bin ich doch für ein Dummkopf, warum bin ich nicht eher darauf gekommen? Ich weiß, du erwartest ein Zeichen von mir.“

Aus einem inneren Drang heraus, stand Winfried mit einem Ruck auf und klingelte nach der Köchin.

„Sie müssen mit den Kindern heute allein zu Mittag essen“, eröffnete er ihr, „ich muss noch einmal unbedingt wegfahren.“

Frau Seidel nahm seine Worte gelassen entgegen. Sie wagte nicht unnötige Fragen zu stellen. In der Diele kam ihm Tochter Agathe entgegen. Sie hatte offensichtlich auf ihn gewartet.

„Nimmst du mich mit, Papa?“ bat sie. Er zögerte für einen Moment. Am liebsten hätte er sie mitgenommen, aber dann schien es ihm doch nicht sinnvoll. Wenn Winfried etwas erreichen wollte, musste er mit Claudia allein sprechen. Zehn Minuten nach 12 Uhr hielt er vor dem Haus der Familie Bauder.

Es war nicht gerade die richtige Zeit für einen Besuch bei gutbürgerlichen Leuten. Aber er war nicht in der Stimmung, darauf Rücksicht zu nehmen. Er klingelte, und das Hausmädchen öffnete, diesmal nicht im Häubchen und Schürzchen, sondern in einem einfachen roten Kleid, das ihr wesentlich besser stand. Als sie ihn erkannte, schienen ihr die Augen fast aus dem Kopf zu fallen.

„Ach, Sie sind es?“ fragte sie dumm. Winfried begrüßte sie unbefangen. „Ich kann mir denken, dass ich unerwartet komme“, sagte er, „aber könnte ich vielleicht Fräulein Claudia sprechen?“

„Sie ist leider nicht mehr hier!“

„Wo ist sie denn hin?“ fragte er ahnungslos.

„Sie hat doch nicht geheiratet?“

„Nein, das nicht, aber sie ist nicht hier“, erwiderte sie gleichgültig. „Sagen Sie mir doch endlich, wo sie ist? Ein Mensch kann doch nicht einfach von heute auf morgen verschwinden!“

„Doch, sie hat die Koffer gepackt, und weg war sie.“ In diesem Augenblick kam Claudias Mutter in die Diele.

„Was ist denn hier los, wo bleiben Sie Eleonore, ich habe Ihnen doch ausdrücklich gesagt.“

Jetzt erkannte sie den Besucher. Aber kein Lächeln der Begrüßung erschien auf ihrem Gesicht.

„Sie wünschen?“ fragte sie kalt. Winfried verbeugte sich höflich und mit gewinnendem Lächeln sagte er:

„Ich möchte gerne Fräulein Claudia sprechen."

„In welcher Angelegenheit?“

„Privat.“ Sie ging entschlossen zur Wohnungstür.

„Tut mir leid. Ich kann Ihnen keine Auskunft erteilen."

„Liebe, gnädige Frau“, sagte Winfried, „aber es ist wichtig, sehr wichtig für mich und wahrscheinlich auch für Claudia. Ihr Hausmädchen sagte mir, dass sie nicht mehr hier wohnt. Ich wollte Sie bitten, mir die neue Adresse von Claudia zu sagen.“

„Die weiß ich nicht.“

„Aber, entschuldigen Sie, gnädige Frau, das ist doch kaum zu glauben".

„Das stimmt“, sagte sie, „Claudia hat sich unglaublich benommen, dieses undankbare, böse Kind.“

Plötzlich verlor die Mutter ihre Beherrschung und mit Tränen in den Augen fuhr sie fort:

„Haben wir nicht alles für sie getan? Wirklich alles? Wir haben sie doch verwöhnt. Und was tut sie? Ohne ein Wort der Erklärung lässt sie Vater und Mutter im Stich. Wir haben doch immer nur ihr Bestes gewollt. Und das ist der Dank dafür.“

 "Hat sie denn nicht geschrieben?“ fragte Winfried ungläubig.

„Doch, aber ich habe sofort den Brief in den Papierkorb geworfen. Für uns ist sie gestorben. Sie braucht gar nicht wiederzukommen und sich zu entschuldigen!“ - „Aber Sie werden doch wenigstens wissen, woher der Brief gekommen ist? Wenn schon nicht den genauen Absender, dann doch wenigstens die Stadt!“

„Nein, dafür habe ich mich nicht interessiert. Jetzt gehen Sie. bitte!“

Sie öffnete die Wohnungstür, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in der Küche. Winfried musste sich geschlagen geben, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen. Das Hausmädchen hatte das Gespräch mit unverhohlener Neugier verfolgt. Sie trat an ihn heran und flüsterte mit unterdrückter Stimme.

„Sie, ich weiß, wo das Fräulein ist“, sagte sie überraschend. Er zog einen Zehnmarkschein aus der Tasche und drückte ihn ihr in die Hand.

„Wo?“

„In Essen“, sprach sie leise, „es war Essen, das weiß ich genau!“ Sie drängte den Besucher die Wohnung zu verlassen, denn schon  hörte sie die Stimme der „Gnädigen“ aus dem Wohnzimmer nach ihr rufen.

Enttäuscht und sehr nachdenklich fuhr Winfried nach Hause. Unterwegs dachte er viel über Claudia nach. Unnötig erinnerte er sich auch an den Brief seiner Bekannten aus dem Sportclub, an Frau Elfriede Krause, an ihren dicken Brief mit dem vorgefertigten Ehevertrag und ihrem 25 Punkte Plan.

Sie schrieb von der Möglichkeit einer Vernunftheirat mit ihr.

Winfried musste erkennen, dass mit Vernunft und Überlegungen, mit Wenn und Aber, ernst gemeinten Partnerschaftsbemühungen nicht beizukommen ist. Das Herz spielt in solchen Situationen eine große Rolle. Und bei Elfriede Krause rührte sich nichts in seinem Inneren. Im Gegenteil. Sie war eine nüchtern berechnende Frau, die gut in ihren sportlichen Aktivitäten sein konnte, aber in Herzensangelegenheiten war sie kalt. Und nun verspürte Winfried bei Claudia Bauder, als er an sie dachte, wie sein Herz unruhig zu schlagen anfing, wie sein Verstand vom Wunsch durchdrungen wurde, diese junge Frau noch einmal zu sehen. Für ihn kam eine Vernunftheirat mit Frau Krause niemals in Frage, sein Herz sollte entscheiden. Und das Herz hatte sich längst entschieden. Bei jedem anderen Mädchen hätte Winfried angenommen, dass ein anderer Mann hinter der überstürzten Flucht aus dem Elternhaus stecken musste. Aber nicht bei Claudia. Er war fest von ihrer Anständigkeit überzeugt. Für ihr Verhalten fand er nur eine Erklärung. Mit der Begegnung mit ihm hatte sie erkannt, dass sie sich aus der Tyrannei der elterlichen Liebe lösen musste. Sie war selbständig geworden, und sie hatte den ersten Schritt in die Freiheit gewagt.

Gleich am nächsten Morgen erkundigte sich Winfried im Einwohnermeldeamt nach ihrem Aufenthalt. Er erfuhr nicht nur die Adresse, sondern auch den Namen der Firma, in der sie beschäftigt war. Noch am selben Tage fuhr Winfried zur Möbelfabrik „Wassenberg“ um Claudia zu treffen. Er wartete im Wagen am Ausgangstor. Pünktlich um 17 Uhr sah er mehrere Büroangestellte, Arbeiter und Arbeiterinnen, wie sie eilig das Werksgelände verließen. Er hatte schon die Hoffnung aufgegeben, als er endlich Claudia erblickte. Winfried hätte sie beinah nicht erkannt. Sie trug ein schlichtes, aber tadellos sitzendes Herbstkostüm, ihr Haar war kurz geschnitten, sie hatte ihre Lippen leicht geschminkt, kurzum es war eine völlig verwandelte, überaus reizvolle Claudia, die er da vor sich sah.

Winfried sprang aus dem Auto und ging auf sie zu. Die ersten Sekunden der wieder Begegnung waren entscheidend für die Zukunft. Er sah, wie ihre Augen aufleuchteten, als sie ihn erkannte, und da begriff er, dass sie ihn nicht vergessen hatte. Winfried konnte sich später nicht mehr erinnern, was er ihr damals zur Begrüßung gesagt hatte. Wahrscheinlich waren es ein paar banale Sätze. Innerlich fühlte er aber, wie sein Herz vor Freude klopfte, er war zutiefst ergriffen und ihm fehlten die richtigen Worte. Er blickte sie nur sehnsuchtsvoll an, in ihren Augen sah er Tränen der Wiedersehensfreude.

Winfried nahm sie an der Hand und führte sie behutsam zu seinem Wagen. Claudia und Winfried überstürzten nichts. Es dauerte fast ein Jahr, bis sie sich verlobten. In dieser Zeit hatten seine Kinder Agathe und Helmut genug Gelegenheit, Claudia näher kennen zu lernen. Es war erstaunlich, wie schnell sie sich gut mit ihr verstanden. An eine Vernunftheirat dachten beide nicht mehr. Im Gegenteil, sie ließen ihre Herzen sprechen, die in Liebe und Geborgenheit übereinstimmten.

ENDE