Eine schlesische Lebensgeschichte
Um die Navigation in dem recht langen Text zu erleichtern, füge ich
ein
Inhaltesverzeichnis ein:
Erster Teil (1924-1964)
Zweiter Teil (1965-1986)
Dritter Teil (1986-2002)
Vierter Teil (Lebensgeschichte meines Bruders Walter)
Fünfter Teil (Lebensgeschichte meiner Schwester Margot)
Sechster Teil (Lebensgeschichte meiner Schwester Traudel)
Siebenter Teil (Lebensgeschichte meines Bruders Helmut)
Nun wünsche ich angenehme Lesestunden.
An einem Wintersonntag des Jahres 1924 wurde ich zu Altewalde, Kreis Neisse in Schlesien geboren. Um meine nachfolgenden Kindheitserinnerungen besser verständlich zu machen, versuche ich zuerst Land und Leute meines Heimatdorfes zu beschreiben, wie sie noch heute im Alter von über siebzig Jahren in meinem Gedächtnis vorhanden sind. Meine Erinnerungen ergänzte ich jedoch mit Angaben auf, die ich in einem reich bebilderten Buch mit dem Titel: „Wie's derheeme wor - Leben und Brauchtum in Altewalde“ gelesen habe. Dieses Werk schrieben junge Autoren, die alle viel jünger als ich, auch in meinem Heimatort geboren wurden. Sie haben Bilder sowie Tatsachen aus der Heimat veröffentlicht, die ich teilweise vergessen hatte, oder die ich selbst bis dahin nicht gekannt hatte. Erst nach der Lektüre dieses Buches fing ich an, meine ganz persönlichen Erinnerungen zu ergänzen und zu bereichern, um sie in den Wintermonaten aufzuschreiben.
In Altewalde wohnten vor dem letzten Krieg etwa Tausend Einwohner, die überwiegend von der landwirtschaftlichen Nutzung ihrer Felder lebten. Als Bauerngutsbesitzer zählte mein Vater zu den besser gestellten Landwirten, die im dörflichen Gemeinschaftsleben alle wichtigen Ämter ausübten wie zum Beispiel das Bürgermeisteramt, das Amt des Standesbeamten, des Schiedsmannes und andere. Die meist stattlichen und stolzen Bauern beteiligten sich als Mitglieder in der freiwilligen Feuerwehr, im Kriegerverein, in der Ortsbauernschaft, oder engagierten sich in sozialen Bereichen wie Rote-Kreuz-Helfer, im Gemeinde-Fuhrwerkdienst oder ähnlichem. Das auf einem leichten Hügel gelegene Dorf zog sich an einem flachen Bach, dem Mangerwasser entlang, zwölf Kilometer von der Kreisstadt Neisse entfernt. Ohne eine Bebauungslücke schlossen sich am Ende des Oberdorfes die Nachbargemeinden Neuwalde und Ludwigsdorf an, so dass diese drei Dörfer, mit einer Länge von 6 Kilometern, im ganzen Landkreis bekannt waren. Zur nächsten Bahnstation musste man nach Deutsch-Wette fahren, oder auch nach Neuwalde, um dort den Zug zu besteigen, wenn man ins oberschlesische Industriegebiet gelangen wollte. Die etwa siebzig selbständigen Bauerngutshöfe, die auch als Erbhöfe bezeichnet wurden, befanden sich alle in einem guten baulichen Zustand.
Die St. Martin Dorfkirche von Altewalde mit dem hohen unverkennbarem Glockenturm und dem weithin sichtbarem Uhrwerk, überragte alle anderen Gebäude. Die stattliche Kirche mit der wunderschönen Innenausstattung, stand inmitten eines groß angelegten Friedhofs. Die Gräber, die um das Gotteshaus reihenweise geordnet waren und an die Toten der Heimatgemeinde erinnerten, wurden stets ordentlich gepflegt.
Im Pfarrgutshof, zu dem über 300 Morgen Ackerland und Wiesen gehörten, wohnte der Dorfpfarrer mit seiner Köchin, mit einem Pfarrgutsverwalter und mehreren Hilfskräften. Eine massiv gebaute Dorfschule stand in der Nähe der Kirche. Sie wurde als Mittelpunkt des Dorfes angesehen. Nicht weit davon entfernt standen zwei Gastwirtschaften mit großen Versammlungs- und Tanzsälen, sowie Schankstuben im Erdgeschoss. Die Gastwirte konnten vom Alkohol- und Getränkeverkauf allein nicht leben, dafür waren die schlesischen Bauern zu sparsam. Die Wirte besaßen noch einige Morgen Ackerland mit dem dazugehörigen landwirtschaftlichen Inventar. Die Bäckerei mit Kolonialwarengeschäft der Familie Müssig, stand zwischen Kirche und Schule und erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Im Niederdorf befand sich ein zweiter Backbetrieb, der Familie Lassmann gehörend, die gleichzeitig eine kleine Poststelle mit Briefmarkenverkauf unterhielt. Der Bäcker erledigte während seiner Verkaufsstunden auch alle postalischen Obliegenheiten und verteilte nebenbei alle Postsendungen, die ein Postauto aus Neisse brachte. Gegenüber dem Briefkasten im Niederdorf befand sich das Geschäft des Fleischermeisters Leguttke. Andere handwerkliche Betriebe, wie zum Beispiel die Schmiede, die Schneidereien, der Stellmacher, die Tischler, die Frisöre, die Sattlerei, der Viehhändler, die Kaufleute und Müller, erbrachten eine ausreichende Versorgung der Dorfgemeinschaft mit allen handwerklichen Erzeugnissen und Dienstleistungen, die von einer bäuerlichen Landbevölkerung erwartet wurde. Urkundlich wurde Altewalde schon im Jahre 1249 erwähnt. Der Ort hatte im Verlauf der Jahrhunderte eine sehr wechselhafte Entwicklung durchgemacht und wurde von mehreren Herrschaftssystemen verwaltet. Nach dem Kriegsende im Jahre 1945 kam für den Ort die große schicksalhafte Wende.
Heute liegt Altewalde, sowie ein großer Teil der deutschen Ostgebiete auf polnischem Staatsgebiet. Ich versuche meine Erinnerungen möglichst ausführlich nieder zuschreiben, damit geschichtlich interessierte Leute nachlesen können, wo ich geboren wurde, woher ich kam und in welcher Umgebung ich meine frühen Jugendjahre verlebt habe. Zum Erbhof meines Vaters gehörten 16 ha guten Ackerbodens, der sich gleich hinter der Scheune des rechteckig ausgebauten Bauernhofes bis zum nahen Wald erstreckte. Im Gemeindewald wuchsen auf 2 Hektar Land Buchen, Eichen, Tannen und Fichten, die das für den Hof benötigte Brennholz lieferten. Der massiv gut ausgebaute Bauernhof bestand aus einem Haupthaus mit einer großen Essküche, acht Wohnräumen, die teilweise als Schlafzimmer für Eltern und Kinder eingerichtet waren. An das Wohngebäude gliederten sich Ställe für 3 Pferde und ca. 14 Kühe an. Rechtwinklig dazu erstreckte sich ein Anbau mit Ställen für ca. 20 Schweine, 6 Kälber und Ochsen, sowie ein paar Ziegen. Eine überdachte Wasserpumpe lieferte gutes Quellwasser für Bewohner und Vieh des ganzen Gehöftes. Die Verbindung zur rechtwinkelig angebauten Scheune, die auch mit roten Dachpfannen bedeckt war, wurde für die Unterbringung von landwirtschaftlichen Geräten und Wagen genutzt. Teilweise waren sie als Futterkammern eingerichtet. An der großen Scheune stand ein angebauter Vorbau, in dem Hühner und Gänse gehalten wurden. Hier wurde auch Holz und Kohle für die Ofenheizung gelagert. In der Mitte des Hofes befand sich ein gemauerter Misthaufen, der von einem kleinen Holzhäuschen verdeckt war. Dieses Häuschen im Mittelpunkt des Hofes diente als Toilette, mit der dazu gehörigen Sickergrube getrennt für Männer und Frauen. Eine Wasserspülung gab es natürlich noch nicht. Auf der vierten Seite des groß angelegten Hofes, stand das so genannte gut ausgebaute Auszugshaus. Hier wohnte bis zum Jahre 1938 meine Oma, die Mutter von meinem Vater, die in einem angebauten Stall Ziegen und Kaninchen hielt und Zugang zum eigenem Obst- und Gemüsegarten hatte.
Von der Dorfstraße aus gesehen stand der Bauernhof auf einer kleinen Anhöhe, zu der ein Fuß- und Fahrweg führten. Die Wege führten am Zaun des großen Obstgartens entlang, der von der Straßenseite her, mit einem eisernen Tor verschlossen werden konnte. Von manchen Dorfbewohnern wurde der Hof meines Vaters als das „Weiße Schloss auf dem Berg“ bezeichnet. Meine Mutter war eine kräftige, mittelgroße, hübsche Frau mit dunklen Haaren und gutmütigem Naturell. Sie hatte es nicht einfach, meinem Vater immer gerecht zu werden.
In meinem Geburtsjahr herrschte ein sehr strenger Winter mit Minustemperaturen bis 15 Grad. Trotz aller Kälteerscheinungen musste meine Mutter schon am dritten Tag nach meiner Geburt alle häuslichen Arbeiten verrichten, wie es damals allgemein üblich war. Es gab zu dieser Zeit keinen Mutterschutz. Die Frauen brachten Kinder auf die Welt, schufteten Tag und Nacht, hatten nie Urlaub und an Freizeitvergnügungen war gar nicht zu denken. Nur arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten und dem Ehemann gehorsam sein. Das war das Los der schlesischen Bauernfrauen. Sonntags gingen sie mit möglichst vielen Kindern brav zur Kirche, eilten danach schnell nach Hause, um das Essen vorzubereiten. Sie konnten sich bei niemandem beklagen.
Mein persönliches Unglück oder auch mein schicksalhaftes Los, das mein ganzes späteres Leben bestimmen sollte, begann am Sonntag vor Martini des Jahres 1925. Meine Eltern waren an diesem Tag mit einer „Chaise“, einer schwarzen vierräderigen Pferdekutsche, die von 2 Pferden gezogen wurde, zu meinen Großeltern mütterlicherseits ins Nachbardorf gefahren. Da ich noch zu klein war, um allein daheim bleiben zu können, und um mir eine besondere Freude zu bereiten, nahm man mich mit, und auch um das stramme Kerlchen den Großeltern zu zeigen. . Meine Eltern wollten Opa und Oma zu den Kirmesfeierlichkeiten in Altewalde einladen, die immer am ersten Sonntag nach Martini stattfanden.
An die folgenden Ereignisse kann ich mich natürlich nicht erinnern, ich erzähle sie so, wie sie mir später von meiner Mama und meiner Patentante erzählt wurden.
Ich war kaum ein Jahr alt und probierte schon die ersten Gehversuche.
In Oppersdorf wurde an diesem Sonntag das Erntedankfest gefeiert, an dem auch immer ein Umzug mit geschmückten Pferdewagen und eine Blaskapelle vorgesehen war. Mein Vater war mit der Pferdekutsche auf dem großen Wirtschaftshof meiner Großeltern eingekehrt und wurde kritisch gemustert. Nach den üblichen Begrüßungsworten wurde ich aus dem Wagen gehoben und auf die noch wackeligen Beinchen gestellt. Die sonst sehr ruhigen Ackerpferde schnaubten auf dem fremden Hof und spitzten die Ohren. Die Dorfmusik setzte ein, und das mir nahe stehende Pferd erschreckte plötzlich und schlug nach hinten aus. Ich wurde am Hinterkopf getroffen, so dass ich einige Meter weit weg flog und mit lautem Knall landete ich auf dem harten Hofboden und blieb besinnungslos liegen. Nach den ersten Schrecksekunden erkannte mein Vater als das schreckliche Unglück. Kreidebleich hob er mich schwer verletzt auf. Aus einer klaffenden Hinterkopfverletzung blutete ich stark. Vorsichtig wickelte mein Vater mich in eine Pferdedecke und herrschte meine Mutter an: „Komm, wir fahren sofort zum Doktor nach Neisse.“ Ohne sich von der erschreckten Verwandtschaft zu verabschieden, schlug er mit der Peitsche auf die Pferde ein, und ehe die lamentierenden Verwandten richtig begriffen, was eigentlich geschehen war, rasten die scheu gewordenen Pferde mit der Kutsche zum Hoftor hinaus. Meine Mutter war untröstlich, sie machte sich Vorwürfe, dass sie mitschuldig wäre an diesem grässlichen Unglück. Mein Vater saß wie versteinert auf dem Kutschersitz und trieb die Pferde zur größtmöglichen Eile an. Es dauerte aber doch noch 2 Stunden, ehe das schwer verletzte Kind im städtischen Krankenhaus in Neisse aufgenommen wurde. Doktor Sonntag, ein stadtbekannter jüdischer Arzt, ein tüchtiger Chirurg, erkannte die Gefährlichkeit der Verletzung. Er ordnete sofort eine Notoperation an. Die Wunde wurde von Schmutz vorsichtig gesäubert und geklammert. Aus der tiefen Narkose erwachte ich langsam erst nach drei Tagen. Dieser Unfall wurde mir mehrmals von Verwandten erzählt und auch heute nach vielen Jahren, schauert es mich innerlich, wenn ich mir das Geschehen von damals vorstelle. Obwohl die Operation gelungen war, verzögerte sich der Heilungsprozess.
Es stellten sich nämlich bald Komplikationen ein, mit denen niemand gerechnet hatte. In den folgenden Monaten blieb ich mit Unterbrechungen fast 4 Jahre im Krankenhaus. Nach einem halben Jahr Krankenhausaufenthalt, bekam ich noch andere Kinderkrankheiten, wie Gelbsucht, Masern, Röteln und sogar Keuchhusten. Man erzählte mir öfters, ich wäre als Kleinkind eine große Belastung für die ganze Familie gewesen. Wenn ich gestorben wäre, so erzählte man sich, wäre es für alle Betroffenen besser gewesen, aber, wie das Schicksal so wollte, ich sollte noch leben und das noch viele, viele Jahre. Als ich aus dem Spital entlassen wurde, musste ich erneut anfangen gehen zu lernen. Mein Körper war vom langen Krankenhausaufenthalt so geschwächt, dass ich zu allem Übel rachitiskrank wurde. Meine Oma und meine Mutter, die mich in einer Holzwiege „pflegten“, waren froh, wenn ich als Kind nicht all zu viel weinte. Ich wurde in ein Wickeltuch gepackt, das meine Großmutter immer über die Schultern geschlungen trug. Tagelang schleppte sie mich nun mit sich herum, wobei ich die meiste Zeit schlief und zufrieden an einem Mundschnuller saugte.
Diese Begebenheiten aus meiner frühesten Kindheit kann ich so genau berichten, weil in den späteren Jahren meine Patentante und meine Mutter mir oft von dem Geschehen erzählt haben. Mein Vater hat niemals mit mir über den damaligen Unfall gesprochen. Vielleicht war ich für ihn und die ganze Familie eine so große Belastung gewesen, dass er sich zu keiner besonderen väterlichen Liebe aufraffen konnte. Erst während der Kriegszeit, im Jahre 1942, als mein Vater schon vom Tode gezeichnet war, hatte sich sein Verhältnis zu mir gebessert. Ich war damals 18 Jahre alt, und mein Vater wollte sich mit jemandem aussprechen. Das war zu dieser Zeit nicht ganz ungefährlich. Er sprach damals viel über die Kriegsereignisse und die allgemeine Weltpolitik. Er war der Meinung, der Krieg sei verloren, wir werde die Heimat verlieren, und ich sollte Fremdsprachen lernen für den Fall, dass wir einmal flüchten müssten. Als Notgroschen überreichte er mir ein Postsparbuch mit 200 Reichsmark, das er auf meinen Namen eingerichtet hatte. Das war damals eine große Summe Geldes. Mein Vater war zu dieser Zeit als Parteigenosse zum Ortsbauernführer und zeitweiligen Bürgermeister von Altewalde eingesetzt worden. Wenn mein Vater sehr für Hitler und die neue Ordnung schwärmte, so litt er später umso mehr, als sich das bittere Kriegsende abzeichnete. Er konnte nicht allein alle schriftlichen Tätigkeiten eines Bürgermeisters verrichten und freute sich sehr, als ich ihm bei der Ausgabe von Lebensmittelkarten half. Die Stromverbrauchsbücher aller Dorfbewohner in Altewalde brachten auch viel Arbeit mit sich. Ich prüfte ihm mehrmals seine Abrechnungen nach, und machte ihn darauf aufmerksam, wenn sich ein Fehler eingeschlichen hatte. Vom Vater kann ich sagen, dass er mit Leib und Seele ein guter, sparsamer Bauer war, der sich gern sozial engagierte, für alles Neue sehr aufgeschlossen war, in der freiwilligen Feuerwehr aktiv mitwirkte und manches kleine damalige „Kriegsvergehen“ großzügig übersah. Er konnte aber auch sehr energisch sein. Auf Parteiversammlungen erhob er seine Stimme, und ich habe manchen lautstarken Disput mit meiner Mutter anhören können. Er war den Kindern gegenüber für meine Begriffe zu wenig liebevoll und brachte seine Gefühlsempfindungen sehr sparsam zum Ausdruck. Er war für Gerechtigkeit, Arbeit, Ordnung und Sparsamkeit und dachte deutschnational und versuchte mit den Dorfbewohnern einvernehmlich zu leben.
Mein Geburtstag fiel auf den 7. Dezember, zwei Tage nach dem Nikolausfest. Ich war deswegen als Kind oft unzufrieden, weil ich zum Geburtstag keine Geschenke bekam. Es hieß meist: „Du hast doch genug vom Nikolaus bekommen.“ Außerdem wurde ich öfters von meinen Geschwistern gehänselt: „Dich hat doch der Nikolaus im Sack auf die Welt gebracht.“ An so einen Blödsinn glaubte ich fast 10 Jahre lang.
Das Inflationsjahr 1923, so erzählte meine Mutter, war damals auch für die Landbevölkerung eine schlimme Zeit. Es herrschte allgemeine Hungersnot in Deutschland und große Arbeitslosigkeit. Außerdem hatte meine Mutter innerhalb von vier Jahren drei Kinder zur Welt gebracht, dass jede junge Frau sehr stark mitgenommen hätte. Die Heirat im Jahre 1919 mit meinem Vater stand auch unter keinem guten Vorzeichen. Meine Mutter stammte aus einer reichen Bauernfamilie. Wie ich nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfahren habe, ging es damals schon um Geld, das die junge Braut mit auf den Hof mitbringen sollte, damit mein Vater seine Geschwister „auszahlen“ konnte. Mein Vater wäre als Eigentümer nicht gerichtlich bestätigt worden, wenn er nicht schon vor der Verheiratung die Erbansprüche von seinen 5 Geschwistern geregelt hätte. Außerdem wurde ein „Auszug“ für meine Oma festgesetzt, der angeblich zu hoch gewesen sein sollte. Solche Erbstreitigkeiten haben es damals in vielen kinderreichen Familien gegeben.
Zum 1. April 1931 wurde ich in die achtklassige Volksschule in Altewalde eingeschult. An den ersten Schultag kann ich mich noch gut erinnern. Wegen der beginnenden Frühjahrsbestellung hatten meine Eltern keine Zeit für uns Kinder. Mein Bruder Walter musste notgedrungen „Ersatzvater“ spielen. Ich trottete hinter ihm her, gekleidet in eine neue, etwas zu groß geratene blaue Jacke mit weißen Messingknöpfen. Es herrschte warmes Frühlingswetter, und obwohl wir als Kinder Anfang April meist barfuß herum liefen, bekam ich für den Schulbesuch neue Turnschuhe. Niemand hatte mich vorher aufgeklärt, worin der Sinn des Schulbesuchs bestand. Ich hatte weder Heft noch Bleistift in der Hand gehabt, und Schreiben und Rechnen waren für mich unbekannt. Vom Bruder wurde ich in eine Schulklasse geführt, wo schon mehrere Jungen und Mädchen herumstanden oder auf einfachen Holzbänken saßen. Die Tür ging auf und ein streng ausschauender Lehrer begrüßte uns mit einem lauten „Guten Morgen“. Da ich der kleinste Junge meines Jahrgangs war, wurde ich in die erste Bank neben dem Lehrerpult geführt, und ich musste mich hinsetze. Dann wurden die Kinder nach ihren Namen gefragt. Als ich an der Reihe war, gab ich ängstlich zur Antwort: „Gerhard“.
„Und wie weiter?“ Fragte der Lehrer ungeduldig. Ich stotterte ein leises „Rieger“. „Setz dich“, lautete die knappe Antwort des Fragestellers. Ich hätte mich am liebsten unter der Bank versteckt, so schämte ich mich fürs Stottern und den blauen Anzug. Ich schaute weder nach rechts noch links, hörte kaum, was der Lehrer sagte und war froh, als ich wieder nach Haus gehen durfte. Nach ein paar Schultagen bekam ich meinen Spitznamen „Hannes von der Feuerwehr“, den ich noch viele Jahre behalten sollte. Es dauerte lange, bis ich mich mit einem Klassenkameraden anfreundete. Ich war zu schüchtern und zu ängstlich. Der erste Freund hieß Gerhard Görlich, er wohnte auch im Niederdorf, und ich ging mit ihm oftmals die Dorfstraße rauf und runter, entweder zur Schule oder in die Kirche. Erst nach zwei Monaten bekam ich einen gebrauchten Schultornister mit einem abgegriffenen Lesebuch, einer Schreibtafel und einem Stück Kreide. Wir mussten die vorgezeichneten Großbuchstaben von der Klassentafel abmalen und zu Haus fein säuberlich auf die Schiefertafel schreiben. Ebenso wurden uns die Zahlen erklärt. Von Natur aus war ich immer begierig, etwas Neues zu sehen und zu hören. Deswegen fiel es mir leicht, schreiben und lesen zu lernen. Als ich vom Lehrer gelobt wurde, dass ich schöne Buchstaben geschrieben hätte, wuchs mein Selbstwertgefühl beträchtlich. Von nun an ging ich gern in die Schule. Ich wollte immer nur lernen. Vom Arbeiten hielt ich nicht viel, da ich ein schwaches Kerlchen war und der Rücken mir öfters Schmerzen bereitete. Ich musste nämlich, so wie alle anderen Schulkinder bei den Erntearbeiten helfen. Weil ich, wie ich oben erwähnt habe, ein schwächliches Kind war, und mir die Arbeiten schwer gefallen, wollte ich lieber zur Schule gehen, und immer viel Neues lerne. Nur, ich stieß dabei auf Unverständnis bei meinen Geschwistern. Sie sahen nicht ein, dass ich von meinen Eltern zu den leichteren Tätigkeiten eingesetzt wurde. Das Lernen fiel mir leicht, mein Gedächtnis funktionierte gut, und ich wurde als ein schlaues Kind bezeichnet. Von den Rieger-Kindern ist Gerhard das schlaueste, wurde gelegentlich von der Verwandtschaft bei Familienfeiern erzählt. Während den Sommerferien wäre ich lieber zur Schule gegangen. Doch alle Dorfkinder mussten bei leichten Erntearbeiten mithelfen, oder notwendige Hausarbeiten verrichten. Schon mit 6 Jahren mussten wir Holz und Kohle herbeibringen. Wir mussten gut auf die Ofenheizung aufpassen, immer Brennmaterial nachlegen und darauf achten, dass nichts auf dem Ofen anbrannten. Meine Aufgabe bestand meist darin; im Hühnerstall und in der Scheune Eier zu sammeln, auf die Gänse aufzupassen, damit sie nicht auf die Straße liefen, Obst und Gemüse herbeizuschaffen, den Hofhund zu füttern, und noch manches andere. Für meinen Bruder Walter war das viel zu wenig. Doch meine Mutter beschützte mich öfters, wenn mich mein Bruder verhauen wollte. Auch verschonte mich meine Mutter, die mich liebevoll Gertlik nannte, von allen schweren Arbeiten. Ich musste für sie fast jeden Tag einkaufen gehe. Sie schickte mich oft zum Bäcker, um Brot und Kuchenteilchen zu holen. Dorthin fuhr ich gern mit dem Fahrrad, wobei ich ab und zu vom Bäckermeister Naschbonbons bekam, eine willkommene Abwechslung für unsere recht einfache, eintönige Bauernkost.
Schon die Marmelade vom Kaufmann war für uns Kinder eine Abwechslung. Sonst aßen wir als Brotaufstrich oft Butter oder Fett. Zum Mittagessen gab es meist Pellkartoffeln mit gekochtem Räucherfleisch. Am Freitag gab es Pfannkuchen oder Fischgerichte mit Kartoffelpüree. Am Mittagstisch saßen auch Magd und Knecht, die Mutter sprach das Tischgebet, vor und nach dem Essen, und wir Kinder mussten mit dem vorlieb nehmen, was uns auf den Teller gelegt wurde. Als Ausgleich hatten wir aber immer genug Obst und Gemüse. Entweder frisch aus dem Garten oder getrocknetes Obst. Meine Mutter hatte auch immer viel „Eingemachtes“ im Keller. Sonntags machte Mutter meistens Klöße aus gekochten Kartoffeln und Weizenmehl. Dazu gab es Braten oder „besseres“ Fleisch aus der eigenen Hausschlachtung. Im Winter, zur Faschingszeit, auch zur Kirmes im Herbst, wurde jedes Mal ein großes fettes Schwein geschlachtet. Der Hausschlachter stellte gute und schmackhafte Wurstwaren her, die teilweise eingekocht oder geräuchert wurden. Für uns Kinder waren die Schweineschlachten eine willkommene Abwechslung. Ein Teil vom Schlachtfest wickelte meine Mutter in kleine Päckchen, die wir Kinder den Nachbarn, dem Lehrer, dem Pfarrer und Freunden hinbringen durften. Wir erhielten dafür oft ein kleines Taschengeld, wofür wir uns das kaufen konnten, was uns Spaß machte. Für die Mithilfe in der Erntezeit erhielt ich 5 Mark, eine große Summe. Damals kaufte ich mir schon Romanhefte für 10 Pfennige das Stück. Mit 12 Jahren las ich bereits regelmäßig das Neisser Tageblatt, löste leichte Kreuzworträtsel und habe mich riesig gefreut, wenn mein Name unter den richtigen Einsendern erwähnt wurde. Schon 1933 kaufte mein Vater ein Radio, einen Volksempfänger, der für uns Kinder die Neuigkeiten aus aller Welt brachte. Auch Musiksendungen waren damals schon sehr beliebt. Wir hatten auch einen kleinen Plattenspieler, den man mit der Handkurbel aufziehe musste. Meine Mutter hatte die Stadt Gottes abonniert; sie kam monatlich einmal aus Trier. Für mich war diese Zeitschrift eine Fundgrube für allerlei Kuriositäten aus der ganzen Welt. Meine Volksschulzeit genoss ich unbeschwert und gewann mit der Zeit mehr Freunde. Wenn ich nur konnte, lief ich zu ihnen, wo ich Trost und Verständnis fand, was mir zu Hause zu wenig entgegengebracht wurde. In Erinnerung sind mir drei Dorfjungen geblieben: das war mein Freund Gerhard Görlich, der im Krieg gefallen ist. Was aus Josef Wilde und Karl Rieger geworden ist, konnte ich bis heute nicht erfahren. Während der Schulzeit ging meine Schulklasse öfters mit dem jugendlich aussehenden Lehrer Benke, einem passionierten Jäger, in den nahen Wald, um Erdkunde in der freien Natur zu erleben. Einmal durfte ich sogar sein Jagdglas tragen, eine Auszeichnung für einen schmächtigen, schüchternen Jungen. Jedes Jahr wurden die so genannten Wandertage oder besseren Schulausflüge organisiert. Mein Vater stellte zweimal einen großen Leiterwagen bereit, der mit Sitzplätzen ausgestattet und Maiengrün geschmückt, uns Kindern wie ein Vehikel aus einer anderen Welt vorkam.
Der bunt aussehende Leiterwagen wurde von zwei starken Pferden gezogen, brachte die ganze Schulklasse zum nahen Städtchen Ziegenhals, wo sie im neu erbauten Volksbad einen schönen Tag verlebte. Mit zwölf Jahren interessierte ich mich sehr für den Sport. Im Jahre 1936 fanden die Olympischen Spiele in Berlin statt. Ich verfolgte mit Begeisterung die Mannschaftskämpfe im imposant erbauten Olympiastadion. Dass dabei die nationalsozialistische Propaganda eine Rolle spielte, wurde mir erst später bewusst. Aus unserem Volksempfänger wurden tagtäglich die großen Erfolge der deutschen Sportler verkündet. Die Zeitungen rühmten deutschen Ehrgeiz und deutsche Tüchtigkeit, so dass uns Jungens eingetrichtert wurde, nur der Deutsche ist der bessere Sportler, der Sieger auf vielen Gebieten. Niemals später konnte ich mich mehr für sportliche Ereignisse mehr begeistern, wie damals in meiner frühesten Jugendzeit. Manche Namen von berühmten Sportlern sind mir bis heute im Gedächtnis haften geblieben. Die Schultage in Altewalde habe ich als eine gute und schöne Zeit empfunden.
Mit den Schularbeiten hatte ich keine Schwierigkeiten, ich interessierte mich für Erdkunde, Geschichte. Deutsch und Rechnen. Nur das Turnen fiel mir nicht leicht, ich habe niemals ein Sportabzeichen errungen, das ich sehr gerne getragen hätte. Strafarbeiten oder Nachsitzen kannte ich nicht, und fast hätte ich die ganze Volksschulzeit ohne Strafe hinter mich gebracht, wenn ich nicht durch eine unliebsame Begebenheit aufgefallen wäre. Die folgende Begebenheit habe ich bis heute nicht vergessen. Im Erdkundeunterricht erklärte uns der Lehrer die Grundbegriffe über Wachsen und Gedeihen von Pflanzen verschiedener Arten. Um uns Keimen von Getreide zu demonstrieren, sollten wir zu Hause einige Weizenkörner in einem Wasserglas zum Wachsen bringen und nach einer Woche die gekeimten Körner vorzeigen. Da ich befürchtete, dass daheim meine Körner von frei herumlaufenden Hühnern gefressen werden, brachte ich eine Handvoll Weizen mit in die Klasse und steckte sie in ein leeres Tintenfässchen, das mit Wasser gefüllt war. Die Weizenkörner quollen auf, sie fingen an zu keimen, und die Sache wäre gut gelaufen, wenn ich nicht verpetzt worden wäre. Mein Klassenlehrer erfuhr von meinem eigenmächtigen Weizenkeimversuch in der Schulklasse und schrieb in seine Klassenkladde: Rieger 1 auf die Hand. Es kam öfters vor, dass schlechte Schüler mit dem Rohrstock geschlagen wurden, dass bei manchen wenig nutzte. Denn es gab faule und geistig schwache Jungens, die manchen Schlag mit der Rute auf den Hosenboden oder auf die Hand verdient hatten, aber sich nicht besserten. Dieser Schlag auf die Hand hatte mir sehr weh getan und ich habe mir vorgenommen, alles zu vermeiden, um nicht mehr geschlagen zu werden.
Mit zehn Jahren trat ich freiwillig der Hitlerjugend bei. Ich lernte marschieren, Geländespiele veranstalten, vaterländische Lieder singen und vieles mehr. Einmal in der Woche hatten wir Heimabend, und mein Vater sah es gern, wenn mein Bruder Walter und ich als Pimpfe, im braunen Hemd und schwarzer Hose, stramm vor ihm standen. Wie viele andere Männer seiner Generation wurde mein Vater ein Opfer der massiven Propaganda. Er war überzeugt, dass Deutschland eine starke Führung brauche. Die Erfolge sprachen ja auch damals für sich. Aus den unruhigen Zeiten während der Weimarer Republik mit über sieben Millionen Arbeitslosen, wurde in kurzer Zeit ein straff organisierter Staat geschaffen, in dem niemand zu hungern oder zu frieren brauchte. Die Kriminalität war verschwunden, oder sie wurde totgeschwiegen. Die Presse brachte nur Erfolgsmeldungen über die Befreiung des deutschen Volkes von den Unterdrückungen vom Versailler Vertrag. Als das Saarland im Jahre 1935 befreit, später Österreich ins Reich heim geholt und das Sudetenland besetzt wurde, waren dies Ereignisse, die viele deutsche Männer und Frauen mit Stolz und Genugtuung erfüllten. Sogar meine Mutter wirkte in der deutschen Frauenschaft, sie veranstaltete Kochkurse, es wurden Baby-Beratungsstellen eingerichtet, Versammlungen wurden abgehalten, Ausflüge veranstaltet, und ob Mann oder Frau, alle wurden vom neuen Zeitgeist erfasst und entsprechend um erzogen. Kaum einer erkannte die wahren Absichten der braunen Bewegung, im Gegenteil, viele hoch verschuldeten Bauern atmeten auf, als ihnen vom Staat die Schulden bei den Juden erlassen wurden. Die kinderreichen Mütter erhielten Ehrenabzeichen und verschiedene Vergünstigungen, die sie zur Treue und Dankbarkeit dem Staat gegenüber verpflichteten.
An meinem zwölften Geburtstag hatte es mich gesundheitlich arg erwischt. Der vorzeitige Wintereinbruch hatte den Dorfbach zum Einfrieren gebracht und wir Kinder, soweit schon jemand Schlittschuhe besaß, vergnügten uns mit Schlittschuh laufen auf dem zugefrorenen Bach. Plötzlich, ehe ich es vermeiden konnte, war ich an einer dünn gefrorenen Stelle eingebrochen. Mit beiden Füßen steckte ich im kalten Wasser und fror erbärmlich. Als ich nach Hause kam, ich hatte meinen Eltern nichts vom Malheur erzählt, versuchte ich mich im Bett zu erwärmen. Doch ich hatte mir eine schlimme Erkältung zugezogen. Ich bekam Fieber, schwitzte unbeschreiblich, und mit heißem Lindenblütentee versuchte meine Mama mich wieder gesund zu bekommen. Ich wurde gesund, aber mit einer jahrelang anhaltenden Mittelohrentzündung. In Altewalde befand sich nahe der Schule eine Erste-Hilfe-Schwesternstation. Dort gab jemand meinem Vater den Ratschlag, mit Wasserstoff und Höllenstein mein eiterndes Ohr auszuteilen. Doch es wurde nicht besser. Erst nach etwa 20 Jahren, als verheirateter Mann und nach einer Mittelohrtotaloperation, gelang es Ärzten, das Eitern zu stoppen. Leider höre ich seit dieser Zeit schlecht, fast nur noch auf einem Ohr. Sogar heute noch muss ich vierteljährlich den Ohrenarzt aufsuchen, um ein erneutes Erkranken des Ohres vorzubeugen.
Im Jahr nach der Erkrankung gab es große, kalte und lang anhaltende Schneefälle. Von meinen Eltern hatte ich ein paar Kinderskier bekommen, die ich natürlich ausprobierte. In meinem Heimatdorf gab es genug kleine Hügel, und ich kann mich erinnern, dass wir uns als Kinder tagelang auf den Brettern vergnügten. Ich meine, dass die Winter mit regelmäßigem Schneefall in unserer schlesischen Heimat viel strenger waren als hier im Rheinland.
Auch im Sommer war es lang anhaltend warm, und wir Kinder liefen wochenlang barfuß in die Schule. Über das Hitzefrei haben sich natürlich die Schulkinder am meisten gefreut. Ich erinnere mich, dass die Jahre 1934 bis 1939 wettermäßig einmalig schön waren. Es wuchs und gedieh alles gut auf den Feldern, die Bauern brachten reiche Ernten ein, und es ging vielen von Jahr zu Jahr spürbar besser. Jedes Jahr wurde zur Herbstzeit ein großes Erntedankfest gefeiert. In einem Gastwirtschaftssaal fand eine Feier statt, zu der die ganze Dorfgemeinschaft eingeladen wurde.
Ich erinnere mich, es muss das Jahr 1938 gewesen sein, dass mein Vater in brauner Uniform eine Rede hielt. Er lobte die Errungenschaften der NS-Regierung, die für stabile Absatzpreise sorgte und den Bauern viele Vergünstigungen einräumte. Ich spielte damals in einer Jungvolk-Spielgruppe leidlich Querflöte. Diese Gruppe hatte die Aufgabe, mit ihrem Können die Anwesenden auf dem Erntedankfest zu unterhalten. Zweimal marschierten etwa zehn Jungens, alle mit der Flöte am Mund, durch den Saal und spielten ein Marschlied, das mit Applaus bedacht wurde. Im Herbst fanden auch die so genannten Haferfahnveranstaltungen statt, die von jung und alt bejubelt wurden. Die Umzüge mit geschmückten Pferdewagen und größeren Handwagen, mit Musikbegleitung und bunt verkleideten Kindern, schlängelten sich langsam durch das Dorf. Die Kinder sammelten mit selbst gebastelten Büchsen Geld, das allgemeine Heiterkeit hervorrief. Am selben Abend fand dann ein Tanzvergnügen im Saal statt, woran die reifere Dorfjugend und auch viele ältere Dorfbewohner teilnahmen. Diese Tanzveranstaltungen dienten teilweise als „Heiratsmarkt“, wobei die heiratsfähigen jungen Burschen ihre Mädchen näher kennen lernten. Im Sommer gab es zum 21.Juni ein großes Sommersonnenwendefest. Dafür sammelten mehrere Bauernburschen bei den Dorfbewohnern Holz. Das gesammelte Holz wurde auf dem Sportplatz aufgeschichtet, und abends, wenn es dunkel geworden war, wurde der Stapel angezündet. Das Feuer loderte weithin sichtbar, es wurde dazu gesungen und getanzt.
Auf dem Sportplatz fanden der Öfteren Veranstaltungen, Wettkämpfe und auch kleine Fußballwettspiele statt. An einem solchen Spiel nahm ich als aktiver Spieler teil; es kämpfte die Dorfjungen von Altewalde gegen Neuwalde. Wer damals gewonnen oder verloren hatte, das weiß ich nicht mehr. Zu den Osterfeiertagen gab es einen Brauch, den wir Kinder mit Staunen verfolgten und teilweise selbst daran teilnahmen. Mein Vater fertigte am Gründonnerstag mehrere kleine Holzkreuzchen an und erzählte mir, man müsse diese Kreuzchen auf einem Weizenfeld einstecken, in einer Dreierreihe. Diese Mahnzeichen sollten zu einer guten Ernte führen. Wenn man am Ostersonntagmorgen vor dem Sonnenaufgang aufs Feld ginge, dann könne man ein Osterlamm herum springen sehen. Ich habe mir manchmal gewünscht, so ein Lamm zu sehen, aber es niemals wirklich gesehen. Als vielleicht 8-jähriger Junge habe ich mit einer Osterrute (ein aus Weidenruten geflochtener Stab) und einem kleinen Körbchen ausgestattet, Nachbarn und gute Bekannte besucht, und an der Haustür den Spruch: „Ostern, Schmack-Ostern, gib's Malei her“ aufgesagt. Danach wünschte ich den Leuten „Frohe Ostern“. Dazu muss ich erklären, dass zu Ostern natürlich viele gekochte Eier gefärbt wurden, die teilweise an die „frohe Ostern“ wünschenden Kinder verschenkt, oder für die eigenen Kinder versteckt wurden. Das Ostereiersuchen erfreute die Dorfjugend ungemein. Meist waren die Ostereiernester hinter Bäumen und Büschen im Garten versteckt, und die Suche war eine frohe Beschäftigung für alle Kinder, ob groß oder klein. Dass dazu auch andere kleine Geschenke wie Malhefte oder Eier aus Schokolade gefunden wurden, störte uns gar nicht, im Gegenteil, wir waren froh darüber. In der Schule wurde dann lange darüber diskutiert, wer, wo, wann, wie viele Eier gefunden hatten, und wo sie der Osterhase überall versteckt hatte.
Vor der Osterzeit rief der Dorfpfarrer die Gläubigen zu Feldbittgängen auf, die eine gute Ernte sichern sollten. In einer langen Prozession mit dem Allerheiligsten, vom Pfarrer unter einem Baldachin getragen, gingen schön geordnet, mehrere Ministranten mit Kreuz und Fahnen an der Spitze des langen Zuges. Dahinter schlossen sich die Kinder aus den einzelnen Schulklassen an, danach Frauen und Männer mit feierlichem Gesang. Der Bittzug ging von der Kirche hinaus auf die Gemeindefelder, vorbei an mehreren Kapellen, die alle schön geschmückt waren. Die Kirchenglocken läuteten fast pausenlos, und der würdevoll dahin schreitende Pfarrer verteilte den Kirchensegen an Gläubige, an Vieh und Felder. So eine Prozession strahlte etwas Erhabenes aus, man fühlte sich stark in der Menge von Christen und war überzeugt, dass nur die Katholiken, die gute Menschen sein konnten. Die Häuser an denen der Prozessionszug vorbeiging, waren alle sauber hergerichtet worden. In den Fenstern waren Heiligenbilder und Kerzen aufgestellt worden.
Wenn die Osterzeit für uns Kinder mit Fröhlichkeit verbunden war, so war das Nikolausfest weniger beliebt. Das Einzige, was uns daran erfreute, waren die eventuell zu erwartenden Geschenke. Dass man dafür auch etwas leisten musste, war unangenehm, manchmal sogar gefürchtet. Man musste ein Gebet aufsagen könne, man wurde nach dem Betragen gefragt, nach den Schulzeugnissen und vieles mehr. Besonders die Möglichkeit, über die Rute springen zu müssen, wurde ängstlich befürchtet. Mein Vater verstand es, für uns Kinder immer ein schönes Nikolausfest zu organisieren. Wie ich später erfahren habe, war mein Onkel Karl als Nikolaus mit Bart und Mantel verkleidet mit dem Sack voller Geschenke, der gefürchtete Mann. Das nachfolgende Weihnachtsfest wurde immer mit Sehnsucht und Freuden erwartet. Aus dem eigenen Waldgrundstück wurde ein großer Tannenbaum geholt, den heimlich meine Mutter und die älteren Geschwister schmückten. Die gute Stube, der größte Raum, nur für Gästeempfänge bestimmt, war die meiste Zeit des Jahres verschlossen und diente nur einmal im Jahr als Weihnachtsfeiertagsstube. Dort stand der bunt mit Lametta und Kugeln geschmückten Weihnachtsbaum. Auf der Spitze ein goldener Stern, echte Wachskerzen, die geheimnisvoll flackerten, unter dem Baum die einzelnen Geschenke in schönes Papier verpacken. Das alles bildete den Rahmen für eine frohe, unbeschwerte Familienweihnachtsfeier. Wir Kinder erwarteten ungeduldig den ersten Abendstern, denn dann, so glaubten wir, kann das Christkind mit den Geschenken kommen. Wir mussten uns zum Empfang des Christkindes sauber waschen, gute Sachen anziehen und uns still verhalten. Wir lauschten auf das Klingelzeichen des Christkindes, dann stürmten wir ungestüm in die gute Stube.
Wie groß strahlten die Kinderaugen, voller Überraschung und Glückseligkeit, als der hell erleuchtete Christbaum mit dem gedeckten Abendessentisch sichtbar wurde. Zuerst suchte jedes Kind sein Päckchen, packte es schnell aus, um nachzusehen, ob das gewünschte Spielzeug auch wirklich drin war. Meist wurden unsere Kinderwünsche erfüllt, denn wie ich schon eingangs erwähnte, waren meine Eltern nicht arm und geizten nicht, wenn es darum ging, Kindern eine Freude zu bereiten.
Nach meinem zehnten Geburtstag erhielt ich seltsamerweise vom Christkind eine neue HJ-Pimpfuniform, ein braunes Hemd, schwarze Hose, Koppel und die lang ersehnte Querflöte. Zum Weihnachtsessen gab es mindestens drei Gänge.
Vor dem Essen wurde das Weihnachtslied „Ihr Kindelein kommet, o kommet doch all“ gesungen. Mama füllte die Festtagsteller mit einer schmackhaften Fischsuppe. Dann bekam jedes Kind Mohnklöße, soviel es wollte. Ferner wurde jedes eine Stück von der weißen Wurst auf den Teller gelegt. Wenn das gegessen war, bekam jeder noch Weihnachtsplätzchen und heißen Lindenblütentee serviert.
Mein Vater und die Erwachsenen tranken einen scharfen, heißen Rum-Grog, der in sauber geputzten Kristallgläsern funkelte. Es wurde viel erzählt, gelacht und gescherzt. Die Kerzen flackerten auf dem Baum, und wir Kinder konnten Wunderkerzen anzünden, die ein gleißendes Licht verbreiteten. Von den Dämpfen und Gerüchen füllte sich das Zimmer bald mit wohlriechenden Düften und wenn der Vater etwas leutselig das Lied: „O Tannenbaum, o Tannenbaum“ und das Lied „alle Jahre wieder, kommt das Christuskind“ anstimmte, klang es laut von den bildergeschmückten Wänden. Es war eine helle Freude, an so einer Feier teilzunehmen. Nach dem opulenten Abendessen gingen die Erwachsenen und ältere Kinder gemeinsam zur Christmette, die meist um 8 Uhr abends zelebriert wurde. In der Kirche versammelte sich eine Unzahl von froh gestimmten Christen. Der Kirchenchor intonierte die alten Weihnachtslieder, und alle Kirchgänger stimmten aus voller Brust ein. Die Kirche war auch übermäßig mit Lametta geschmückten Tannenbäumen verzaubert, viele große und kleine Wachskerzen brannten, der Küster musste aufpassen, dass keine ausgingen, oder was schlimmer gewesen wäre, wenn etwas Feuer gefangen hätte. Wenn wir zur späten Nachtstunde meist durch tiefen Schnee heimwärts stampften, brannten in vielen Häusern die Christbäume und tauchten die Dorfstraße in helles Licht, was sonst nicht der Fall war. Am zweiten Weihnachtsfeiertag gingen wir wieder in die Kirche. Danach gab es gutes Mittagessen meist mit Schweinebraten und Klößen und einer Hühnersuppe als Vorspeise. Oftmals kamen am Nachmittag nahe oder ferne Verwandte, die uns Kindern auch noch Geschenke vom Christkind brachten. Wir Kinder nahmen alles dankbar an und waren überglücklich, solch frohe und gesunde Weihnachtsfeiertage verlebt zu haben. Die Weihnachtsferien dauerten meist bis Mitte Januar, eine herrliche Zeit, Wenn draußen schon tiefer Schnee lag, und wir tagsüber uns mit Schlitten vergnügen konnten. Ich kann mich erinnern, dass ich nach einem Weihnachtsfeiertag versucht hatte, unseren großen Hofhund vor den Schlitten zu spannen und mich ziehen zu lassen. Das Schlittenfahren bereitete uns große Freude, wenn viele Kinder auf einem Abhang sich versammelten, und um die wette rodelten. Eine Sprungschanze, über die man fahren sollte, wurde als Mutprobe gewertet.
Zu Silvester und Neujahr war es nicht so toll. Das einzige, was mich dabei faszinierte, war das so genannte Christkindlschießen, besser gesagt, das Neujahr einschießen. Mein damals noch lediger Onkel Karl besaß ein 6 mm-Gewehr, womit er manchmal die vielen Sperlinge dezimierte. Am letzten Abend des Jahres stellte sich der Onkel auf einen Hügel im Garten und schoss mit lautem Knall in die Luft. Das Echo kam von anderen „Neujahrseinschießern“ und es knallte laut bis tief in die Nacht hinein. Neujahr war ein großer Feiertag, verbunden mit Kirchgang und gutem Essen.
Zur Faschingszeit oder Karneval, wie man es im Rheinland feiert, ging es nicht so hoch jauchzend zu. Es wurde auch während der Hausfeiern gut gegessen und getrunken, aber einen Karnevalsumzug gab es nicht. Dafür wurde in dieser Zeit oftmals ein Schwein geschlachtet, unsere Mama backte große Schüsseln voller „Hobelspäne“ und mit Marmelade gefüllte Krapfen, die immer wieder gerne gegessen wurden. Frauen und ältere Mädchen kamen zu gegenseitigem „Federschleißen“ zusammen. Die im Laufe des Jahres gesammelten Federn, der fast auf jedem Bauernhof gehaltenen Gänse, wurden gemeinsam geschlissen und dabei die Dorfneuigkeiten ausgetauscht. Mein Vater und der Knecht hackten Holz, fertigten Rechen und Besen an, oder knüpften aus Roggenstroh Unmengen von Getreideseilen. Sie verrichteten kleine Reparaturen an Haus, Hof und Wagen, damit alles wieder fürs neue Wirtschaftsjahr vorbereitet war.
Der Winter war oft voller Schneeverwehungen, wir Kinder mussten auch mithelfen, Gänge und Wege schneefrei zu schaufeln, was uns großen Spaß bereitete. Noch mehr Spaß hatten wir, wenn der Vater den großen Pferdeschlitten einspannte und uns Kinder im Dorf rauf und runter spazieren fuhr. Die Pferde sollten bewegt werden, sie bimmelten mit den am Hals befestigten Glöckchen, und wir Kinder klammerten uns auch an fremde Schlitten, um uns durch das Dorf ziehen zu lassen, am liebsten mit angebundenem eigenen Rodelschlitten. So verging schnell die kalte Winterzeit, und wenn die Schneeschmelze einsetzte, war das Frühlingserwachen nicht mehr weit. Es begann für die Dorfjugend die schönste Zeit, auch wenn sie im Sommer mit viel Arbeit verbunden war. So vergingen meine sorgenfrei verlebten Schuljahre als ich mich im Alter von 6 bis 14 Jahren befand. Dazu muss ich noch erwähnen, dass ich mit zehn Jahren das erste Mal zur heiligen Kommunion gehen durfte, besser gesagt, gehen musste. Ich fand die Kirchgänge nie besonders interessant und wunderte mich über Leute, wie sie andächtig und geduldig auf Kirchenbänken saßen und überlange Predigten des Pfarrers anhörten. Doch es gab kein Entrinnen. Alle Kinder wurden nach Jahrgängen geordnet vom Pfarrer im Religionsunterricht auf die große Feierlichkeit vorbereitet. Es gab noch den Kommunionunterricht, der uns besonders viel von Christenliebe und Keuschheit beibringen sollte. Doch schon mit 10 Jahren hatte ich meine Gedanken oftmals woanders, und als es hieß, es muss gebeichtet werden, da schrieb ich auf meinen Ablesezettel: „...ich habe unkeusche Gedanken gehabt, ich habe nicht immer gebetet, ich habe geflucht, ich war nicht immer meinen Eltern gehorsam, ich habe mich mit meinen Geschwistern gezankt“ usw. usw. Jedenfalls, ich bekam einen neuen dunklen Kommunionanzug, neue Schuhe, ein weißes Hemd, eine Kerze, ein eigenes Gebetbuch und einen Rosenkranz. Dazu musste ich das Vaterunser auswendig könne, die Zehn Gebote wissen und immer daran denken, dass es Himmel und Hölle gibt, die einen gläubigen Christen belohnen oder bestrafen werden. Dass es gottlose oder andersgläubige Menschen geben sollte, das waren für uns Kinder unvorstellbar. Zur Kommunionfeier erschienen meine Patentante mit meinem Patenonkel und mehrere nahe Verwandte. Diese verfolgten mich in der Kirche mit kritischen Augen, ob ich auch gerade und andächtig zur Kommunionbank ging. Kein gutes Gefühl für einen zehnjährigen schüchternen Dorfjungen. Meine Eltern hatten Haus und Hof geschmückt, gutes Essen wurde den Gästen vorgesetzt, und als ich außer einer Taschenuhr noch Geldgeschenke von meinen Verwandten erhielt, war ich mit der Feier meines Ehrentages höchst zufrieden.
Ehe ich mich den weiteren Erlebnissen aus meiner Jugendzeit zuwende, möchte ich vorab kurz erwähnen, dass mein Verhältnis zu den Geschwistern nicht problemlos war. Sie beobachteten mich argwöhnisch, weil ich oft von den Eltern als krankes Kind verwöhnt worden war. Ich galt als kleiner Junge schon oft als Einzelgänger und hatte Schwierigkeiten, Freunde zu finden. Als ich älter geworden war, fuhr ich allein mit dem Fahrrad in die Kreisstadt, um etwas einzukaufen, oder auch mal ins Kino zu gehen.
Manchmal besuchte ich auch das Neisser Stadttheater. Ich kann mich noch an Operettenaufführungen wie „Maske in Blau“ erinnern, die ich das erste Mal voller ungläubigem Staunen verfolgte. Theater und Kino faszinierten mich immer. Für das gab ich mein sauer verdientes Taschengeld aus. Meine Eltern unterstützten mich großzügig, wenn ich wieder mal ins Theater gehen wollte.
Da ich mich immer zu schwach und unterernährt fühlte, versuchte ich mehr zu essen, um an Gewicht zuzunehmen. Ich konnte damals rohe Eier verspeisen, die ich mir heimlich aus dem Hühnerstall holte. Manchmal schnitt ich mir ein Stück Speck ab und aß es nebenbei, weil ich auch so groß und so stark werden wollte, wie mein Bruder Walter.
Meinem Vater muss ich besonders dafür danken, dass er rechtzeitig erkannte, dass mein Rachitisgeschwächtes Rückgrat seitlich verkrümmt wuchs. Die Ursache für meine Rückgratverkrümmung lag im langen Herumtragen des Kleinkindes durch meine Oma im Wachstumsalter. So wie ich im Tragetuch eingewickelt lag, so wuchs ich auch auf, wovon ich mich im ganzen späteren Leben nie wieder richtig erholen konnte. Deshalb schickte mich mein Vater regelmäßig zu den im Dorf wohnenden Ordensschwestern, die mit solchen Jugendlichen wie ich, Heilgymnastikübungen durchführte.
Zur Unterstützung meiner Heilbehandlung fuhren mein Vater und ich öfters auf Fahrrädern nach Ziegenhals zu einem „Wunderdoktor“. Dieser Mann, ein ehemaliger älterer Friseurmeister, hatte meinem Vater weisgemacht, dass er meinen gekrümmten Rücken mit Ziegenfett und Rindertalg gerade massieren könnte. Die Massageminuten waren für mich oft schmerzlich, aber einen Erfolg brachten sie nicht. Trotzdem muss ich die Bemühungen meines Vaters im Nachhinein hoch anerkennen, wenn er sich trotz vieler Arbeit und Nebentätigkeiten die Zeit für mich nahm, um meinen Gesundheitszustand zu verbessern. Unter der Rückgratverkrümmung habe ich als junger Mensch sehr gelitten, ich habe mich geschämt, mit nacktem Oberkörper herumzulaufen. Da durch diese Krankheit mein Wachstum gelitten hatte, bin ich relativ klein geblieben. Ich wäre gern wenigstens 165 cm groß geworden, was ich aber nie erreicht habe. Erst mit 18 Jahren habe ich meine Behinderung als Glück empfunden, denn in diesem Alter wurden fast alle meine Freunde und Schulkameraden zum Militär eingezogen. Ich wurde vom Wehrdienst zurückgestellt und konnte weiter auf die höhere Schule gehen. Dieses habe ich auch meinem Vater zu verdanken, denn als ich 14 Jahre alt war und mit einem guten Schulzeugnis aus der Volksschule entlassen worden war, stellte sich für mich die Frage, welchen Beruf werde ich einmal ausüben. Da ich meine körperlichen Fähigkeiten kannte, wäre ich am liebsten Uhrmacher geworden, dort, so dachte ich, brauche ich nicht schwer zu arbeiten und die Technik war für mich von Kindheit an immer interessant gewesen. Doch der Hauptlehrer schlug meinem Vater vor, der Junge ist so schlau, er könnte eine höhere Schule besuchen. Nach einem ausführlichen Gespräch mit dem Lehrer und mit mir beschloss mein Vater, mich, wie er es nannte, „studieren“ zu lassen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Gedanken mich damals bewegten. Zu viel Neues stürzte auf mich ein. Ich musste nun anfangen, selbständig zu denken und zu handeln.
Nach einer Volksschulabschlussfeier in ein katholisches Kloster in Ziegenhals, wo wir sehr gutes Essen bekamen, wurde uns eindringlich ans Herz gelegt, das neue Leben nach der Schulzeit christlich und anständig zu führen. Wir sollten regelmäßig die Kirche besuchen, die Zehn Gebote beachten und unser Leben gegenüber Gott und dem Vaterland mit dem nötigen Respekt führen. Zu dieser Feierstunde waren über hundert junge Mädchen und Jungen eingeladen worden, auch aus anderen Dörfern. Ich erlebte ein Gefühl der Dankbarkeit meinen Eltern gegenüber, das ich in den späteren Jahren nie mehr erlebt habe. Ich verabschiedete mich von meinen Freunden und Schulkameraden, die meistens handwerkliche Berufe erlernen wollten wie zum Beispiel Schlosser oder Gärtner.
Zum Besuch der Aufbauschule für Jungen und Mädchen in Ziegenhals, einem kleinen Städtchen am Rande des Sudetengebirges, waren nur Felix Paul, Alois Weißer und ich ausgewählt worden. Ich bekam ein neues Fahrrad, eine Lederschultasche für 5 Mark, einen neuen Schulanzug, und nach den Osterferien im Jahre 1939 fuhren mein Vater und ich mit dem Zug von Deutsch-Wette nach Ziegenhals zur Eröffnungsfeier des neuen Schuljahres. Ich kann mich noch erinnern, wie mein Vater mich ins Direktorenzimmer führte, ein lautes Heil Hitler ausrief, und die nötigen Formalitäten erledigte für den Beginn meiner fast 5-jährigen Zeit während ich das Gymnasium besuchte.
In der großen Schulaula waren ca. 500 Mädchen und Jungen versammelt. Es wurden Gedichte vorgetragen und auch Lieder gesungen. Ich war ergriffen von der Feierlichkeit, die ich miterleben durfte und fühlte mich leicht benommen. Krampfhaft habe ich mir die Nummer und die Lage meines Schulzimmers eingeprägt, in dem ich mich am nächsten Morgen, früh um acht Uhr einfinden sollte. Nach der Rückfahrt von der Eröffnungsfeier kaufte mir mein Vater am Bahnhof in Deutsch-Wette eine Schülermonatskarte für 4 Reichsmark. Eine braune Schülermütze für die Klasse 3b bekam ich auch, und ich war stolz wie ein kleiner König, ins Gymnasium gehen zu dürfen. Hauptsächlich auch deswegen, weil ich nicht mehr zu Hause so viel arbeiten musste.
Doch der Schulanfang sollte nicht so einfach werden. Ich kam mit Schülern und Schülerinnen in eine Klasse, die schon zwei Jahre in eine Gymnasialklasse gegangen waren. Sie kannten Begriffe lateinischen Ursprungs wie Plus und Minus oder Orthographie. Davon hatte ich in Altewalde nie etwas gehört. Mehr schlecht als recht versuchte ich den Lehrer zu verstehen, was mir nur schwer gelang. Außerdem hatte ich als Fremdsprache sofort Englisch, und ich musste höllisch aufpassen, um überhaupt zu verstehen, was gerade vorgetragen wurde. Ich hatte mit allen Fächern Schwierigkeiten, außer im Religions-Zeichen- und Musikunterricht. Mein Klassenlehrer ließ meinen Vater zu sich kommen und riet ihm, mir Nachhilfestunden zu geben, sonst wäre meine Versetzung in die Klasse Vier gefährdet.
Es ergab sich als sehr günstig, dass zu dieser Zeit in Altewalde ein Schüler aus dem Oberdorf, namens Johannes Hoheisel schon die Klasse Fünf meiner Aufbauschule besuchte. Mein Vater bat ihn, mir die nötigen Hilfestellungen zu geben, damit ich die dritte Klasse nicht wiederholen müsste. Das geschah auch, ich ging vielleicht acht Mal zu den Nachhilfestunden, die mir sehr geholfen haben. Dieser ältere Schüler, der spätere Prior vom Kloster Wimpfen, erklärte mir alle nötigen lateinischen Ausdrücke, die in der höheren Schule gebraucht wurden. Von da an, ging es mir im Unterricht besser. Zum Frühjahr wurde ich in die vierte Klasse versetzt, ein großer Erfolg nach meinen bis dahin schwachen Schulleistungen. Das erste Schuljahr in Ziegenhals war für mich nicht einfach, zumal ich als Fahrschüler schon früh um Viertel vor Sieben mit dem Fahrrad los fuhr. Den Bahnhof in Deutsch-Wette erreichte ich nach etwa zwanzig Minuten, der Bummelzug fuhr pünktlich um 15 Minuten nach Sieben ab. Am Stadtbahnhof in Ziegenhals waren wir Fahrschüler dann nach zwanzig Minuten. Vom Bahnhof liefen wir noch zehn Minuten zu Fuß bis zur Penne, wie wir die Aufbauschule nannten. Mit mir fuhren unterschiedlich 6 bis 7 Schüler tagtäglich. Mit der Zeit bildete sich eine kameradschaftliche Fahrgemeinschaft heraus.
Der erste Kriegswinter 1939/40 zeigte sich von einer relativ milden Seite, trotzdem war es kein Vergnügen, mit einem Knabenfahrrad bei Wind und Wetter pünktlich den Schülerzug zu erreichen. Ich kann mich erinnern, als im Februar 1940 große Schneefälle einsetzten, dass mein Papa frühzeitig den großen Pferdeschlitten einspannte und mich zum Bahnhof brachte. Zurück bin ich vier Kilometer allein nach Hause in einer guten halben Stunde gelaufen. Gott sei Dank besserten sich nach ein paar Tagen die Wetterbedingungen, und ich konnte wieder mit dem Fahrrad fahren, das ich unverschlossen am Bahnhof abstellte. Als in der vierten Klasse immer mehr von uns Schülern verlangt wurde, meldete mich mein Vater bei einer Familie an, wo ich ein kleines „Studierzimmer“ bewohnte. Ich kann mich erinnern, eine junge Familie Schönfelder hatte an der Sudetenblickstraße Nr.2 ein kleines Siedlungshaus neu erbaut. Die nette Frau, deren Mann zum Militär eingezogen worden war, hatte 2 kleine Kinder, die mich kaum störten. Zum Grundstück gehörte ein großer Garten mit Obstbäumen und einem Gemüsegarten. In einem Stall gackerten 4 weiße Hühner und ein paar Kaninchen lieferten ab und zu ihr Fleisch an besonderen Feiertagen. Ich wohnte bei der Familie Schönfelder mehrere Jahre, mein Vater zahlte pünktlich 40 Mark Kostgeld und ich kann sagen, dass ich ab meinem fünfzehnten Lebensjahr nie wieder richtig für längere Zeit in Altewalde gewohnt habe.
Inzwischen war der Krieg ausgebrochen, von dem wir als junge Schüler wenig mitbekamen. Wir sollten nur lernen und uns nicht um die hohe Politik kümmern. Doch ich fuhr Anfang 1939 ins nahe Sudetenland, nach Zuckmantel, und war erstaunt, was es da alles zu kaufen gab. Als erstes kaufte ich mir eine kleine Holztabakpfeife mit einem Päckchen Schnitttabak, um bei meinen Mitschülern nicht zurück zustehen, die mit 15 Jahren versteckt anfingen zu rauchen. Sonntags ging ich früh zur Kirche, nachmittags kletterten wir mehrmals mit Freunden auf den nahen Holzberg. Von einer Höhe über 500 Metern konnte man in der Ferne bei schönem Wetter mein Heimatdorf sehen. Die Bergbesteigungen, vorbei an 14 Kreuzwegkapellstationen, hinauf zur Baude habe ich heute noch in guter Erinnerung. Zwei meiner Mitschüler, die in Ziegenhals geboren waren, wurden für lange Jahre meine Freunde. Der Sohn aus einer Lehrerfamilie, Wolfgang Höhne, ein großer schmächtiger Junge mit Lesebrille, erschien mir besonders intelligent zu sein. Weißbrich Hans, Sohn eines Eisenbahners, war der Beste in Geographie, denn er war damals schon mit seinem Vater weit in Deutschland herumgereist.
Ganz in der Nähe, auf der Zuckmantelerstraße, wohnte Alfred Kubotz, der Sohn eines Polizeiwachtmeisters. Bei Alfred war ich oft zu Hause, denn die Familie besaß ein großes Eigenheim, mit weitflächig angelegtem Garten, wo auch Möglichkeiten vorhanden waren, sich sportlich zu betätigen. An einer Reckstange versuchten wir diverse „Kunststücke“. Wir sprangen um die Wette und übten sogar schnelles Laufen. An Alfred Kubotz denke ich manchmal, nicht nur deswegen, weil er mit 18 Jahren in Russland gefallen ist, sondern auch, weil sein Vater ein Motorrad besaß, und wir Jungens nur darauf warteten, auch einmal fahren zu dürfen. Wir machten beide den Führerschein Klasse 5 und eines Abends, als sein Vater zum Dienst war, schob Alfred leise das Motorrad aus dem Schuppen. Wir fuhren auf der Landstraße in Richtung Zuckmantel. Nach ca. 3 Kilometern blieb er stehen und ich bat ihn: „Lass mich doch auch mal fahren.“ Fast wäre meine erste Motorradfahrt vorzeitig im Straßengraben beendet gewesen, wenn nicht Alfred mir nach gelaufen wäre und mich im letzten Moment aufgehalten hätte. Solche Gemeinsamkeiten verbinden sehr und bleiben unvergesslich. Mit Alfred konnte ich über alles sprechen, über unsere heimlichen Mädchenverehrungen, die wir aus der Schule kannten.
Bei mir in der Nähe wohnte ein hübsches junges Mädchen, namens Ilse John, für die ich schwärmte. Aber nie wagte ich es, sie einmal anzusprechen. Geduldig schaute ich fast jeden Morgen aus meinem Fenster und wartete, bis sie aus dem Haus kam. Dann ging ich langsam hinter ihr her, bis wir beide das Schultor erreichten, und ich ein schüchternes Guten Morgen hervorbrachte. Sie würdigte mich keines Blickes, was mich ärgerte und mich zu den groteskesten Überlegungen verleitete.
Mit 17 Jahren lernte ich eine Verkäuferin namens Anneliese kennen, mit der ich sogar einmal zusammen einen Film ansah. Seitdem war ich von meiner heimlichen Liebe zu Ilse geheilt, und ich konnte mich wieder ganz auf meine Schulaufgaben konzentrieren.
Unser Schuldirektor, ein überzeugter Nazi, veranstaltete jede Woche einen Appell, bei dem alle Klassen sich auf dem großen Schulhof versammeln mussten. Dann wurde die NS-Fahne gehisst, das Deutschlandlied wurde gesungen und der Direx hielt eine patriotische Rede, die in den Worten gipfelte: „Alle müssen lernen für den baldigen Endsieg Opfer zu bringen, und wenn das Vaterland unser Leben verlangt, dann sollten wir es ohne zu Zögern hingeben, für den Führer, für Volk und Vaterland. Heil Hitler!“ Er ließ eine Ehrentafel anfertigen, auf die Namen der ehemaligen Schüler des Gymnasiums eingetragen wurden, die ihr Leben für den Sieg des Dritten Reiches hingeben mussten. Diese Tafel hing am Eingang der Schule und wir Schüler gingen tagtäglich vorbei, ohne an die Schmerzen der Mütter und Väter zu denken, die ihre Söhne für immer verloren hatten. Im Jahre 1944, kurz vor der Schulschließung, waren über 50 Namen auf dieser Ehrentafel verzeichnet, darunter auch einige meiner Freunde. Wie ich schon erwähnt habe, war ich vom Militärdienst zurückgestellt worden, und als nur wenige Schüler in der Abiturklasse zum Unterricht kamen, weil die meisten Jungens in meinem Alter zum Kriegsdienst oder als Flakhelfer eingezogen waren, wurde die achte Klasse auf höhere Anordnung geschlossen. Ich sollte meine Abiturprüfung am 1.4.1945 bestanden haben, aber im Herbst 1944 musste ich mich leider zwecks Arbeitsdiensteinsatz beim zuständigen Arbeitsamt melden.
Ehe ich fortfahre meine persönlichen Erlebnisse während des Krieges zu erzählen, werde ich zurückschauend die Zeit bis zum Tod meines Vaters am 23.4.1943 schildern.
Das Verhältnis zu meinem Vater besserte sich mit dem Eintritt in die Aufbauschule in Ziegenhals. Ich brauchte nicht um Geld zu bitten, wenn es sich um den Kauf von Büchern handelte, oder um die Teilnahme an Schulausflügen, mein Papa bezahlte alles. Dafür fuhr ich fast jeden Sonntag nach Altewalde und half meinem Vater bei diversen Tätigkeiten, die er als Bürgermeister auszuführen hatte. Er bekam seine Weisungen von der Parteikreisleitung in Neisse, musste auch oft an Versammlungen teilnehmen und ich sah, wie er manches Schriftstück sehr nachdenklich zweimal durch las.
Da ich zu dieser Zeit sehr mit Problemen eines pubertierenden Jünglings beschäftigt war, und die Schule mich sehr in Anspruch nahm, wobei ich viele Bücher las und auch schon damals kleine Geschichten zu schreiben begann, hatte ich kaum Zeit oder auch Lust, um sich um die Krankheit meines Vaters oder meiner Mitmenschen zu kümmern. Mein besonderes Hobby war auch das Erlernen von Fremdsprachen, dazu zähle ich in erster Linie das Englische, auch das Latein, Französisch, Italienisch und auch die russische Sprache. Durch das Studium der Englischen Sprache und auch Russisch, sollte ich später Vorteile genießen, die ich gar nicht einmal voraussehen konnte. Ich lernte auch nebenbei Kurzschrift und brachte es zu einer Fingerfertigkeit, dass ich in der Schule oft vieles stenographierte, was mich besonders interessierte. Ich trug immer ein Vokabelheft bei mir, und ich konnte mir oft jeden Tag etwa 100 neue Worte einprägen, die ich jahrelang nicht vergessen habe. Außerdem war ich eifriger Benutzer der städtischen Bücherei in Ziegenhals, wo ich auch solche Bücher auslieh und sie natürlich auch gelesen habe, wie zum Beispiel Adolf Hitler: „Mein Kampf“ oder auch Rosenbergs: „Der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts“. In kurzer Zeit hatte ich mir so viel Wissen angeeignet, dass ich von meinen Schulkameraden als Streber und lebendes Lexikon mit Argwohn betrachtet wurde. Das Erlernen der englischen und auch russischen Sprache, wäre mir fast zu meinem Verhängnis geworden, denn einmal habe ich mit englischen Kriegsgefangenen gesprochen, wofür ich mich beim deutschen Wachposten rechtfertigen musste, das andere Mal habe ich 1944 einem Schulkameraden, den ich während des Heimaturlaubs von der Ostfront gesagt hatte, dass ich Russisch lerne, wenn der Krieg einmal verloren sein sollte. Ich hatte Mühe ihn davon abzuhalten, mich bei der Polizei anzuzeigen. Dass mir aber die englische Sprache viele Vorteile verschaffte, das erfuhr ich erst nach dem Krieg, und vorweg nur kurz erwähnt, dass ich vom Klassenlehrer als guter Englischschüler vorgeschlagen wurde, einem Jungen aus Leipzig Nachhilfeunterricht zu geben, wobei ich zwei Reichsmark für eine Stunde Nachhilfe bekam. Die Bekanntschaft mit William, meinem Nachhilfeschüler aus Thüringen, sollte für mich ein besonderer Glücksfall sein, das ich erst richtig nach meiner Flucht aus meiner Heimat im Jahre 1945 erfahren habe. Zu dieser Zeit begann ich mich auch für Politik zu interessieren, und mit zwei meiner besten Schulkameraden, mit Wolfgang Höhne und Hans Weißbrich diskutierte ich oft bis spät in der Nacht über die gravierenden Veränderungen in Deutschland und auf der ganzen Welt. Die Schulzeit während des Krieges war für mich die Zeit des Lernens und auch die Zeit, wo ich eine straffe Führung von den Eltern gebraucht hätte. Mit fünfzehn Jahren meldete mich mein Vater bei der Familie Schönwälder in Ziegenhals an, wo ich allein gelassen, mich dem „Studium“ widmen sollte. Ich hatte für mich ein kleines „Studierzimmer“ mit Vollverpflegung, für das mein Vater monatlich 40 Mark bezahlte. Ich bekam knappe bürgerliche Kost und eignete mir Gewohnheiten an, die ich mein ganzes Leben lang nicht ablegen konnte. Von Jugend an, habe ich immer Entscheidungen getroffen, die ich für richtig hielt, ich fühlte mich frei und ungebunden, die Eltern waren weit weg und hatten kaum Zeit, um mich mit Ratschlägen zu leiten. Sie waren froh, dass ich nicht sitzen blieb, dass ich meine Schulzeugnisse regelmäßig vorlegte und nicht zu anspruchsvoll war, da während des Krieges, alle älteren Menschen die Geschehnisse mit eigenen Sorgen und Vorahnungen verfolgten, die ein junger Mensch gar nicht nachvollziehen kann.
Meine Mutter erzählte mir, als ich nach der Krankheit und Todesursache meines Vaters fragte, ja, unser Papa war immer sehr fleißig. Im Frühjahr 1942 zur Heuernte hatte er selbst frühzeitig mit der Handsense eine Wiese hinter der Scheune gemäht. Er soll dabei geschwitzt haben, er hätte kaltes Wasser getrunken, und nach kurzer Zeit litt er an starkem Husten. Die Atem- und Schluckbeschwerden verschlimmerten sich sehr rasch, und ein Arzt in Ziegenhals stellte fest, dass sich ein Kehlkopfkrebsgeschwür gebildet hätte. Verschiedene angewandte Heilmittel halfen nicht. Mein Vater schrieb ein Bittgesuch ans Wehrbezirkskommando in Neisse, um zeitweilige Freistellung meines Bruders vom Militärdienst. Aber wie zu erwarten war, es folgte die Ablehnung. Mein Vater, der mit Leib und Seele Bauer war, hatte es nicht leicht gehabt, sich mit der Tatsache abzufinden, nicht mehr aufstehen zu können und nur auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Ich war erschrocken, als ich ihn während der Weihnachtsschulferien des Jahres 1942 abgemagert und kaum der Sprache mächtig, im Bett liege sah. In einem kleinen Zimmer neben dem Pferdestall, eine kleine Glocke in der Hand, mit der er manchmal schellte, wenn er etwas benötigte, oder wenn er mit jemandem sprechen wollte. Die Weihnachtsfeier wurde still und leise verbracht. Nur ein kleines Christbäumchen, ohne Geschenke und Gabentisch zeugte vom Weihnachtsfest. Die Kinder waren alle älter geworden und glaubten nicht mehr an den Weihnachtsmann. Mein älterer Bruder Walter kämpfte als Soldat in Russland und niemand wagte ihm von der Krankheit des Vaters zu schreiben.
Das Radio brachte schon lange keine Sondermeldungen mehr, es wurde nur von Frontbegradigungen an der Ostfront berichtet, von Entscheidungsschlachten und vielen Opfern, die Deutschland zur Rettung Europas aufbringen müsste. Wenn im Volksempfänger um acht Uhr abends die deutschen Nachrichten verbreitet wurden, konnte man dazwischen ganz deutlich den Radiosender Moskau hören, der lautstark folgende Meldung verbreitete: „Stalingrad - Massengrab, die deutsche Ostfront ist zusammen gebrochen, Hunderttausende sind in russische Gefangenschaft geraten.“ Als mein Vater das hörte, standen ihm die Tränen in den Augen. Er dachte, wie wir alle auch, an unseren Walter, der in der eisigen Kälte Russlands nichts von der schweren Erkrankung Papas wusste. Mama tröstete uns Kinder so gut sie konnte, sie allein musste die Verantwortung für das Wohl des Hofes tragen, mit dem einen jugoslawischen Fremdarbeiter, namens Antek. Mit diesem Landarbeiter plante mein Vater die Frühjahrsaussaat, denn meine Mutter hatte sich nie um solche Dinge zu kümmern brauchen. Als es Mitte Februar etwas wärmer wurde, ließ sich mein Vater auf einen Wagen tragen, er wünschte noch einmal alle Felder und Wiesen zu besichtigen. Antek musste ihm versprechen, meiner Mutter beizustehen und alles so zu machen, wie er es geplant hatte. Ich besuchte meinen Vater mehrmals am Krankenbett, er sprach lange über Politik, und sagte: „Gerhard, der Krieg ist verloren, du wirst noch schlimme Zeiten erleben.“ –
Ich muss dazu erwähnen, dass mich seine düsteren Worte nicht besonders berührten, ich konnte mir nichts unter verlorenem Krieg und Vertreibung aus meiner schönen Heimat vorstellen. Ich war im kritischen Alter, wo man sich schon in Mädchen verliebte. Außerdem musste ich mich mächtig anstrenge, um in der Schule allen Anforderungen gerecht zu werden. Mit Bangen dachte ich an die Osterferien. Als es so weit war, am Ostersonntag 1943 da konnte mein Papa kein Wort mehr sprechen, er brachte keinen Bissen herunter. Ich benetzte seine trockenen Lippen mit einem angefeuchteten Tuch. Seine Augen waren glanzlos und blickten hilflos an mir empor. Der Pfarrer war schon mit der Letzten Ölung bei ihm gewesen. Er hatte von seinen Kindern Abschied genommen. Mama weinte fast ununterbrochen, und wir Kinder machten uns Selbst etwas zu essen, um nicht zu hungern. Am Ostermontag, als ich aus der Frühmesse kam, da hörte ich schon von weitem lautes Wehklagen. Ich sah, wie man meine Vater, auf einem Bügelbrett ausgestreckt, in die gute Stube brachte, wo er wenig später in einen Eichensarg umgebettet wurde. Ich lief mit tränenden Augen in den Garten hinaus, setzte mich unter einen Birnbaum und hing eigenen traurigen Gedanken nach. Ehe der Sarg verschlossen wurde, holte man uns Kinder in die gute Stube, wir beteten mit Mama gemeinsam ein Vaterunser und unseren Vater gab es nicht mehr unter den Lebenden.
Zwei Tage später spannte Antek einen schwarz geschmückten Wagen an. Der Sarg wurde hinausgehoben. Langsam, unter Anteilnahme vieler, vieler Menschen, Freunde, Nachbarn und Verwandten von weit und nah, die hinter dem Leichenwagen hergingen, zog ein langer Trauerzug zum Friedhof hin. Wie ich dahin gekommen bin, wo und wie und mit wem ich gegangen bin, an das kann ich mich nicht mehr erinnern. Das Einzige, was ich von diesem Tage behalten habe, bin die Tatsache, dass sich ein Trauerzug durchs Dorf bewegte, und dass am offenen Grab zuerst der Pfarrer ein paar Worte sprach, dann waren mehrere Männer in SA-Uniformen zu sehen, dann traten Männer in Feuerwehruniformen vor. Das traurig schöne Lied „Ich hatt‘ einen Kameraden“ erklang. Frauen weinten und schluchzten laut auf. Mitglieder des Schützenvereins standen etwas abseits. Vier Männer mit zum Himmel aufgerichteten Gewehren, schossen mit lautem Echo den letzten Ehrensalut in die Luft. So ein Begräbnis hatte die Gemeinde noch nie erlebt, das schönste, das es je gegeben hatte, erzählten später die Dorfbewohner. Nach der Trauerzeremonie gingen viele Leute zur Gastwirtschaft, wo ein opulenter Leichenschmaus stattfand. Ob ich auch dabei war, was ich noch an diesem Tag gemacht habe, nichts davon ist in meiner Erinnerung zurückgeblieben. Ich weiß nur, dass ich froh war, am nächsten Tag wieder in Ziegenhals in meinem Zimmer zu sein, wo ich mich mit Bücherlesen beschäftigte. Im Nachhinein muss ich erwähnen, es war gut so, dass mein Vater so zeitig starb, denn als Parteigenosse wäre es ihm nach dem Krieg sehr schlecht ergangen. Fast alle Bauern, die in der Partei waren, wurden zur Zwangsarbeit in Kohlengruben weggebracht, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen schwer arbeiten mussten, bis sie eines qualvollen Todes starben. Nach dem Begräbnis meines Vaters ließ ich mich nur noch selten in Altewalde blicken.
Der junge kräftige Jugoslawe, der sich sehr schnell und gut eingearbeitet hatte, war nun quasi der Ersatzbauer. Ein ukrainisches Mädchen namens Olga als Magd, half ebenfalls so gut sie konnte. Mit Nachbarschaftshilfe wurden alle landwirtschaftlichen Tätigkeiten so ausgeführt, als ob Papa noch am Leben wäre.
Ich habe vergessen zu erwähnen, dass mit dem Kriegsanfang bei uns im Auszugshaus ein Kriegsgefangenenlager eingerichtet wurde. In eine untere Wohnstube zog in älterer Wachsoldat ein, der die Aufgabe hatte, auf die Gefangenen aufzupassen, dass sie nicht wegliefen. Mein Vater öffnete den ca. 30 Kriegsgefangenen den Zugang zum großen Obstgarten, von wo sie, wenn sie es gewollt hätten, leicht fortlaufen konnten. Sie bekamen Stroh für ihre Schlafsäcke und an Sonn- oder Feiertagen, saßen oder lagen die Gefangenen im Garten, sangen Lieder, oder schrieben Briefe, bis sie am frühen Morgen vom Wachposten zu den einzelnen Bauern geführt wurden. Für mich, meine Geschwister und Nachbarskinder, waren das interessante Menschen aus einer anderen Welt. Wir saßen oder standen mitten unter den Gefangenen, musterten sie unauffällig und machten uns über sie unsere eigenen Gedanken. Keiner von uns Kindern spürte, oder schürte Hass gegen diese unglücklichen Männer, die jede Nacht ausbruchsicher eingeschlossen wurden, und in einem großen Saal auf Doppelstockbetten schliefen. Interessanterweise lagerten bei uns zuerst Polen, dann Franzosen und danach auch Engländer. Auf unserem Hof selbst arbeitete keine Kriegsgefangenen, sondern lediglich der jugoslawische Fremdarbeiter Antek, dann noch ein Ukrainer Emil, und ein ukrainisches Mädchen namens Olga, deren Schicksal mich persönlich interessierte.
Diese junge Frau, besser gesagt, das junge nicht unfeine Mädchen, war nicht viel älter als ich, und sie wollte unbedingt deutsch lernen. Eines Tages fragte sie mich mit Hilfe eines kleinen deutsch-russischen Wörterbuches, wie einzelne deutsche Worte ausgesprochen werden. Bald bemerkte ich, dass das Mädchen nicht dumm war, sie kannte lateinische Ausdrücke für grammatische Begriffe, wie zum Beispiel Verben, Aktiv, Passiv, sie kannte Plus und Minus und ich erfuhr, dass sie in Kiew kurz vor dem Abitur stand, als die Deutschen einmarschierten und sie zwangsweise nach Deutschland schickten, um dort zu arbeiten. Sehr gekonnt schrieb sie die erlernten Wörter in ein Taschenbuch, die sie nach kurzer Zeit auswendig wiederholte. Eines Tages bat ich sie zum Spaß, mir auch zu erklären, wie die russischen Buchstaben geschrieben werden. Dazu sollte sie mir einige Begriffe des täglichen Lebens beibringen. Ohne dass jemand etwas davon erfuhr, es war nämlich verboten, mit fremdländischen Arbeitskräften privat zu reden, erklärte mir Olga die Grundbegriffe der russischen Sprache, die mir später einmal sehr geholfen haben. Nebenbei bemerkt, diese Olga hatte es nicht schlecht bei uns gehabt, sie war ein sauberes Mädchen und verrichtete leichte landwirtschaftliche Tätigkeiten, so wie aller anderen jungen deutschen Frauen. Was aus der hübschen Olga geworden ist, ob sie den Krieg gut überstanden hat, das konnte ich bis heute nicht erfahren.
Nun zurück zu meinem kurzen persönlichen Kriegseinsatz in der deutschen Rüstungsindustrie. Wie ich erwähnte, musste ich mich im Oktober 1944 beim Arbeitsamt melde, das mich sofort zur Arbeit in ein ehemaliges Weberei-Werk verpflichtete, nahe am Germaniabad in Ziegenhals. Jeden Tag früh um 6 Uhr begann die Tagesschicht. Ich meldete mich zum ersten Mal in meinem Leben bei einem Fabrikmeister zum Dienst.
In dieser Fabrik arbeiteten nach meiner Schätzung ca. 300 Leute, meist jüngere polnische Arbeitskräfte, die rund um die Uhr Flugzeugteile herstellen sollten. Ich setzte mich an einen langen Tisch, der Meister drückte mir ein Stück Blech und Schmirgelpapier in die Hand und mir wurde gesagt, ich sollte dieses Einzelteil sauber abreiben, weil es später anderswo lackiert werden sollte. Keine schwere, aber eintönige Arbeit. Bald wurde ich von einem jungen Mann in gut verständlicher deutscher Sprache angesprochen, und nach einigem Wie, was, wo, warum und weswegen, erfuhr er von mir, und ich von ihm, interessante Tatsachen. In diesem Kriegsrüstungsbetrieb mussten polnische Arbeiter eine Stunde länger arbeiten als deutsche Angestellte, also 13 Stunden am Tag, auch samstags. Es gab offiziell nur eine knappe halbe Stunde Mittagspause, sonst wurde durchgearbeitet. Kleine Essenspausen wurden geduldet, wobei aber die Maschinen nicht abgestellt wurden. In der riesigen Werkshalle, in der etwa 100 Leute arbeiteten, war es warm und ziemlich stimmenlaut. Die jungen Leute redeten ununterbrochen, ich verstand kein Wort, aber nach einigen Tagen brachten sie mir einige Brocken aus der polnischen Sprache Bei, was mir auch später zum Vorteil gereichen sollte. In dieser Fabrik arbeitete ich bis Mitte Januar 1945. Dann wurde der kriegswichtige Betrieb in die Gegend von Hannover evakuiert. Ich muss dazu erwähne, dass ich von den Polen viele Einzelschicksale erfuhr, meist trauriger Natur. Sie waren überzeugt, dass der Krieg für Deutschland bald verloren sein würde, und dass sie schnell nach Hause kämen. Gespräche solcher Art waren streng verboten, doch mich reizte damals schon das Verbotene. Ich erlaubte sogar einem jungen polnischen Gymnasiasten namens Wladek, mich in meinem Privatquartier zu besuchen. Er erzählte mir viel von seiner Heimat Saybusch, wir tauschten Adressen aus, und einmal ging ich mit ihm sogar ins Kino. Es wurde gerade der Film „Jud Süß“ gespielt, ein Hetzfilm gegen die Juden, den wir beide mit sehr gemischten Gefühlen anschauten.
Ehe die fremden Zwangsarbeiter in Güterwagen mit der Fabrikeinrichtung weggebracht wurden, besorgte ich diesem Wladek eine Fahrkarte nach Kattowitz, und ich hoffe, dass er gut in seiner Heimat ankommen ist. Nach 20 Jahren habe ich versucht mit ihm Kontakt aufzunehmen, ich habe keine Antwort erhalten. In dieser kurzen Zeit als Fabrikarbeiter lernte ich Leute kennen, die mich fürs spätere Leben prägten. Ich muss noch erwähne, dass ich in der Fabrik Böhler 42 Pfennige Stundenlohn bekam und mich riesig freute, als ich mein erstes selbst verdientes Geld in den Händen hielt. Am 17. Januar 1945 war der Betrieb geschlossen worden, und ich meldete mich wieder beim Arbeitsamt. Glücklicherweise wurde ich zur Stadtverwaltung Ziegenhals geschickt, wo ich ca. 6 Wochen lang in der Lebensmittelkartenstelle aushelfen sollte. Die leichte Büroarbeit hat mir gefallen, nur die Zeiten wurden immer unruhiger, viele Familien begannen auf eigene Faust bei Verwandten im Innern Deutschlands unterzukommen. Dazu benötigten sie eine Bescheinigung, für welchen Zeitraum sie Lebensmittelkarten empfangen hatten. Andere Leute aus Oberschlesien meldeten sich im Amt, sie verlangten neue Berechtigungsscheine für den Einkauf von Lebensmitteln. Sie erzählten, dass sie vor den Russen flüchten mussten, dass sie alles verloren hätten, und wüssten nicht wie lange sie hier bleiben könnten. Eine Flüchtlingswelle setzte sich in Bewegung, die man nicht beschreiben kann. Offiziell wurden Durchhalteparolen in Funk und Presse verkündet, und auf großen Plakaten stand zu lesen: „Der Sieg ist nahe! Die Wunderwaffe schlägt den Feind zurück!“
Ich habe vergessen zu erwähnen, dass in meinem „Studierzimmer“ für eine kurze Zeit auch mein jüngerer Bruder Helmut wohnte. Ein zweites Bett wurde ins Zimmer gestellt, und nun war ich nicht mehr allein. Noch vor seinem Tod hatte mein Vater den Bruder zum Unterricht in der Aufbauschule angemeldet. Er begann, im Gegensatz zu mir, mit der ersten Klasse des Jungengymnasiums. Ich half ihm, so gut ich es konnte. Ich kann mich erinnern, dass ich damals eine Luftdruckpistole besaß, und mein Helmut versuchte vergeblich ein aufgestelltes Kerzenlicht auszuschießen. Das Zusammensein mit meinem Bruder hat mir gefallen, wir erlebten zusammen viel Angenehmes. Da wir beide in den Jugendjahren gut und viel essen konnten, brachte mein Vater eines Tages einen ganzen Sack Weizenmehl zum Bäcker, wo wir uns zusätzlich Brötchen und Kuchen holen konnten, soviel wir wollten. Unsere Zimmerwirtin war natürlich froh darüber, wenn wir uns beim Bäcker satt aßen, oder öfters nach Altewalde fuhren, und uns von dort Obst und Esswaren mitbrachten. Mein Schulklassennachbar war der Sohn eines Fleischermeisters. Ihm schenkte ich manchen Apfel, dafür erhielt ich wiederum ein Stückchen Wurst. Ich kann sagen, dass Helmut und ich nie während der Kriegsjahre gehungert haben. Ich hatte genug Taschengeld und ging fast jede Woche einmal ins Kino und als ich 18 Jahre alt geworden war, erhielt ich sogar eine Raucherkarte, auf die ich mir 8 Zigaretten pro Tag kaufen konnte. Damals rauchte ich schon regelmäßig. Ich kann mich an R6 Zigaretten erinnere, für 40 Pfennig die Schachtel. Oder auch an die kleinen Juno-Zigarettenschachteln für 10 Pfennig. Doch die recht sorgenfreien Tage sollten bald aufhören. Mit dem nahen Ende des Krieges wurde ich zum Volkssturm erfasst, und musste sonntags an Wehrübungen teilnehmen. Ältere Männer und junge Burschen wurden in der Handhabung von Panzerfäusten und anderen Waffen ausgebildet. Ich persönlich habe aber nie einen richtigen Abschuss miterlebt, noch einen Gewehrschuss abgefeuert.
Im Februar 1945 wurden alle Männer zur Verteidigung der Heimat aufgerufen. Zweimal fuhr ein Sonderzug mit etwa 300 Männern und Frauen, mit Spaten und Hacken ausgerüstet zu einem, hinter der Stadt Neisse gelegenen Flugplatz, wo wir Schützengräben ausheben mussten. Von dort hörten wir den fernen Kanonendonner der nahen Front. Die Russen waren nämlich schon bis an die Oder vorgedrungen, etwa 30 km vom Arbeitseinsatzplatz entfernt. Ich sah zum ersten Mal russische Flugzeuge über den Flugplatz kreisen. Alle hörten auf zu arbeiten und gingen in Deckung. Ich war froh, als ich wieder in Ziegenhals eintraf. Irrigerweise meinte ich, die Russen würden niemals die Festung Neisse einnehmen. Doch wie ich später von Daheim gebliebenen Neisser Bürgern erfahren habe, ist es den Stadtbewohnern sehr schlimm ergangen. Die schöne Stadt wurde in Schutt und Asche gelegt, etwa 90% der Häuser waren zerstört und unbewohnbar.
Zurück in Ziegenhals, bemerkte ich in den Geschäften und auf den Straßen eine Nervosität und Hektik bei vielen Menschen, die nicht wussten, was noch auf sie zukommen würde. Ich ging täglich zum Dienst zur Stadtverwaltung. bis zum 16. März 1945. An diesem Tag sprach mich meine Zimmerwirtin an, sie hätte im Radio gehört, dass wir uns vor den heran rückenden Russen in Sicherheit bringen sollten. Sie selbst hatte mit ihrer Mutter einen größeren Handwagen mit einigen Sachen gepackt, auf denen ihre zwei kleinen Kinder saßen. Ich habe diese nette Frau und ihre Kinder nie wieder gesehen.
Am Vortage war vom NS-Ortsgruppenführer eine Armbinde mit dem Aufdruck „Volkssturm“ und ein italienisches Gewehr mit 6 Patronen meiner Wirtin übergeben worden. Dazu verkündete er hoffnungsvoll, alle Männer sollten am nächsten Morgen zur Panzersperre in der Nähe der Aufbauschule kommen. In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich war allein im Haus. Leise ging ich in die Küche und schaltete das Radio ein. Ich hörte den englischen Radiosender BBC London. Dieser brachte stündlich einen ausführlichen Frontlagebericht von den erbitterten Kriegshandlungen im Osten Deutschlands. Die Provinzhauptstadt Breslau würde belagert, der Vormarsch der Russen ins Sudetengebirge wäre nicht aufzuhalten, und sie würden in den nächsten Tagen die Tschechoslowakei besetzen. Die Bevölkerung wurde dringend aufgerufen, die unmittelbaren Kampfgebiete zu meiden. Ich trat vor die Haustür und schaute angstvoll in den von Feuer und Scheinwerfern hell erleuchteten Himmel über der Stadt Neisse. Leises Donnergrollen und Maschinengewehrknattern waren zu hören, und als das Tageslicht anbrach, sah ich große deutsche Militärfahrzeuge, wie sie eilig bergauf zur tschechischen Grenze fuhren. Nichts Gutes ahnend packte ich einige Sachen zum Anziehen in einen kleinen Handkoffer. Mein Rasierzeug, die Ausweispapiere, mein letztes Schulzeugnis, ein englisches Wörterbuch, etwas zu essen und zu trinken sowie ein Kochgeschirr und ein Essbesteck. Ich zog mir Knobelbecher und einen warmen Wintermantel an. Eine Wollmütze setzte ich auf und steckte die Hände in wollene Handschuhe. Mein Volkssturmgewehr und die Patronen versteckte ich unter meinem Bett und verließ für immer mein „Studierzimmer“, worin ich so viele Jahre meiner Jugendzeit verbracht hatte. Vorher öffnete ich noch den Hühnerstall und den Kaninchenkäfig. Ich gab den Tieren zu fressen und ließ sie frei herumlaufen. Dann verschloss ich die Haustür und ging schnell die Straße zur Stadtmitte hinunter. Neben der Aufbauschule stand ein Flakgeschütz und einige Soldaten hielten Wache. Plötzlich duckten sie sich. Beim Vorbeigehen hörte ich einen lauten Knall, und ich sah einen Granateneinschuss in der gegenüberliegenden Hauswand. „Glück gehabt“, sagte ich mir, „jetzt ist es höchste Zeit, von hier wegzukommen“.
Ich mischte mich unauffällig unter die flüchtenden Leute, die mit kleinen Handwagen oder Kinderwagen über die Bielebrücke in Richtung Freiwaldau zogen. Die Straße zur tschechischen Grenze war total voll gestopft mit Pferdefuhrwerken der Bauern aus den umliegenden Ortschaften. Im Schneckentempo zogen sie die Chaussee hinauf. Ich ging langsam den Bürgersteig entlang mit dem Köfferchen in der Hand bergan zum Zollhaus und dann wieder bergab hinüber auf tschechisches Gebiet. Es war schon Abend, als ich in Freiwaldau in eine Gaststätte einkehrte. Vor Müdigkeit sagte ich mir, „... in dieser Nacht gehe ich keinen Schritt weiter, komme was da wolle“. Ohne mich auszuziehen, den Koffer als Kopfkissen benutzend, legte ich mich in einer Ecke der Schankstube nieder und schlief sofort ein. Die Räume waren schon von andern Flüchtlingen belegt, keiner fragte mich woher ich käme und wohin ich wolle.
Am nächsten Morgen aß ich etwas von meinem mitgenommenen Proviant und ging wieder langsam die Dorfstraße entlang, bis ich zu einem auf freiem Feld stehendem Güterzug kam. Ringsherum saßen oder lagen viele Leute, meist Frauen, Kinder und verwundete Soldaten. Ich fragte: „Wohin fährt denn der Zug?“ Keine Antwort. Ich überlegte nicht lange und kletterte in einen Viehwaggon, wo schon mehrere Flüchtlinge herumstanden oder auf Decken lagen. Unbeachtet setzte ich mich auf meinen kleinen Koffer und wartete. Plötzlich vernahm ich Motorengeräusch. Gleich darauf wurden wir von russischen Flugzeugen beschossen. Ich wurde aber nicht getroffen. Nach endlos langer Zeit kam eine Lokomotive langsam angefahren und setzte unseren Flüchtlingstransportzug in Bewegung. Wie lange ich gefahren bin, das weiß ich nicht mehr. Der Zug hielt auf einer kleinen Bahnstation, und ich sah Rote-Kreuz-Helfer, die aus einer Gulaschkanone Essen austeilten. Mit meinem Essgeschirr in der Hand, stellte ich mich in die Reihe der Wartenden. Als ich an der Reihe war, wurde ich gefragt, für wie viele Leute ich Essen wollte. Ich antwortete vorsichtig: „Für drei Personen.“ Prompt erhielt ich 3 Fleischstücke mit Suppe und Brot dazu. Mit Riesenhunger verzehrte ich heimlich meine Essensportionen und folgte den Flüchtlingen, die zu einer Schule strömten. Hier sagte man mir, dass ich nur eine Nacht bleiben könnte, da der Ort auch bald geräumt werden müsse. Wenn jemand im Reich Verwandte oder Bekannte hätte, so solle er mit dem nächsten Zug weiterfahren. Ich ging zum Bahnhof zurück und kaufte mir eine Fahrkarte nach Leipzig. Es dauerte noch zwei Stunden, bis ein Zug eintraf, der über Prag nach Dresden fahren sollte. Ich war allein, was mich aber nicht besonders belastete, denn es gab so viel Neues zu sehen und zu erfahren. Der Bahnhof war voll von Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Auch waren nette Mädchen darunter, die aus der Tschechoslowakei heraus wollten. Ich kam gar nicht dazu, an meine Geschwister, oder an meine Mutter zu denken, denn ich musste sehr aufpassen, dass mich keine Militärkontrolle erwischte. Ein Schnellzug fuhr ein. Ich bekam mit Mühe einen Fensterplatz. Wir fuhren durch die schöne Landschaft des Sudetenlandes, die wie im tiefsten Frieden, an mir vorüberzog. In Prag sah ich zum ersten Mal tschechische Eisenbahner in ihren seltsamen Uniformen. Von der Stadt selbst habe ich keine Erinnerungen mehr. Es dauerte viele Stunden eintöniger Fahrt, bis der Zug den Bahnhof Dresden-Neustadt erreichte. Hier war für den Flüchtlingszug die Endstation.
Es war der 26. März 1945, ein warmer, angenehmer Frühlingstag, die Natur in voller Blüte. Der zerbombte Bahnhof machte allerdings einen erschreckenden Eindruck. Ich erkundigte mich, ob es einen Anschlusszug nach Leipzig gäbe. Meine Frage wurde verneint und mir wurde gesagt, dass ich nicht vom Neustädter Bahnhof weiterfahren könnte. Ich müsste mit der Straßenbahn durch das erst vor zwei Wochen vollständig zerbombte Dresden zum Hauptbahnhof fahre. Die Stadt glich einem einzigen großen Trümmerhaufen. Die Straßenbahn, fuhr erstmals wieder nach dem Angriff von Dresden-Neustadt über die stark zerstörte Elbbrücke zum Zentralbahnhof. Wir starrten stumm und fassungslos auf die furchtbar zerstörte Stadt. Mir kamen ungewollt Tränen in die Augen. Ein solches Ausmaß von Trümmern und Verwüstungen hatte ich nie für möglich gehalten. Selbst historische Gebäude lagen in Schutt und Asche. Die Straßen waren fast menschenleer. Kilometerweit war kein unbeschädigtes Haus zu sehen. Der Hauptbahnhof mit seinen leeren Fenstern, wirkte trotz der vielen Menschen im Licht der Abendsonne trostlos und deprimierend. Einige Mitreisende sagten, dass sie Dresden so schnell wie möglich verlassen wollten, da die Gefahr bestünde, dass die Stadt erneut von englischen Fliegern angegriffen würde. Endlich fand ich einen Zug, der nach Leipzig fahren sollte. Während der Fahrt dorthin habe ich wohl wegen Übermüdung nur geschlafen, so dass ich mich nicht an den Reiseweg erinnern kann. Als dann der Zug in den teilweise zerstörten Hauptbahnhof einlief, war ich aber sofort hellwach.
Ohne Schwierigkeiten gelang es mir, die Straßenbahn zur Adolf-Hitler-Str. Nr. 78 zu besteigen. Ich öffnete zaghaft die Tür zur Gastwirtschaft „Zum U-Boot-Hafen“. Freudig wurde ich von William und seinem Vater begrüßt.
Für mich war die Flucht aus meiner Heimat zu Ende. Meinen Koffer konnte ich in einem kleinen Gästezimmer abstellen, wo auch ein Bett zum Schlafen stand. Nach über einer Woche Odyssee badete ich erst einmal, und aß mich tüchtig satt. Ich hatte eine neue Aufgabe, denn ich wurde als Hauslehrer des Sohnes William in den Kreis der Familie Markert aufgenommen.
Die Mutter Williams, eine attraktive junge Frau, die auch aus Schlesien stammte, nahm sich meiner an, als ob ich ihr zweiter Sohn wäre. Zur Familie gehörten die siebenjährige Schwester Williams, ein nettes Mädchen namens Marlies. Zum Haushalt gehörte auch eine Köchin und Putzfrau, so dass es oft etwas eng in der vier Zimmer Stadtwohnung wurde.
Der Ausblick vom dritten Stockwerk auf die Straße war für mich äußerst interessant. Fast alle 10 Minuten fuhren Straßenbahnen vorbei. Überrascht war ich, welche Bequemlichkeiten das Großstadtleben zu bieten hatten. Die vielen Geschäfte zum Einkaufen, Kinos, Theater, Bäder, Schulen, moderne Verkehrseinrichtungen wie der größte Sackbahnhof Europas, oder die jährlich stattfindende Messe, kennzeichneten das schöne Leipzig als wichtige sächsische Großstadt.
William wurde in den nächsten zwei Jahren für mich der beste Freund meines Lebens. Mir gelang es, mit allen Familienmitgliedern ein äußerst gutes Verhältnis herzustellen. Am 3. April 1945 hatte ich mich in Leipzig als Abiturient polizeilich angemeldet. In den folgenden Tagen erlebte ich einige Flugzeugangriffe auf den Süden der Stadt, der schon arg zerstört war und bekam dadurch eine „Kostprobe“ von Fliegerangriffen und Bombenalarm.
Die Gastwirtschaft mit Bier- und Essenverkauf für etwa 120 Gäste, war oft voll besetzt. Ich half manchmal beim Getränke-Ausschank und mit William erledigte ich verschiedene Botengänge. Die Hauptaufgabe bestand aber darin, meinem zwölfjährigen Freund, einem hochgewachsenen hübschen Jungen, die nötigen versäumten Schulkenntnisse der englischen Sprache beizubringen.
Die Tage bis zum 18. April, dem Tag des Einmarsches der Amerikaner, vergingen wie im Traum. Die guten Kenntnisse der englischen Sprache verschafften mir viele Vorteile. Als amerikanische Soldaten eines Morgens die Gaststube betraten und mit seltsam klingendem Akzent ein Bier verlangten, antwortete ich selbstsicher: „How do You do, Sir?“.
Sofort wurde ich freundlich beachtet und das anfängliche Misstrauen war im Nu verschwunden. Die Uniformierten, nicht viel älter als ich, boten mir Zigaretten und Schokolade an. Sie machten es sich auf Stühlen bequem, scherzten mit William und mit mir und fragten nach dem Weg nach Berlin. Für mich begann eine faszinierende Zeit. Mit William, der schnell gut englisch sprechen lernte, ging ich dorthin, wo alliierte Soldaten in Zelten oder Privatquartieren untergebracht waren. Wir bestaunten ihre Ausrüstungen und Fahrzeuge und sprachen oft einige unverfängliche Sätze mit ihnen.
Damals herrschte in der Stadt frühzeitiges, herrliches Frühlingswetter. Da um 20 Uhr abends die Sperrstunde angesagt war, breitete sich in den Straßen gähnende Leere aus. Nur amerikanische Patrouillen, meist junge Neger in ihren flachen Jeep-Fahrzeugen fuhren durch die Straßen. Vor denen hatten wir jedoch keine Angst. Bald hatten wir Kaugummis, Lucky Strikes Zigaretten, Büchsenfleisch und andere amerikanische Waren. Das waren Raritäten, die wir bis dahin noch nicht kannten.
Schon nach einigen Tagen entstand der so genannte schwarze Markt am Leipziger Hauptbahnhof. Hier konnte man vieles eintauschen, was es sonst nicht in den Geschäften gab. Obwohl das offiziell verboten war, so zog es uns Jugendliche unheimlich dahin. Wir tauschten oder verkauften Zigaretten für 6 Mark das Stück, oder ein Brot für 30 Mark, so dass William und ich immer gut bei Kasse waren und nicht zu hungern brauchten. Außerdem hatte sein Vater vorgesorgt. Im Keller waren unter den Kohlen Mengen von deutschen Zigaretten, Spirituosen und Lebensmittel versteckt, für die man damals alles bekommen konnte.
Die kurze, abwechslungsreiche Nachkriegszeit änderte sich schlagartig, als die Amerikaner sich nach ein paar Wochen aus Leipzig zurückzogen, und die Russen einmarschierten. Der Unterschied war gravierend. Auf kleinen Pferdepanjewagen saßen, oder sie marschierten daneben, endlose Reihen von grauen, schlecht gekleideten, fremdartig aussehende Soldaten. Russische Offiziere bezogen Privatquartiere und suchten nach Schnaps oder jungen Mädchen. Williams Vater lernte einen deutsch sprechenden russischen Oberleutnant namens Alexander kennen, welcher für manche heimlich zugesteckte Schnapsflasche andere begehrte Lebensmittel wie Bohnenkaffee oder Weizenmehl herbeischaffte. Jetzt kamen mir meine russischen Sprachkenntnisse zugute.
Als die neue Stadtverwaltung in Leipzig Deutsche suchte, die russisch lesen und schreiben konnten, meldete ich mich selbstverständlich. Für einen ganzen Monat wurde ich mit mehreren anderen russisch sprechenden Leuten eingestellt, um im Rahmen einer Sonderaktion, ehemalige Angehörige der verschiedenen NS-Organisationen zu erfassen. Wir mussten große Fragebögen in kyrillischer Schrift ausfüllen, mit Angaben von Name, Geburtsdatum, Beruf, Wohnort dieser betroffenen Männer und Frauen. Es wurde eine große Zahl von ihnen registriert und statistisch erfasst. Was mit ihnen geschah, ob sie zum Arbeitseinsatz kamen, das weiß ich nicht. Für meine Tätigkeit erhielt ich damals etwa 200 Mark und eine Bescheinigung, dass ich als deutsch-russischer Dolmetscher tätig war.
Mit dieser Bescheinigung stellte ich mich später beim Arbeitsamt vor und versuchte eine Arbeit zu bekommen. Ich hätte dort sofort arbeiten können, ich lehnte aber ein derartiges Angebot ab. Mir fehlte das Abiturabschlusszeugnis, das ich unbedingt erreichen wollte. Ich kann von großem Glück reden, dass Herr Markert mich und seinen Sohn zum Beginn des neu eröffneten Nachkriegs-Schulunterrichts am Herder-Gymnasium in Leipzig anmeldete. Zwischenzeitlich hatte ich auch einen dreimonatigen Kursus an der Fremdsprachenschule belegt. Mehrere Male nahm ich an Vorlesungen teil und erwarb schließlich nach einer Prüfung, ein Zeugnis als Sprachkundiger für die Englische Sprache. Eine Urkunde darüber, die am 21. März 1946 ausgestellt wurde, besitze ich noch heute.
Als die Möglichkeit bestand, einen einmaligen Sonderlehrgang für Kriegsteilnehmer zu besuchen, der in der Zeit vom 1.2. bis 20.7.1946 stattfand, meldete ich mich an und erhielt zum Abschluss das Reifezeugnis einer Oberschule für Jungen und Mädchen an der Herderstraße in Leipzig.
Meiner späteren Bewerbung an der Universität Leipzig, um studieren zu können, wurde leider nicht stattgegeben.
Während in meiner Heimat Schlesien chaotische Zustände herrschten, verlebte ich in Leipzig eine angenehme Zeit, die mich fürs ganze weitere Leben prägte. Aus Radiomeldungen und Zeitungsnachrichten erfuhr ich von der Vertreibung unzähliger meine Landsleute, vom furchtbaren Elend vieler Flüchtlingstrecks, die heimatlos und rechtlos viele Kilometer durch die Lande zogen, um im westlichen Teil Deutschlands eine neue Bleibe zu suchen. Wenn auch die Versorgung in Sachsen nicht die allerbeste war, die Zeit unmittelbar nach dem Krieg war für mich, da ich unbekümmert leben durfte, eine schöne Zeit meines Lebens.
Die Stadt Leipzig war im Krieg zu 60 % zerstört worden. Trotzdem ging ein halbwegs geregeltes Leben weiter. Für mich waren auch die großen Buchhandlungen interessant. Ich kaufte mir dort einige fremdsprachige Bücher. In der Stadt fand ich mich schon ganz gut zurecht. Die Straßenbahnen fuhren regelmäßig. Mit William begab ich mich öfters ins Kino, ins Schwimmbad, ich besichtigte das Völkerschlachtdenkmal und war überrascht, wie schnell sich das Leben wieder normalisierte.
An den Wochenenden mussten die einzelnen Hausgemeinschaften Schutt und Trümmer wegräumen. Überall regte sich der Wiederaufbau von zerstörten Wohnhäusern. Ich wurde auch nicht im Jahr 1947 für ein Studium an der Universität Leipzig zugelassen.
Weil es auch sonst keine lohnenden Arbeitsmöglichkeiten für einen frischgebackenen Abiturienten gab, schrieb ich in einem Brief an meine Mutter, dass ich jetzt in Leipzig lebe und wissen wolle, wie es in Altewalde zugehe. Nach einigen Wochen erhielt ich von meiner Schwester Traudel Antwort. Sie teilte mir mit, dass Mama mit meinem jüngeren Bruder Helmut auf dem elterlichen Bauernhof wohnten, viel wäre zerstört worden, aber wenigstens wäre genug zu essen vorhanden.
Diese Nachricht weckte in mir den Wunsch, meine Mutter, die Geschwister, Hof und Heimat noch einmal wieder zu sehen.
In Leipzig gab es zu der Zeit eine Anlaufstelle für Polen und heim reisende Schlesier, die sich in den von Deutschen ausgesiedelten ehemaligen Ostgebieten neu ansiedeln wollten. Ich legte in diesem Büro den Brief meiner Schwester vor und erzählte, dass meine Mutter für Polen optiert hätte, und ich gern meine Heimat aufsuchen möchte. Nach ein paar Tagen Wartezeit erhielt ich eine Fahrkarte zur Stadt Guben an der Lausitzer Neisse, wo ich mich in einem polnischen Durchgangslager melden sollte.
Der Abschied von Leipzig war mir schwer geworden, ich hoffte aber damals, dass ich nur für kurze Zeit nach Schlesien fahren würde, um die Arbeitsmöglichkeiten zu erkunden. Anfang Dezember 1947 packte ich meinen Koffer mit Büchern und Sachen, die ich mir neu angeschafft hatte und fuhr bis zur Stadt Guben. Dort meldete ich mich beim zuständigen Lagerkommandanten. Meine Ausweise und das Schulzeugnis wurden sorgfältig geprüft. Ich kam in einen Schlafsaal, wo schon viele junge und altere Männer darauf warteten, an der Grenze in das neu errichtete Polen einreisen zu dürfen. Nach ein paar Tagen erhielt ich eine Fahrkarte zur Bahnstation Nowy Swietow bei Nysa-Neisse.
Am 7. Dezember 1947, an meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag, fuhr ich mit dem Zug nach Breslau. Dort musste ich umsteigen und nach drei Stunden war ich in der total zerstörten Stadt Neisse angelangt. Mit dem letzten Zug fuhr ich von dort zum Bahnhof Deutsch-Wette und war froh, dass mich niemand ansprach. Ohne Schwierigkeiten erreichte ich am späten Abend mein Heimatdorf Altewalde.
Meine Mutter freute sich natürlich, endlich den vermeintlich „verlorenen Sohn“ wieder gefunden zu haben. Ich bekam zu essen und zu trinken und schlief in dieser Nacht mit sehr gemischten Gefühlen. Was ich unterwegs gesehen hatte, das enttäuschte mich sehr. Die großen Kriegszerstörungen in allen Ortschaften, durch die ich gefahren war, die fremden Leute, deren Sprache ich nicht verstand, das alles wirkte sehr deprimierend auf mich.
Im Winter 1947/48 herrschten in meiner Heimat eisige Temperaturen. Bäche und Flüsse waren überall zugefroren und hoher Schnee lag auf den Feldern. Mit Holz und Stroh, das im Kachelofen brannte, wurde nur in einem Zimmer eine halbwegs erträgliche Temperatur erreicht.
Auf meinem Elternhof war für längere Zeit die russische Dorfkommandantur einquartiert gewesen. Danach herrschte dort ein neuer polnischer Besitzer, bis es meiner Mutter nach Flucht und Vertreibung gelungen war, langsam auf dem Hof wieder Fuß zu fassen. Vom früheren großen Viehbestand waren nur eine Kuh, ein Pferd und ein paar Hühner übrig geblieben.
Die ersten Winterwochen bis nach Neujahr vergingen schnell mit viel Erzählen und Umhören. Es hatte sich zwischenzeitlich sehr viel verändert. Es gab keine deutsche Verwaltung mehr. Die Polen hatten eine neue Administration aufgebaut, die deutsche Bevölkerung war meist in den Jahren 1945/46 ausgesiedelt worden. Sie mussten in kürzester Zeit Haus und Hof verlassen und wurden nur mit einer Handtasche als Gepäck in Viehwaggons verladen und in die besetzten Westgebiete Deutschlands abgeschoben. Meine Mutter war bis in die Nähe von Berlin verfrachtet worden. Der Zug wurde aber zurückgeschickt, weil Typhus ausgebrochen war und viele an dieser Seuche starben. Diese Gelegenheit nutzte meine Mutter, um in der Heimat zu bleiben. Sie wollte nicht noch einmal diese Strapazen durchmachen.
In Altewalde waren von den ursprünglichen Einwohnern nur noch zwei Dutzend zurückgeblieben. Für diese hieß es, die polnische Sprache zu erlernen und sich ein vollkommen anderes System anzupassen.
Ich nahm auch an einem Sprachlehrgang teil, und erlernte recht schnell die Grundbegriffe der äußerst schwierigen polnischen Sprache. Als ein Sonderlehrgang eingerichtet wurde, an dem es schlesischen Schülern mit und ohne Abitur ermöglicht wurde, an einer polnischen Umschulung teilzunehmen, meldete ich mich dazu. Nach einem halben Jahre legte ich eine Prüfung ab, die dem deutschen Abiturzeugnis gleichwertig sein sollte. Mein Zeugnis aus Leipzig wurde mir abgenommen, und ich musste mich verpflichte, den Mädchennamen meiner Mutter und den Vornamen meines Vaters anzunehmen, denn wie mir erklärt wurde, niemand bekäme mit einem deutschen Namen ein polnisches Schulzeugnis.
Von nun an hieß ich acht Jahre lang Jan Wyszka.
Bei der ersten Gelegenheit beantragte ich die Namensänderung, und verlangte die Rückgabe meines Geburtsnamens. Mit dem polnischen Schulzeugnis ging ich zum Arbeitsamt in Neisse. Ich wurde als Verwaltungsangestellter im polnischen Staatsdienst eingestellt. Nun war ich fast zwei Jahre lang in der Abteilung für Arbeitsbeschaffung tätig, und ich hatte Gelegenheit, meine Sprachkenntnisse zu erweitern. Langsam gewöhnte ich mich an meinen neuen Namen und an die neuen Arbeitsbedingungen. In den folgenden Jahren wechselte ich noch ein paar Male meine Arbeitsstellen, weil ich mehr verdienen wollte. Ich fühlte mich als deutsch denkender Mann ziemlich einsam und verlassen.
Die Stadt Neisse wurde langsam wieder aufgebaut. Ich wohnte dort privat in Einzelzimmern und hatte kaum Kontakte zu polnischen Arbeitskollegen. Unter dem kommunistischen System wurde in der Nachkriegszeit eine große Hetze gegen alles, was deutsch war, inszeniert. Deutsch zu sprechen war streng verboten. Kontakte mit Westdeutschland waren unerwünscht. Da ich mich allein gelassen und unwohl fühlte, suchte ich die Bekanntschaft zu zweisprachigen Mädchen aus der Oppelner Gegend. Ich ging mit ihnen manchmal tanzen und ins Kino. Wie das Schicksal oft so will, im Jahre 1951 lernte ich ein nettes, deutschstämmiges Mädchen kennen. Mit der Zwanzigjährigen, sie hieß Anna Panusch, schloss ich bald eine tiefe Freundschaft, die letztendlich zur Eheschließung führte. Sie stammte aus einer armen, kinderreichen Familie, deren Eltern froh waren, dass sie einen deutsch-polnischen Beamten kennen gelernt hatte. Nach wenigen Monaten fand meine vorzeitige Musshochzeit statt. Trotz Not und Armut wurde die Heirat in der Pfarrkirche von Schönkirch bei Proskau/Oppeln mit vielen Verwandten, Freunden und Bekannten großzügig gefeiert.
Der Anfang meines Verheiratetseins war nicht leicht. Doch als Verheiratete bekamen wir eine Zwei-Zimmer-Wohnung zugeteilt, die jedoch nur mit dem Allernötigsten eingerichtet worden war. Ich verdiente nicht viel, aber es gab in Geschäften auch nur wenig zu kaufen. So musste manchmal ein Ei und ein kleines Stück Fleisch für die ganze Woche reichen.
Schon nach 6 Monaten kam unsere Tochter Ursula auf die Welt. Sie wuchs zum Glück gesund auf. Als erstes kauften wir uns damals einen niedrigen, modernen Korbkinderwagen, den ich stolz durch die noch sehr zerstörte Stadt schob. Mit einem Jahr konnte das zarte Mädchen schon laufen.
Als kaum zwei Jahre später meine zweite Tochter Lydia geboren wurde, wohnten wir schon in einer Villawohnung, mit Küche, Bad und zwei schönen Parterrezimmern. Lydia war ein pausbäckiges hübsches Baby. Mit zwei Kindern, das jüngste im Kinderwagen, gingen wir oft in die Kirche. Manchmal sogar zweimal täglich, früh und abends.
Ich hatte mich in einer Molkereigenossenschaft um die Stelle eines Verkaufsdisponenten beworben, die ich auch bekam. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, öfters Milch und Butter einzukaufen, die damals als Mangelware begehrt waren. Das hat uns sehr geholfen, die schlechten Zeiten mit allen Engpässen zu überstehen. Dazu konnten wir die Hälfte eines großen Gemüsegartens bewirtschaften, der uns damals in der schlechten Zeit von großem Vorteil war. Im Garten stand ein großes Werkzeughäuschen, in dem ich zeitweise über 10 Kaninchen schlachtreif fütterte.
Die zehn Jahre, die ich insgesamt in der Neisser Molkereigenossenschaft beschäftigt war, verlangten von mir den Einsatz aller Kräfte. Ich musste sehr vorsichtig agieren, denn ich gehörte keiner Staatspartei an, war dazu als Deutscher überall bekannt. So konnte ich mir keine Unregelmäßigkeiten erlauben.
Mitten in der kältesten Jahreszeit, am 20. Februar 1959 wurde Renate geboren. Als es so weit war, dass ich meine hochschwangere Frau ins Krankenhaus bringen wollte, konnte kein Auto wegen zu hoher Schneeverwehungen auf der Straße fahren. Ich war gezwungen, meinen kleinen Handschlitten aus dem Keller zu holen. Notgedrungen zog ich die werdende Mutter bei starkem Schneetreiben zur nächsten Erste-Hilfe-Station. Von dort wurde sie ins Kreiskrankenhaus gebracht und noch am selben Tag kam es zu einer komplizierten Entbindung. Die Zeit mit drei Mädchen im Hause war nicht so schwierig, wie es heutzutage wäre. Zum Kochen und Waschen gab es nicht viel, die Kinder bekamen ausgekochte Windeln untergelegt, denn Pampers kannte man noch nicht. Jetzt in der Rückschau weiß ich, dass es eine arme, aber glückliche Zeit war. Ich ging jeden Tag zu Fuß zwei Kilometer weit zur Dienststelle und kam meist schon um 16 Uhr wieder zurück. Daheim begrüßten mich fröhliche Kinder, und die Welt war für mich noch in Ordnung. Die stete Sorge um unsere Kinder, dass sie auch gesund aufwachsen, verdrängte alle übrigen Probleme. In Polen herrschten noch jahrelang Versorgungsschwierigkeiten mit Lebensmitteln oder Artikeln des täglichen Bedarfs. Doch die Bevölkerung musste alle Unzulänglichkeiten klaglos ertragen.
Zu meinen Geschwistern und meiner Mutter, die sich zwischenzeitlich alle in der Bundesrepublik angesiedelt hatten, pflegte ich nur sporadischen brieflichen Kontakt. Es dauerte nicht lange, dann kam noch ein viertes Mädchen auf die Welt, die kleine Angela, die auch im Februar geboren wurde. Doch im Jahre 1963 war es nicht so kalt, und die Entbindung im Stadtkrankenhaus verlief ohne Komplikationen.
Im selben Jahr hatte ich mit zwei Überraschungen zu rechnen, es waren nämlich die zwei unverhofften Besuche von mir nahe stehenden Menschen. Zuerst kam meine Mutter aus Düsseldorf für ein paar Tage zu Besuch. Die Sehnsucht nach verlorenen Hab und Gut und die vielen Heimaterinnerungen veranlassten sie, die weite Reise zu wagen. Meine Kinder freuten sich, endlich einmal die Oma aus Deutschland kennen zu lernen. Doch wegen Sprachschwierigkeiten wurde die Freude getrübt. Meine Mutter hatte Geschenke mitgebracht, die in Polen unbekannt waren. Es gab viel Neues und Unbekanntes zu erzählen. Ich ließ mir berichten, ob es für mich persönlich Möglichkeiten gäbe, in der BRD eine Arbeit zu bekommen. Nach einigem Nachdenken antwortete meine Mutter ausweichend.
„Oh, das wird schwierig werden, denn in erster Linie werden in Deutschland gute Handwerker und Fachkräfte gebraucht, um die zerstörten Städte aufzubauen. Außerdem wird es für dich schwer sein, für vier Kinder passende Wohnungen zu finden. Aber ich hätte es gern, wenn doch alle meine fünf Kinder mit mir zusammen in Deutschland wohnten. Ich schicke dir das Fahrgeld und besorge dir auch eine Zuzugsgenehmigung nach Düsseldorf. Außerdem hat dein Bruder Walter den Lastenausgleich für den verlorenen Bauernhof erledigt. Ihr würdet vielleicht 5000 Mark bekommen, wenn ihr übersiedeln wolltet“.
Diese Äußerungen meiner Mutter und noch andere Überlegungen veranlassten mich zu einem späteren Zeitpunkt, einen Antrag auf Zusammenführung mit den Geschwistern zu stellen.
Der zweite Besuch, der uns im Sommer überraschte, war mein Freund William Markert aus Leipzig. Die Begrüßung war sehr herzlich, denn wir hatten uns so lange Zeit nicht gesehen, und es gab viel zu erzählen. Er kam mit Ehefrau und seiner zwölfjährigen Tochter Marlies, um für zwei Wochen die Sommerferien in Neisse zu verbringen. Das Wetter war sehr gut, und eine bekannte Lehrerin fuhr mit uns in ihrem Auto an den Stausee in Ottmachau zum Baden. Auch den Ort Ziegenhals haben wir besucht, und wie mir meine Gäste sagten, hatte es ihnen sehr gut gefallen. Ich diskutierte mit William viel über Politik, erzählte ihm von meinen Aussichten und Absichten in den Westen überzusiedeln. Er unterstützte voll alle meine Pläne. Als die Besuchszeit zu Ende ging, trennten wir uns mit dem Versprechen, uns irgendwann in Freiheit wieder zu sehen. Das wurde aber erst nach dem Fall der Mauer im Jahre 1990 möglich.
Im Frühjahr 1964 stellte ich mit sehr gemischten Gefühlen den Antrag auf dauerhafte Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Meine Kinder, die in der polnischen Volksschule gute Leistungen vorzuweisen hatten, sprachen leider kein deutsch und waren von meinem Vorhaben wenig erfreut. Außerdem hatte ich öfters gehört, dass ausreisewillige deutschstämmige Schlesier in Polen sofort ihre Arbeitsstelle verloren, und mit allerlei Schwierigkeiten zu rechnen hatten.
Mein Ausreisebittgesuch ließ ich, glücklicherweise, wie sich zeigte, von einem polnischen Rechtsanwalt anfertigen. Schon nach sechs Monaten Wartezeit wurde meinem Ausreiseantrag stattgegeben. Wir mussten die Wohnung auflösen, alles Nötige einpacken und uns auf die große Fahrt nach dem Westen vorbereiten.
Am 26. November 1964 war es so weit. Auf dem Neisser Bahnhof hatten sich Freunde und Bekannte versammelt, um uns zum Abschied Lebewohl zu sagen. Abends um 20 Uhr fuhr der internationale Zug Moskau-Paris ein. Wir fanden ein leeres Abteil, die Türen schlossen sich, Winken und Tränenvergießen begannen, und der Zug rollte langsam in Richtung Görlitz. Von dort ging es weiter bis Berlin-Ost. Meine Kinder legten sich, so weit es möglich war, schlafen. Die jüngste Tochter, Angela, die kaum 9 Monate alt war, schlummerte ruhig in einem weißen Tragekissen. In Berlin wurde die Lokomotive ausgewechselt, und nach zwei Stunden Pause, setzten wir die Reise fort. Die Fahrt ging weiter über den Grenz-Mauer-Streifen, der damals scharf bewacht wurde. Bei Magdeburg fuhr der Zug langsam über eine notdürftig reparierte Elbbrücke und ratterte dann holpernd weiter über ausgefahrene DDR-Schienen. Nachmittags hielt der Zug im Bahnhof Göttingen. Wir mussten in einen Rote-Kreuz-Bus umsteigen, der uns ins nahe Grenzdurchgangslager Friedland brachte. Der Empfang auf bundesdeutschem Boden war überwältigend. Die Friedland-Glocke läutete zu unserer Begrüßung. Mit uns kamen an diesem Tag etwa hundert Heimatvertriebene ins groß ausgebaute Lager. Die geräumigen Baracken waren sauber und warm, mit weichen Betten ausgestattet. Ich musste in den nächsten drei Tagen alle nötigen Formalitäten erledigen und erhielt 400 Mark Begrüßungsgeld. Auch erhielten wir gebrauchte Sachen wie Schuhe, Mäntel und Kleider für die Kinder. Das reichhaltige Essen schmeckte uns ausgezeichnet.
Die ersten allgemeinen Eindrücke waren sehr positiv. Wir staunten über die Sauberkeit und die Ordnung nicht nur im Lager, sondern auch in den Ortschaften durch die wir gefahren waren. Am dritten Tag erhielt ich Fahrkarten zum Lager Stuckenbrock bei Bielefeld. Dort wurden wir erneut registriert. Uns wurden zwei Räume in einer großen Baracke zugewiesen. Im Lager selbst wohnten schon viele andere Flüchtlingsfamilien, die meisten stammten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Der Aufenthalt im Lager Stuckenbrock zog sich fast ein Jahr hin.
Meine Mutter besuchte mich mit meiner Schwester Traudel und ihrem Mann noch vor Weihnachten 1964 im Lager Stuckenbrock. Sie beschenkten mich und meine Kinder reichlich. Wir empfanden das als sehr ermutigend. Ich kann mich dunkel erinnern, dass wir anfangs öfters Besuche erhielten, wer aber alles bei uns war, und wann das war, das habe ich doch schon wieder vergessen.
Für mich war das Lagerleben mit Arbeit und Anpassungsschwierigkeiten verbunden. Obwohl ich das deutsche Abitur bestanden hatte, merkte ich plötzlich, dass ich mündlich und schriftlich die deutsche Sprache nicht mehr so gut beherrschte wie früher. Ich ertappte mich dabei, dass ich lange Zeit weiterhin polnisch dachte, besonders beim Rechnen und Beten. Fast 18 Jahre Aufenthalt in Schlesien unter polnischer Verwaltung hatte seine Spuren hinterlassen.
Ich bekam beim Arbeitsamt Paderborn eine Arbeit als Angestellter. Dort war ich mit der Genehmigung und Berechnung von Schlechtwetterzulagen beschäftigt. Danach, ab dem ersten April 1965, bis zu unserer Übersiedlung in eine Notunterkunft in Düsseldorf, arbeitete ich kurz im Büro einer Elektro-Motorenfabrik bei Bielefeld. Die beiden älteren Mädchen, Ursula und Lydia, kamen in eine Förderschule, um die deutsche Sprache zu erlernen. Sie wurde fast zwei Jahre lang unterrichtet und fanden danach ohne Schwierigkeiten Lehrstellen, mit guten beruflichen Aufstiegschancen. Das Erstaunliche war, dass alle meine Kinder in kurzer Zeit die deutsche Sprache erlernten und sich voll und ganz integrierten. Heute erinnern sie sich nur ungern an ihre polnische Vergangenheit und ich weiß nicht, wenn sie diese Zeilen gelesen haben, ob ihnen danach mein Tun und Handeln in der Bundesrepublik Deutschland viel verständlicher erscheint. Im Nachhinein kann ich sagen, es war ein angenehmes, ruhiges Jahr, das wir in der Nähe von Paderborn verlebten.
Am 28. Mai 1965, es war ein schöner Maientag, fuhren wir mit der Bundesbahn nach Düsseldorf. Die persönliche Habe war vorher als Bundesbahnfrachtgut an die neue Adresse verschickt worden, und für mich und meine Familie begann ein neuer Lebensabschnitt, mit vielen Eindrücken und Überraschungen. Zum Aufschreiben meiner Memoiren hat auch das Erscheinen eines kleinen, von mir selbst verfassten Gedichts, das in der Zeitschrift „das neue“ am 25.4.1998 veröffentlicht wurde, beigetragen, das wie folgt lautete:
HEIMATERINNERUNGEN
Schlesierland - mein Heimatland,
Für
viele bist du unbekannt.
Wo ich gelebt in Jugendtagen,
das
kann
ich ehrlich sagen:
Am Oder- und am Neissestrand,
Dort
war für
mich ein schönes Land.
Heut‘ bin ich
über siebzig
Jahre jung,
Geist und Körper sind noch in Schwung.
In
Gedanken bin ich in der Heimat weit
Und erinnere mich oft
an die
schöne Zeit.
Ich lebte dort in Ruhe und
Geborgenheit,
Es
war einmal - im Herzen tut‘s mir leid.
In meiner schlesischen Lebensgeschichte mit dem Titel „Heimaterinnerungen", die ich in den Monaten August bis Oktober 1998 geschrieben habe, sind Erlebnisse meiner ersten vierzig Lebensjahre mit allen Höhen und Tiefen zu Papier gebracht worden. Wie seltsam es auch klingen mag, ich wäre noch länger in meiner schlesischen Heimat geblieben, wenn nicht durch fatale Nachkriegsereignisse mein Geburtsort Altewalde im Landkreis Neisse unter polnische Verwaltung geraten wäre. Heute sehe ich vor meinem geistigen Auge meine Lebensjahre aus einer abgeklärten Perspektive, und im Alter von 77 Jahren versuche ich die Geschehnisse so darzustellen, dass sie dem Leser verständlich und nicht allzu langweilig erscheinen.
Ich beginne nun wieder in meinem Gedächtnis zu forschen, um meine Erlebnisse seit der Ankunft auf bundesdeutschem Boden möglichst wahrheitsgetreu wiederzugeben. Die Fahrt Ende Mai 1965 durch das Ruhrgebiet fanden wir hochinteressant. Wir hatten noch nie Hochöfen oder Kohlengruben gesehen, in denen damals noch viele Arbeiter beschäftigt waren. Der Zug verlangsamte seine Fahrt, und als wir in den Hauptbahnhof von Düsseldorf einfuhren, atmete ich erleichtere auf. Es hieß nun mit reichlichem Handgepäck aussteigen und unseren neuen Wohnort aufzufinden. Ziemlich ratlos stand ich nun am Bahnsteig, auf dem viele Weiterreisende warteten. Von der langen Fahrt ermüdet und ängstlich auf das Reisegepäck achtend, schaute ich mich neugierig nach einem bekannten Gesicht um. Doch von meinen Geschwistern, war niemand zur Begrüßung gekommen. Meine erste Enttäuschung unterdrückte ich mit einem halblauten: „Na, dann wollen wir einmal.“
In beiden Händen Koffer und Taschen tragend, dirigierte ich meine Familie zum nahen Bahnhofsausgang. Von meinen Kindern fuhren nur die zwei jüngsten mit uns, die mit weit geöffneten Augen die völlig neue Umgebung bestaunte. Angela, unser jüngstes Töchterchen, das erst 15 Monate alt war, versuchte die ersten Schrittchen auf dem belebten Bahnsteig, während Renate, die am 20. Februar 6 Jahre alt geworden war, ängstlich bemüht war, sich an meiner Hand festzuhalten. Die beiden älteren Mädchen, Lydia und Ursula, besuchten zu der Zeit noch die Förderschule in Stuckenbrock, um dort die deutsche Sprache zu erlernen.
Wie ich in die Straßenbahn eingestiegen bin, und mit welcher Bahn wir zur angegebenen Düsseldorfer Adresse gefahren sind, an das kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß aber noch, dass es lange gedauert hat, bis wir an dem Benrather Schloss vorbeifuhren, dass an diesem Tage besonders schön geschmückt worden war. Die Benrather Schlossallee, bunt mit Fahnen und Girlanden dekoriert, mit Spruchbändern quer über der Straße hängend, auf denen zu lesen war: „Herzlich willkommen", wirkte beeindruckend auf uns. Nicht ernsthaft gemeint sagte ich halblaut: „Schaut mal hin Kinder, wie sie alles für unseren Empfang vorbereitet haben.“Ich hatte nämlich drei Tage vorher erfahren, dass an diesem Tag die englische Königin Elisabeth II dem Schloss einen Besuch abstatten sollte.
Wie wir von der Endstation zu unserer Unterkunft in Düsseldorf-Benrath gelangt sind, das habe ich auch vergessen. Wenn ich in meinem Gedächtnis stöbere, dann fällt mir ein, dass ich schon im Lager Stuckenbrock die Adresse von unserem neuen Wohnort erfahren hatte. Wir wären viel eher aus dem Lager entlassen worden, wenn ich mich bereit erklärt hätte, in der Stadt Mettmann zu wohnen. Dieses verneinte ich, erstens, weil alle meine Verwandten in der Landeshauptstadt wohnten, und zweitens, weil ich mir günstigere Arbeitsmöglichkeiten in Düsseldorf ausrechnete.
Als wir müde an der vorgegebenen Hausnummer am Schwarzen Weg in Düsseldorf-Benrath eintrafen, wurde ich wieder enttäuscht.
Da es schon spät am Nachmittag war, hatte der Verwalter für die Flüchtlings-Notunterkünfte keine Sprechstunden mehr. Doch eine hilfsbereite Nachbarin hielt einen Schlüssel für zwei kleine Zimmerchen bereit, die für uns als Wohnung für die nächsten Monate dienen sollten. In den kahlen Räumen befanden sich wenigstens zwei eiserne Doppelbetten mit ein paar gebrauchten Wolldecken. In einer Ecke stand ein kleiner, eiserner Kohleofen. Um Holz und Kohle mussten wir uns selbst kümmern. Die Hauptsache fürs Wohnen aber war vorhanden und zwar: Leitungswasser floss in ein kleines Spülbecken und die Lichtleitung funktionierte auch. Wir hatten wieder ein Dach über dem Kopf, das regen sicher aussah. Die städtischen Wohnheime, die für Flüchtlinge und Umsiedler bestimmt waren, befanden sich in einfachem und zweckmäßigem Zustand. Sie hatte keinen Keller oder Dachböden, dafür waren hinter den Baracken große Wiesenflächen angelegt, ein idealer Spielplatz für Kinder. Die Zimmer lagen eben zur Erde, aus denen man durch ein großes Fenster, auf einen langen Gang blickte, der von einer Wohneinheit zur anderen führte. Die Hilfsbereitschaft von Nachbarn und anderer Flüchtlingsfamilien erleichterte uns das Einrichten und Wohnen der spärlich ausgestatteten Notunterkunft.
Am anderen Morgen meldete ich mich beim Lagerverwalter. Dieser drückte mir ein Schriftstück in die Hand, wonach ich an die Stadt Düsseldorf eine Nutzungsgebühr von 35 DM monatlich zu entrichten hatte. Wir galten von nun an als Neubürger der Landeshauptstadt, waren ganz allein auf uns selbst gestellt, ohne Unterweisung oder Hilfestellungen von irgendwelchen Behörden. Ein Glück, dass zwei Brüder, zwei Schwestern und meine Mutter in Düsseldorf wohnten, die mir in den folgenden Tagen und Monaten manchen nutzvollen und hilfreichen Ratschlag erteilten.
Schon am nächsten Tag ging ich zur Arbeitsamt-Nebenstelle in Benrath, um mich nach Arbeitsmöglichkeiten zu erkundigen. Von dort wurde ich zum Hauptarbeitsamt in Düsseldorf geschickt, die mich nach eingehender Beratung, am liebsten bei sich eingestellt hätten. Doch ich kannte die Tätigkeit als Angestellter aus dem Arbeitsamt in Paderborn, bei dem ich 3 Monate lang beschäftigt war. Diese Arbeit hatte mir nicht gefallen, und ich fragte meinen Bruder Helmut um Rat. Dieser antwortete mir in weiser Voraussicht: „Gerhard, du, mit deinen vier Kindern, bewerbe dich als Landesbediensteter beim Finanzamt. Beim Vater Staat, bist du am sichersten aufgehoben, auch wenn mal eine Arbeitslosigkeit eintreten sollte, du wirst deinen Arbeitsplatz immer behalten.“
Dieser Ratschlag erwies sich als goldrichtig, und noch am selben Tag bewarb ich mich als Angestellter für den Dienst in der Finanzkasse beim Finanzamt Düsseldorf-Süd an der Stresemannstraße. Schon am 9.Juni 1965 bekam ich die Aufforderung mich beim Kassenleiter zu melden, um in einem Großraumbüro bei der Bearbeitung und Verbuchung von Steuereinnahmen mitzuarbeiten. Ich wurde nach der achten Gehaltsgruppe für Verwaltungsangestellte des Landes NRW besoldet, und ich habe mich sehr gefreut, so schnell einen sicheren Arbeitsplatz gefunden zu haben. Der Dienst in der Finanzkasse fiel mir nicht leicht. Die Umstellung von den Bürotätigkeiten in polnischen Betrieben war enorm. Von Steuern und Finanzamt hatte ich bis dahin nie etwas gehört. Dazu kam noch, meine direkte Vorgesetze, eine 59-jährige Dame, die kurz vor der Altersrente stand, bemühte sich nicht sonderlich, um einem Neuling wie mir, die nötigen Kenntnisse zu vermitteln. Bei meinem Einstellungsgespräch hatte ich gleich erwähnt, dass ich gern Beamter geworden wäre. Zu einer Übernahme in die Beamtenlaufbahn waren nicht nur ein gutes Schulzeugnis erforderlich, sondern auch eine gute Beurteilung in Bezug auf Arbeitsleistung, Pünktlichkeit und Korrektheit in den Dienststunden.
Nach mehr als zwei Jahren Tätigkeit als Mitarbeiter in einer Finanzbuchhaltung, stellte ich den Antrag zur Einstellung in die mittlere Beamtenlaufbahn. Am 1. Februar 1968 war es dann so weit. Ich erhielt von der Oberfinanzdirektion in Düsseldorf die Sondergenehmigung zur Teilnahme an einem fast 2-jährigen Vorbereitungsprogramm für Beamte der mittleren Laufbahn.
Obwohl ich schon 1946 meine Abiturprüfung in Leipzig bestanden hatte, ist es mir schwer gefallen, sich mit einer ganz neuen Materie zu befassen. Als ältester Steuerassistent kam ich mit jungen Mädchen und Jungen zusammen, die alle viel jünger waren als ich. Manche waren erst 18 Jahre alt, die bald nach dem Schulabschluss sich für den Dienst in der mittleren Beamtenlaufbahn beworben hatten. Mit viel Theorie und praktischen Übungen, wobei ich in allen Abteilungen des Finanzamts eingesetzt wurde, hatte ich für die nächsten Monate meine „Umschulung“ zu absolvieren.
Ich kann mich gut an den 1.Februar 1968 erinnern. Das war in zweierlei Hinsicht ein schicksalhafter Tag für mich. An diesem Tag sollte ich mein Gelöbnis für den Beginn meiner Beamtenlaufbahn ablegen. In der Nacht hatte ich schlecht geschlafen, und schon um 5 Uhr früh war ich aufgestanden, um mich für den rechtzeitigen Dienstantritt vorzubereiten. Meine damalige Frau rief mich nochmals ins Ehebett zurück, und ich muss gestehe, ich wurde mit aller Frauenraffinesse zu einem Schäferstündchen verführt. Die Folgen wurden neun Monate später sichtbar. Mein Sohn Thomas wurde am 1. November 1968 geboren.
Ich muss noch einmal in meinem Gedächtnis zurückblättern bis zum Zeitpunkt, als wir im Sommer 1965 in der Notwohnung am Schwarzen Weg wohnten. Da wir für die Notunterkunft nur eine kleine Nutzungsgebühr bezahlten, außerdem kaum große Anschaffungen tätigten, und ich schon mit dem erhaltenen Kindergeld über eintausend Mark verdiente, konnten wir immer einen Teil meines Gehalts zur Sparkasse tragen. Ich fuhr mit einer Straßenbahnmonatskarte täglich zum Finanzamt in der Nähe des Hauptbahnhofs, und kaufte oftmals bei ALDI preiswerte Lebensmittel ein. Der Winter 1965/66 war nicht so streng gewesen, wie wir es aus unserer Zeit in Schlesien gewohnt waren. Die Ausgaben für Heizung, Strom und Wasser waren gering und fielen nicht ins Gewicht. Als es hieß, dass wir zum Frühjahr eine 100 qm neu erbaute Sozialwohnung auf der Gilblachstraße im Stadtteil Unterbilk beziehen könnten, da schien es, als ob wir ein Glückslos gezogen hätten. Die Wohnung hatte zusätzlich 2 Kinderzimmer, in denen die beiden älteren Mädchen untergebracht wurden. Zum großen Wohnzimmer gehörte noch ein Elternschlafzimmer, ein Kinderzimmer und eine große Küche mit einer Balkon - Loggia. Auf dem Hof war ein großer Kinderspielplatz eingerichtet worden. Wir hatten schon so viel Geld gespart, dass wir uns neue, moderne Möbel kaufen konnten, neue Gardinen, neue Teppiche, Fernseher, Musiktruhe und all die Sachen, die in normalen bürgerlichen Mietwohnungen zu der Zeit zu finden waren. Ich lief zu Fuß täglich zum Finanzamt, wir lebten alle sehr sparsam. Meine Mädchen wurden streng erzogen, so dass sie von der Mutter zu allen hauswirtschaftlichen Arbeiten herangezogen wurden. Diese Erziehung sollte sich für ihr späteres selbständiges Leben sehr positiv auswirken. Die Jahre in einem kinderreichen Mehrfamilienhaus in Unterbilk, zähle ich zu den guten Zeiten, während meiner nicht immer glücklichen Ehejahre. Unsere dritte Tochter Renate wurde zum Unterricht in der Katholischen Volksschule an der Neusser Straße angemeldet, wo sie ohne Schwierigkeiten die Schulaufgaben lösen konnte. Die älteste Tochter Ursula bewarb sich als Bürolehrling im Hochhaus der Mannesmann Firma am Rheinufer. Und Lydia bekam eine Lehrstelle bei einem praktischen Arzt. Sie wollte Arzthelferin werden. Die Nähe der Düsseldorfer Altstadt, und Freundinnen trugen dazu bei, dass die Mädchen mit dem Rauchen von Zigaretten anfingen, sie besuchte Disko-Tanzabende und benahmen sich so, wie die Mehrzahl der Jugendlichen in der Zeit der Beatles-Song-Hochstimmung.
Langsam und sicher konnten damals viele Eltern feststellen, dazu gehörten wir auch, dass die Jugend von einem alles in Frage stellenden Geist durchdrungen wurde. Die Kinder glaubten immer weniger an Gott und die Welt, alte Traditionen wurden über Bord geworfen und neue Lebenserfahrungen wurden gesucht. Das war die Zeit der so genannten 68er-Generation.
Meine kränkliche Mutter sorgte sich damals sehr um ihre Enkelkinder, sie ging in ihrem hohen Alter noch arbeiten und sparte übermäßig viel, um wie sie meinte, den Kindern und Enkelkindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
Ich muss noch einmal in meinem Gedächtnis zurück blättern, und die Ereignisse während meiner Ausbildungszeit als Finanzbeamter schildern.
Wie ich schon erwähnt habe, wurde ich Anfang 1968 als Landesbediensteter in die Laufbahn des mittleren Dienstes übernommen. Hartnäckig bemühte ich mich meinen gestellten Aufgaben gerecht zu werden. Nach 18 Monaten legte ich in der Landessteuerschule in Haan eine Prüfung ab, die ich mit der Note „Befriedigend“ bestand. Meine berufliche Zukunft war gesichert, und ich fühlte mich von vielen Sorgen befreit. Zu meiner hart erarbeiteten Beurteilung möchte ich noch erwähnen, dass von über einhundert Prüflingen zwanzig durchgefallen sind, vier Assistenten bekamen die Note drei, und nur einer konnte eine gute Note erreichen.
In all den Jahren seit unserer Einreise in die BRD, hatten wir monatlich 100 DM in die Landes-Bausparkasse NRW eingezahlt, so dass nach sieben Jahren der Bausparvertrag zuteilungsreif wurde. Das Wohnen für kinderreiche Familien war immer teurer geworden, und als es hieß, wir könnten mit Hilfe eines Siedlereignungsscheins ein Eigenheim erwerben, da war meine erste Frau von diesem Plan hellauf begeistert. Zwischenzeitlich wurde mein einziger Sohn Thomas im Martinus-Krankenhaus in Düsseldorf-Bilk geboren. Er war ein gesundes, liebes Kerlchen, das ich oftmals im Kinderwagen am Rhein entlang spazieren fuhr. Mit ihm habe ich viele schöne Stunden verlebt, und ich meinte in ihm einen Verbündeten gegen meine 5 Frauen-Haushalt gefunden zu haben. Wiederum war es für meine 4 Töchter eine lehrreiche Zeit, an ihrem jüngsten Bruder die Erfahrungen zu sammeln, die fürs spätere Leben von Nutzen sein sollten. Trotz einiger Modeerscheinungen, die meine Mädchen allzu gern mitmachten, wie zum Beispiel in Hot Pants herumzulaufen, sich zu schminken, laute Musik zu hören und Zigaretten zu rauchen, kann ich heute zufrieden sein, dass sie alle bis jetzt sehr selbständig durchs Leben gegangen sind. Sie wollten von niemandem abhängig sein, am wenigsten sich von den Eltern bevormunden zu lassen.
Die Zeit des Einrichtens einer familiengerechten Wohnung vollzog sich in wenigen Jahren. Im Nachhinein kommt es mir vor, als ob diese Zeit die schönste meines Lebens gewesen wäre. In den Anfangsjahren, als wir noch auf vieles verzichten mussten, und die von vieler gemeinsamen Arbeit gekennzeichnet war, meinte ich, eine gute Ehe geführt zu haben. Damals war ich der Meinung, eine Ehefrau sollte sich um Kinder, Küche und Kirche kümmern, wobei der Mann für die notwendigen finanziellen Mittel zu sorgen hätte. Die Kinder wuchsen heran, sie waren gesund und blieben von allen schweren Krankheiten verschont. Ich wurde von vielen um meine Kinder beneidet. Die gesellschaftlichen Kontakte mit meinen Geschwistern, mit meinen Verwandten und Bekannten funktionierten zufriedenstellend, und ich hätte mich glücklich schätzen können. Doch der Wohlstand, ich will nicht sagen, der Mammon lockte und verführte uns, nach immer mehr zu streben. Diese Sucht vergiftete zusehends mein Eheleben. Es kam zu Missverständnissen und Streitigkeiten, die bei besserer Einsicht und Hilfe zu vermeiden gewesen wären.
Die erste große Enttäuschung bereitete uns die älteste Tochter Ursula, als sie eines Tages spät nach Hause kam und bitterlich weinte. Dass unsere älteste Tochter einen hübschen Freund hatte, den sie oft stundenlang besuchte, das konnten wir als Eltern nicht verhindern. Es kam, wie es kommen musste. Ursula wurde von einem 19-jährigen Kälte-Techniker geschwängert, der zudem ein großer Fußball-Fan war. Eine feierliche kirchliche Trauung in der Peter-Canisius-Kirche wurde vorbereitet, zu der nicht nur die evangelischen Gäste des Bräutigams erschienen waren. In einer Gaststätte wurde ein opulentes Hochzeitmahl bestellt, das zu Missstimmungen zwischen den geladenen Gästen führte. Obwohl Ursula selbst schon etwa 7000 DM eigenes Geld gespart hatte, galt sie bei vielen als ein armes, katholisches Flüchtlingsmädchen. Mein Enkelkind, das Ursula nach 4 Monaten zur Welt brachte, wurde evangelisch auf den Namen Röttger getauft, das meiner streng katholischen ersten Ehefrau nicht gefallen hatte. Trotzdem, schien unsere Ursula glücklich verheiratet zu sein, bis der junge Ehemann sie nach 5 Jahren mit einer anderen betrogen hatte. Die Scheidung wurde eingereicht, und mein erstes Enkelkind wuchs ohne die schützende Hand des Vaters auf. Heute ist er ein großer, netter junger Mann und hat Zahnmedizin studiert und will sogar das Doktorexamen bestehen.
Beruflich ging es mit mir steil aufwärts, alle drei Jahre erhielt ich eine gute Beurteilung, und ich durchlief die mittlere Beamtenlaufbahn innerhalb von zehn Jahren. Zuletzt war ich als Steueramtsinspektor mit Zulage in der Kassenprüfung des Finanzamts Düsseldorf -Mitte tätig. Über meinen beruflichen Werdegang kann ich nicht klagen, das Entscheidende war immer, dass ich überall mein Abiturzeugnis vorweisen konnte, ob es in Polen war, oder auch später in der Bundesrepublik, ein gutes Schulzeugnis war und ist wichtig für ein berufliches Fortkommen eines jeden jungen Menschen.
Ich blättere in meinem Gedächtnis nochmals zurück in die Jahre 1966 bis 1971, als ich in den Aufbaujahren mit meinem Familienleben zufrieden sein konnte. Der Unfriede entstand, als meine Frau mich immer mehr bedrängte, einen Antrag bei der Deutschen Bauernsiedlung zu stellen, um bei einem Bauvorhaben in Homberg-Meiersberg in den Besitz eines Eigenheims zu gelangen. Dass dieser Wunsch mit so vielen Schwierigkeiten verbunden sein sollte, das hätte ich mir nicht vorgestellt. Doch folgendes geschah: Ohne meine Geschwister zu befragen, gab mir meine Mama eine Bescheinigung, dass sie auf ihren Lastenausgleichsanspruch zum Bezug von verbilligten Baugeldern verzichtete. Der Neid meiner Geschwister war allgemein groß, sogar mein Bruder Walter, der zu dieser Zeit schon ein eigenes Haus in Düsseldorf besaß, konnte nicht verstehen, dass ich, der nie auf dem elterlichen Hof viel gearbeitet hatte, plötzlich zu einer Siedlernebenerwerbstelle gelangen sollte. Er betrachtete sich als erbberechtigter Nachfolger des schlesischen Heimathofes, der schon längst durch Lastenausgleichszahlungen abgegolten worden war. Mein Bruder Helmut stellte auch vermeintliche Erbansprüche, und meine Schwester Traudel, die wirklich viel auf dem elterlichen Hof gearbeitet hatte, konnte nicht verstehen, dass ich mit 5 Kindern, nach relativ kurzem Aufenthalt in der BRD, ein Eigenheim besitzen sollte. Zudem hatte meine Mutter öfters bei Familienfeiern verkündet: „Wer baut, der bekommt von mir einen finanziellen Zuschuss.“
Es kam, wie es kommen musste, wenn es ums Geld geht, gab es, und es gibt immer wieder Streitigkeiten. Niemand gönnte uns unser Bauvorhaben, außerdem hatte sich meine Frau bei den Verwandten durch unsachliche Bemerkungen unbeliebt gemacht. Die Ehefrauen aller meiner Verwandten oder Bekannten, arbeiteten fleißig mit, um sich nötige Anschaffungen leisten zu können. Meine erste Frau behauptete bei einer Familienfeier: „Ich, als Beamtenfrau, habe es nicht nötig, zusätzlich Geld zu verdienen, schon gar nicht als Putzfrau.“
Als kinderreiche Familie, wurden wir von vielen als asoziale Flüchtlinge betrachtet, die nur auf Kosten des Steuerzahlers sich ein bequemes Leben machten. Und als Höhepunkt sollte uns der Vater Staat noch ein Haus schenken. Das dem nicht so war, das kann ich mit aller Bestimmtheit bestätigen. Wie ich schon erwähnt habe, hatten wir regelmäßig jeden Monat einhundert DM in die Bausparkasse eingezahlt. Nach 7 Jahren hatte sich eine Summe von etwa elftausend Mark angesammelt. Die Siedlernebenerwerbstelle mit einer Wohnfläche von 100 qm und einer Größe des Grundstücks von 1000 qm, war im Rohbau mit einhundertsiebzigtausend Mark Baukosten veranschlagt worden. Davon sollten wir ein Eigenkapital von fünfundzwanzig tausend Mark aufbringen. Der Rest sollte durch verbilligte Landes- und Lastenausgleichsmittel finanziert werden. Die Finanzierung des Bauvorhabens war so angelegt worden, dass das Grundstück nach 30 Jahren mit monatlichen Abzahlungen von ca. 500 DM schuldenfrei sein sollte. Voraussetzung zum Erwerb eines Eigenheims war aber, es sollte eine kinderreiche Familie sein, die damals fünfundzwanzig tausend Mark Eigenkapital vorzuweisen hatte Weil wir nicht soviel Geld besaßen, half uns meine Mama mit einem Betrag von fünftausend Mark und meine Patentante überreichte uns ein Darlehen von dreitausend Mark. Die Finanzierung war gesichert, und das Schicksal nahm seinen Lauf. Was für Arbeit und wie viel uns wirklich die Siedlernebenerwerbstelle kosten sollte, davon berichte ich später. Zur gut gemeinten Spende meiner Mama zum Hausbau möchte ich noch erwähnen, dass sie leider unser fertiges Heim nicht mehr erleben konnte. Nur einmal hatte sie den Kellerausbau gesehen und uns Mut zugesprochen. Sie verstarb am 20.1.1973 im Alter von 76 Jahren an Leberzirrhose und wurde auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof begraben. Ich kann sagen, so wie unsere Mama gearbeitet hat, die Haus und Heimat verloren hatte, 5 Kinder auf die Welt brachte, mit jungen Jahren Witwe wurde, sich stark für alle Kinder aufopferte, so etwas findet man heutzutage nicht mehr. Neun Monate später am 28.September verstarb mein Schwager Erwin Wieczorek, ein sehr sozial eingestellter junger Mann, der mit kaum 50 Jahren einem Herzinfarkt erlag.
Und in diesem Jahr bahnte sich auch für uns die große Wende an. Wir wollten das Stadtleben mit dem Wohnen auf einem „Dorf“ eintauschen, ein großer Fehler, wie es sich später zeigte.
Als meine Töchter davon erfuhren, dass wir Düsseldorf verlassen wollten, um in Homberg-Meiersberg zu siedeln, waren sie alle sehr enttäuscht. Sie hatten sich an Freundinnen gewöhnt, das Leben nahe der Altstadt gefiel ihnen, und niemand wollte das Stadtleben vermissen. Nur der kleine Thomas freute sich aufs Landleben, auf die Freiheit, um im Wald und auf Wiesen herumzutoben. Die älteste Tochter Ursula besaß ihre eigene kleine Wohnung, und sie musste sich mit Hilfe der Schwiegermutter um ihren Nachwuchs kümmern. Es kam zu Missverständnissen und Verwünschungen unseres Bauvorhabens seitens unserer Kinder und auch der meisten Verwandten. Doch meine erste Frau blieb hart. Wenn man einmal A gesagt hat, dann müsse man auch B sagen, war ihre Devise.
Am 15. Juli 1973, mitten in den großen Sommerferien war es dann so weit. Meine Aufgabe bestand darin, den Umzug von einer großen Wohnung mit 4 Kindern zum neuen Domizil zu organisieren. Die Zeit vor dem Umzug war die schlimmste meines Lebens. Das Einfamilienhaus in Homberg stand im Rohbau, lediglich im Keller waren Wasser und Strom angeschlossen worden. Türen und Fenster fehlten noch. Und in drei Tagen sollte der Umzug stattfinden. Dazu mussten wir selbst noch alles tapezieren, Fußboden auslegen lassen, neue Kücheneinrichtungen kaufen, ein neues Elternschlafzimmer war bestellt worden und noch viele anderen Kleinigkeiten, die man in einem neuen Siedlungshaus mit großem Garten brauchte. Meinen Jahresurlaub hatte ich in die Zeit des großen Umzugs einplanen lassen und war fast tagtäglich auf der Baustelle. Ich sollte die Handwerker überwachen, dass sie zügig arbeiteten. Die letzten zwei Nächte schlief ich allein in Decken eingehüllt in dem halbfertigen Haus, um es vor Dieben zu schützen, die oftmals in der Nacht kostbare Armaturen abmontierten, oder brauchbare Gegenstände wegschleppten.
Eine Woche vor dem Umzug erlebte ich meine große Enttäuschung mit meiner zweiten Tochter Lydia. Sie hatte sich in einen jungen Abiturienten verliebt, der es nicht gern sah, dass sie auf dem „Dorf“ wohnen sollte. Jedenfalls war meine Lydia, die bei einem Facharzt in Ratingen als Arzthelferin beschäftigt war, nicht zum Dienst erschienen. Sie war nirgendwo auffindbar, und unsere Nachforschungen ergaben keine Anhaltspunkte, wo sie sich aufhalten könnte. Eine Vermisstenmeldung bei der Polizei ergab nichts. Wir wurden gefragt, ob die minderjährige Tochter etwas gestohlen hätte. Wir verneinten diese Frage, und der zuständige Beamte erklärte, dass jeden Sommer Tausende Mädchen auf der ganzen Welt aus unerklärbaren Gründen das Elternhaus verließen, um nach einiger Zeit wieder zurückzukehren. Unsere Lydia kam zurück, nach drei Monaten zu ihrem 18-ten Geburtstag am 14. Oktober. Wo sie den ganzen Sommer richtig gewesen ist, das habe ich bis heute nicht erfahren.
In dieser schweren Zeit, wo alles gepackt war, hätte ich am liebsten den Umzug abgeblasen, doch wir hatten die Wohnung in Unterbilk gekündigt, die neue Unterkunft war noch nicht bezugsfertig, das war eine Zeit, die ich nie wieder erleben möchte. Ich hatte einen bekannten Arbeitskollegen mit einem kräftigen Helfer bestellt, der mit einem großen Lastwagen die notwendigsten Möbel von Düsseldorf nach Ratingen beförderte. Ich möchte noch erwähnen, dass die neue Siedlung, die damals in Homberg-Meiersberg mitten auf freiem Feld ausgebaut wurde, aus mehr als einhundert Siedlerstellen bestand. Unser Haus an der Herderstraße war als zweites fertiggestellt worden. Es gab noch keine asphaltierte Straße, kein Geschäft, keine Schule, keine Kirche, keine Nachbarn. Es gab nur öde unbebaute Felder auf denen sich viele ausgegrabene Baugruben befanden. Dazu muss ich noch erwähnen, dass sich von meinen Verwandten niemand blicken ließ, und keiner irgendwie behilflich wurde. Heute möchte ich sagen, wir siedelten wie im wilden Westen. Das hieß unter primitiven Bedingungen zäh arbeiten, und umsichtig organisieren, um die Siedlerstelle so schnell wie möglich bewohnbar zu machen.
Noch vor dem Winter wurde eine etwa 30 qm große Terrasse aus Waschbetonplatten angelegt. Danach wurde eine Trennwand aus Kunststoffplatten zwischen dem Doppelhaus gebaut, das von den älteren Nachbarn ungern gesehen wurde. Die eine Grundstücksseite wurde mit einem Maschendrahtzaun abgegrenzt und 30 Sack Torf bestellt. Bei schlechtem Regenwetter kam ein großer Wagen voll beladen mit Pferdemist, den ich allein mit einer Schubkarre den bergigen Abhang hoch karrte. Der Torf und der Pferdedünger sollten die Qualität des ausgelaugten Ackerbodens verbessern. Die schwere Arbeit des Umgrabens habe ich auch allein bewältigt, es wurden Beete angelegt, Sträucher und Bäume gepflanzt, die den leeren Garten mit Leben erfüllten. Neben dem Haus wurde ein großes Stück mit Gras als Wiese eingesät, für den Thomas wurde ein Sandkasten zum Spielen angelegt, und ich weiß bis heute nicht, wie ich das alles geschafft habe. Dazu kam noch für mich die erste große Enttäuschung mit meiner Frau. Sie hatte sich ein neues, weißes, modernes Schlafzimmer gewünscht, das auch nach drei Monaten geliefert wurde. Im ersten Stock befand sich ein geräumiges, sonniges Zimmer in den neue Gardinen aufgehängt worden waren, und es sah mit der neuen Frisierkommode wirklich schön aus. Als alles fertig war, und nachdem ich den ganzen Umzug bewerkstelligt hatte, stellte meine Frau mir das Ansinnen: „Aber in das neue Schlafzimmer kommst du nicht herein. Du schnarchst mir zu viel und schläfst auch sehr unruhig.“
Für mich brach eine Welt zusammen. Da hatte ich wie ein Arbeitskuli geschuftet, Tag und Nacht mich um die Familie gesorgt, alles wurde von meinem sauer verdienten Geld bezahlt, und jetzt so ein Rausschmiss aus dem gemeinsamen Schlafzimmer.
Das erste Mal kamen mir die Tränen, ich weinte bitterlich und weigerte mich in einem Kinderzimmer zu schlafen. Die ersten Anzeichen für eine zerrüttete Ehe waren deutlich sichtbar geworden. Ich habe diese Anzeichen nicht ernst genommen, und meine Frau verstand es, durch zeitweiliges Nachgeben meine Befürchtungen zu zerstreuen. Sie hatte unter den meist jungen Neusiedlern in der langsam sich entwickelnden Gemeinde Homberg-Meiersberg Bekannte und Freunde gefunden, die ihrem Charme und Süßholzraspeln nicht gewachsen waren. Sie kleidete sich modisch, sie trat dem Kirchenchor in Alt-Homberg bei, und es dauerte nicht lange, so war Frau Rieger bei vielen bekannt, wenn nicht sogar beliebt. Mit dem katholischen Ortspfarrer und anderen dörflichen Persönlichkeiten machte sie sich bekannt und gab vor, als Frau eines Finanzbeamten besondere Kenntnisse zu besitzen. Die anfangs recht einfach eingerichtete Siedlerstelle wurde durch den großartig angelegten Garten verschönert, und als es hieß, wir müssten uns ein Auto kaufen, da war meine Frau sofort dafür. Es wurde vom Fachmann eine Garage erbaut, in die Wasser und Lichtleitungen gelegt wurden und die Platz für allerlei Gartengeräte bot. Die Zeit, als meine Frau und ich einen Führerscheinkursus in Homberg-Meiersberg besuchten, war eine relativ harmonische. Wir hatten uns im Herbst 1975 zum theoretischen Unterricht bei der Fahrschule Danzeglocke angemeldet. Die praktischen Fahrstunden wurden meistens auf dem Stadtgebiet von Ratingen gefahren und wir wetteiferten beide miteinander, um das theoretische und praktische Führerscheinwissen so gut wie möglich zu beherrschen. Damals kostete eine Fahrstunde 36 DM, und ich glaube, dass ich ca. 35 Stunden brauchte, um mich für die Führerscheinprüfung anzumelden. Mit allen Nebenkosten, hatte der Führerschein etwa zweitausend Mark gekostet, den ich am 11. März 1976 freudestrahlend entgegen nahm. Mit fast 52 Lebensjahren war ich einer der ältesten Führerscheinprüflinge, und normalerweise hätte ich in dem Alter gar keinen Führerschein erhalten dürfen.
Doch meine Frau verstand es, mich zu Leistungen anzuspornen, über die ich im Nachhinein selbst staunen musste. Auf jeden Fall wurden die neu erworbenen Fahrberechtigungen groß gefeiert und weitreichende Pläne geschmiedet. Der Kauf eines Gebrauchtwagens wurde als nächstes anvisiert. Nach einem Monat hatten wir in der Zeitung ein passendes Angebot gelesen. Ein DAF 44 Automatic Personenwagen für 3000 DM war in Düsseldorf zu verkaufen. Natürlich sagte meine Frau sofort zu, ich musste mit ihr zu einer Adresse im Hafengebiet fahre, und auf dem Heimweg konnte ich das neu erstandene Gefährt steuern. Schlecht und recht kam ich durch den Düsseldorfer Großstadtverkehr bis nach Homberg-Meiersberg, wo ich zu meiner „Heldentat“ beglückwünscht wurde. Dass dieser Autokauf mir noch viel Sorgen und Kummer einbringen sollte, das habe ich zu der Zeit nicht geahnt. Ich war ein Autofahrer, der ohne viele Stunden Fahrpraxis, alle Fahrten in die umliegenden Städte meistern musste. Angefangen von den Städten wie: Mettmann, Heiligenhaus, Ratingen, Düsseldorf, Neuss bis hin zu Bonn, dann später die Städte Heilbronn und Braunschweig, ich musste lenken und gut fahren können, wobei meine erste Frau mit ihren vielen theoretischen Ratschlägen mich zu einem Nervenbündel zusammenquasselte. Sie selbst fuhr meist nur bis zur Kirche in Alt-Homberg, wobei sie in kurzer Zeit mehrere kleine Unfälle verursachte, die ich auch bezahlen musst. Trotz alledem, das Autofahren machte mir anfangs Spaß, und ich fuhr gern kürzere Strecken, oftmals allein bis zu ALDI in Ratingen, um einzukaufen oder um Verwandte zu besuchen. Die längste gemeinsame Autofahrt mit meiner Frau war die Fahrt in Richtung Bodensee. Bis dorthin sind wir aber nicht gekommen.
Zuerst haben wir meinen damals noch lebenden Cousin Günter Welach in Heilbronn besucht, haben dort übernachtet, und meine erste Frau war vom Wesen Günters hellauf begeistert. Ich möchte sogar behaupten, sie hatte sich in ihn verliebt. Wir fuhren die Schwarzwaldhochstraße entlang, am Titisee vorbei, haben uns die schöne Schwarzwaldgegend angesehen, und in Bösdorf übernachtet. Doch unser kleine DAF 44 war für die Hochgebirgsfahrten nicht geeignet, wir drehten um und kamen auch wieder gut zu Hause an. Es folgten noch einige größere und kürzere Autofahrten, die aber ohne Bedeutung waren.
An die letzte große Fahrt, die wieder nach Heilbronn zum Günter Welach führte, kann ich mich noch gut erinnern. Es war kurz vor der Zeit, als meine Ehehälfte viel von Scheidung sprach, und meinte, mein Cousin würde sie sogar heiraten. Um ihr diese Meinung aus dem Kopf zu schlagen, sagte ich eines Tages.
„Komm wir fahren zum Günter, und ich möchte es von ihm hören, ob er dich mit fünf Kindern heiraten möchte.“
Der jüngste Sohn Thomas saß hinten im Fonds, die Hinfahrt klappte einigermaßen, aber auf der Rückfahrt, das war eine Fahrt, die ich nie vergessen werde. Wir fuhren nachmittags nach dem Kaffeetrinken von Heilbronn ab. Wir kamen nach kaum 100 Km Fahrt in ein Gewitter hinein, es donnert und blitzte und zu allem Ärger, verloren wir einen Teil der Autoauspuffanlage. Mitten auf der Autobahn, kurz vor Frankfurt, hieß es anhalten.
„Du hast, den Auspuff verloren, merkst du das nicht?“ Fragte meine Exfrau gehässig.
„Na, dann müssen wir eben den ADAC anrufen, und uns abschleppen lassen, wenigstens bis zur nächsten Reparaturwerkstatt", antwortete ich nervös.
„Ja, ja, das hat der Günter auch gesagt, vom Autofahren hast du keine Ahnung, und heiraten würde er mich sofort, wenn ich mich scheiden ließe", stichelte meine erste Frau weiter.
Der ADAC kam nach etwa einer Stunde, sie entfernten den Rest vom Auspuff und meinten, ich könnte mit einer gemäßigten Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern nach Hause fahren. Also fuhr ich langsam in Richtung Frankfurter Kreuz. Von weitem sah ich das Ausfahrtschild DORTMUND das ich ansteuerte, das war aber falsch. In meiner Nervosität und von meiner Frau verärgert, merkte ich meinen Fehler erst nach fast 50 Km. Ich befand mich auf der Sauerlandlinie und in der Nacht um 12 Uhr befand ich mich in der Stadt Gießen. Mein Sohn Thomas schlief hinten im Fonds, es regnete in Strömen während Militärfahrzeuge nahe an mir vorbeirasten. Ich blieb stehen und fragte einen Ortskundigen.
„Wie komme ich von hier nach Düsseldorf?“
Es dauerte noch etwa 3 Stunden Fahrt, dann befand ich mich in der Nähe von Wuppertal. Eine Polizeikontrolle stoppte uns und fragte: „Wohin wollen Sie?“
Ich ließ mir den richtigen Weg erklären, und um 5 Uhr früh war ich endlich in Homberg zu Hause. Nach einer Stunde bin ich aufgestanden und zum Dienst ins Finanzamt Düsseldorf gefahren.
Ich muss noch einmal in meinem Gedächtnis zurückblättern, zu der Zeit vor meiner Silberhochzeit am 10.10.1976. Zu dieser Zeit waren wir am Höhepunkt unserer Aufbauphase angelangt. Die Siedlernebenerwerbstelle war voll eingerichtet, in der Garage stand ein gut erhaltenes Automatik-Auto, und das ganze Grundstück machte einen recht ordentlichen Eindruck. Das ältere Ehepaar Rilke, das als Nachbarn die zweite Hälfte des Doppelhauses bewohnte, lebte auf ihrem Grundstück sehr zurückgezogen. Dem Verbrecherehepaar, deren Sohn als tüchtiger Handwerker viel mit half, den Eltern die Siedlerstelle so schnell wie möglich bewohnbar zu gestalten, ging es in diesem Fall besser als mir. Ich war mit meinen vier Kindern nur ein geduldeter Nachbar, dem man am besten aus dem Wege ging. Der Sohn vom älteren Nachbarehepaar besaß ein großes Auto, mit dem er die Anfangsschwierigkeiten beim Einrichten der Siedlerstelle viel schneller und besser bewältigen konnte. Trotzdem entwickelte sich in der neu gegründeten Siedlung schnell eine recht hilfsbereite Schicksalsgemeinschaft, in der alle ein Ziel verfolgten. So schnell wie möglich neue Wohnhäuser einzurichten, die ständig verschönert und ausgebaut wurden. Nach einem Jahr waren etwa 50 Siedlernebenerwerbstellen fertiggestellt worden, und ich muss sagen, dass die Deutsche Bauernsiedlung in Düsseldorf, sich wirklich Mühe gegeben hatte, die einzelnen Siedlerwünsche zu erfüllen. Siedlerversammlungen wurden einberufen, und mir ist kein Fall bekannt geworden, dass jemand sich benachteiligt fühlte. Im kleinen Rahmen wurden auch Nachbarschaftstreffen veranstaltet, wobei ich unseren schön geschmückten Keller zur Verfügung stellte. Es wurde gegessen, getrunken, gesungen und getanzt, und die Siedlergemeinschaft schien optimal zu funktionieren. Das dem nicht so war, sollte ich später erfahren, als ich wegen nicht überbrückbarer Ehestreitigkeiten den Fehler machte meine Familie zu verlassen.
Aber davon berichte ich noch im weiteren Verlauf meiner Erzählung.
Im Juli 1975 flog ich zum ersten mal mit meiner ersten Frau und Sohn Thomas nach Mallorca. Ich kaufte mir ein spanisches Lehrbuch, und ich muss sagen, dass mir der Urlaub gefallen hatte. Das Neue unter Spaniens Sonne faszinierte mich, und ich vergaß viele meiner Sorgen. Meine Exfrau hatte sich einen engen Bikini gekauft, sie räkelte sich am Badestrand, und unser Thomas war glücklich, als er am Meeresufer kleine Fischchen fangen konnte. Zu der Zeit ging ich mit meiner Frau auch noch mehrmals abends tanzen ins Oberbayern-Lokal in Arenal. Die abendlichen Spaziergänge waren für das Eheleben eine Wohltat. Nur, dass meine Frau sich schämte mit mir ins Wasser zu gehen. Ich selbst litt unter meinem etwas verkrümmten Rückgrat, was mich aber nicht hinderte viel und weit am Meeresufer entlang barfüßig zu laufen.
Als wir vom Spanienurlaub zurück kamen, fuhren meine Frau und ich öfters ins Schwimmbad nach Heiligenhaus. Das Schwimmen hatte meine Ehemalige im Bad auf der Grünstraße in Düsseldorf erlernt, worauf sie besonders stolz war. Nach einem Jahr, im Frühsommer 1976 flogen meine erste Frau und ich zu zweit wieder nach Mallorca, zum Badeort in Soller, wobei ich feststellte, dass sie gern mit anderen Badegästen sprach, und sich ihrer Erfolge rühmte. Sie betonte öfters, dass, wenn sie nicht dahinter gewesen wäre, ich nie zu einem Beamten geworden wäre, wir hätten auch nie ein Einfamilienhaus erworben, auch hätten wir nie ein Auto besessen. Die Betonung lag immer darauf, dass sie der Motor zu allen Erfolgen gewesen sei, dass sie einen Jungen haben wollte, dass hätte sie auch geschafft. Ich wäre der nur minimal verdienende Vater von einer kinderreichen Familie, die voll von der Mutter gelenkt und gesteuert wird. Teilweise habe ich diese Redensarten geduldet, nach dem Motto: „Rede du, was du willst, in losen unverbindlichen Reden bist du großartig, aber selbst mal etwas Konkretes auf die Beine zu stellen, dafür bist du nicht fähig.“
Ich huldigte zu dieser Zeit immer noch einer sehr konservativen Einstellung: „Die Frau ist für Kinder, Kirche und Küche zuständig, der Mann müsse sich um das nötige Einkommen kümmern, damit alle in der Familie ihr Auskommen hätten. Ich kümmerte mich zu wenig um die Belange meiner zwei jung heranwachsenden Töchter, sie wuchsen in der Zeit auf, als die wilde Beatle-Musik überall zu hören war, dann rauchten die Mädchen alle wie sie waren, sie liefen nach der neuesten Mode gekleidet herum, meist in einem Minikleid und liefen zu ihren Tanzvergnügungen, wie es ihnen gefiel. Wenn die Mädchen manchmal zu spät nach Hause kamen, abends nach 22 Uhr, da sollte ich dafür sorgen, dass sie rechtzeitig im Bett lagen. Meine Ehemalige verstand es, mich als Buhmann hinzustellen, der den Kindern nichts gönnte, der allem Neuen Widerstand entgegensetzte, und der nur als sturer Beamter, seiner sinnlosen Tätigkeit nachging. Ich wurde als Partymuffel und Griesgram abgestempelt, obwohl das gar nicht stimmte, denn zu der Zeit spielte ich leidlich Akkordeon, und im Keller, den ich schön ausschmückte, fanden sich des öfteren mehrere Nachbarn ein, um bei gutem Essen und Trinken das Tanzbein zu schwingen.
Im Neubaugebiet hatten sich meist junge Handwerker-Ehepaare angesiedelt, die viele Eigenleistungen am Grundstück erbringen konnten. Wenn wir am Sonntag durch die Siedlung spazierten, da bemerkte meine Ehemalige oft genug.
„Sieh mal, wie die anderen den Garten schön eingerichtet haben, was dort für schöne Terrassen und Zäune gebaut worden sind.“
Die Neusiedler wetteiferten untereinander, ihre Häuser schöner und ansehnlicher zu gestalten, um vor dem Nachbarn angeben zu können. Dazu kam noch, dass viele junge Frauen stundenweise mithalfen, dem Ehemann finanzielle Unterstützung zu ermöglichen. Weder finanziell noch materiell erhielt ich von der großen Verwandtschaft Hilfe, im Gegenteil, manches wurde bemängelt und beredet, wofür ich beim besten Willen nichts konnte. Als Finanzbeamter, der keinen handwerklichen Beruf erlernt hatte, wagte ich mich an Arbeiten, wie Terrassen bauen, Zäune errichten, Tapezieren, Gartenbepflanzungen anlegen und noch vieles mehr, das mir aber nie richtig fachmännisch gelang.
Dazu kamen noch die Vorhaltungen meiner ersten Frau: „Siehst du, du hast doch keine Ahnung, lass das lieber andere machen, die schlauer sind als du!“
Die allgemeine Abneigung gegenüber „Bürohengsten“ mit zwei linken Händen, von denen die Finanzbeamten als die schlimmsten dargestellt wurden, war für meine Frau eine wohltuende Bestätigung ihrer eigenen Schlauheit.
Im Nachhinein kann ich sagen, dass die Siedlerjahre in Homberg-Meiersberg für mich mit Erfahrungen und Arbeiten ausgefüllt waren, die ich für interessant und lehrreich bezeichnen kann.
Meine fünf Kinder haben das Wohnen auf dem flachen Land sehr unterschiedlich erlebt. Die älteste Tochter Ursula, hatte ihre eigene kleine Wohnung in Düsseldorf und schien glücklich verheiratet zu sein. Lydia, die zweitälteste, die als Arzthelferin beruflich sehr zufrieden war, wohnte in einer kleinen Mietwohnung, und genoss ihre Unabhängigkeit von den Eltern. Renate, die dritte Tochter, wohnte nur so lange in Homberg, bis sie als kaufmännischer Lehrling im Kaufring-Einkaufszentrum einen festen Lehrvertrag in der Tasche hatte. Sie klammerte sich sehr an die beiden älteren Schwestern, die ihr gute Ratschläge erteilten, wie man die Zucht und Ordnung im Elternhaus umgehen kann. Angela besuchte die Realschule in Ratingen, und beklagte sich nicht über Unterrichtsprobleme. Nur mit dem jüngsten Sohn Thomas, der in Alt-Homberg eingeschult wurde, ergaben sich Schwierigkeiten. Er war ein aufgewecktes, munteres Kerlchen, der am liebsten mit seinem Vater auf den Feldern oder im Wald herum lief und ein freies unbeschwertes Jungendasein genießen wollte. Gern spielte er mit mir oder anderen Kindern Fußball, oder raste mit dem Fahrrad durch die Gegend. Er hatte keinen Kindergarten besucht, und ich hatte es versäumt ihm vor dem Schulbeginn irgendwelche Buchstaben oder Zahlen beizubringen. Zu allem Übel kam er in eine Klasse, die nach der neuen Ganzheitsmethode unterrichtet wurde. Dazu kam noch, dass ich nicht akzeptieren konnte, dass er als Linkshänder unmögliche Kreise und Striche zusammenkratzte, die Buchstaben und Ziffern darstellen sollten. Nach einem halben Jahr, wurden wir Eltern benachrichtigt, mit dem Jungen da stimmt etwas nicht. Er beteiligt sich nicht am Unterricht, kann dem Lehrstoff nicht folgen, und es sah danach aus, als ob er die erste Klasse wiederholen müsste. Meine Ehemalige war natürlich schockiert und lud ihren Frust an mir ab. „Ich hab` immer gewusst, dass du doof bist „, schrie sie mich an, „du kannst dem Thomas nicht einmal das ABC beibringen. Hast du Abitur oder hast du keins?“ fragte sie mich unsinniger weise.
Die Folge war, ich musste nach meinen Bürostunden mit Thomas sehr viel üben und ihm mit viel Geduld die Grundbegriffe des Alphabets beibringen, ehe er nach der neuen Lehrmethode ein paar Wörter entziffern konnte. Dass Thomas später das Abitur bestehen sollte, und sogar sechs Jahre lang auf der Duisburger Universität Volkswirtschaftskunde studieren sollte, dass hätte damals keiner gewagt vorher zusagen. Alle diese Probleme wirkten sich natürlich nicht Ehe fördernd aus. Es kam immer öfters zu Meinungsverschiedenheiten zwischen mir und meiner ersten Frau. Sie fühlte sich vernachlässigt und missverstanden, weil ich auch den Fehler beging, tagelang über alle diese Schwierigkeiten nicht zu sprechen. Ich hüllte mich in Schweigen, ich verkroch mich in meinem Zimmer, spielte Akkordeon oder las Bücher.
Für kurze Zeit hatte es meine Ehemalige verstanden, diese abnormalen Zustände zu kaschieren, als es hieß am 10.10.1976 wird unsere 25-jährige Silberhochzeit gefeiert. Eine Messe in Alt-Homberg wurde mit Kirchenchorbegleitung bestellt, anschließend ging es zum Essen in die „KRONE", in einen großen Saal einer Homberger Gaststätte, wo etwa sechzig geladene Gäste bei Wein, guten Speisen, Musik und Tanz einen schönen Nachmittag verlebten. Dass zu diesem Zeitpunkt die Ehe schon sehr an Zerwürfnissen gelitten hatte, das ahnten die wenigsten eingeladenen Gäste. Es wurde von meiner ersten Frau ein „Fest“ organisiert, wo sie ihre Bauernschläue und Verschlossenheit unter Beweis stellen konnte, und wovon noch lange gesprochen wurde. Meine Ehehälfte, die eine eifrige Sängerin im Dorfkirchenchor war, lud alle Mitsänger und Sängerinnen zu einem nachträglichen Festessen in unserem Partykeller, wobei eine heile Ehegemeinschaft vorgespielt wurde.
Ein Jahr später fand noch einmal im kleineren Kreis ein Festessen statt, als unser Thomas zur ersten heiligen. Kommunion gehe musste. Für die Kirche und die Täuschung von Verwandten und Bekannten, hatte meine Frau immer viel Geschick aufgebracht, so dass viele es nicht wahrhaben wollten, dass ich zum 1. April 1979 die Siedlerstelle heimlich verließ und mir eine kleine Zweitwohnung in Düsseldorf neben meiner Dienststelle zulegte.
Ehe ich die Vorkommnisse mit meiner Ehescheidung beschreibe, möchte ich noch voraus schicken, dass ab dem 1.7.1977 ein neues Ehescheidungsgesetz eingeführt wurde, wonach das Schuldprinzip fallen gelassen wurde. Das Wichtigste beim neuen Gesetz war der amtlich verordnete Versorgungsausgleich, das heißt der Finanzschwächere, in der Regel die Ehefrau, kam dabei gut davon. Sie konnte sich einen Liebhaber zulegen und den Ehemann so schikanieren, dass er es bei der Frau unmöglich aushalten konnte. Der so gehörnte Ehemann musste immer für alles bezahlen, die Schuldfrage an der Zerrüttung der ehelichen Gemeinschaft spielte keine Rolle. Meine erste Frau war offensichtlich besser informiert worden als ich, sie sprach des öfteren von einer Scheidung, sonst gäbe es noch ein großes Unglück in unserer Ehe. Dass sie in den ehelichen Pflichten sehr sparsam war, und die stärkste Waffe einer Frau, die sexuelle Begierde des Mannes zu ihrem Vorteil ausnutzte, das brauche ich nicht besonders zu betonen. Zusätzlich kam noch, dass meine älteste Tochter Ursula, sich auch mit Scheidungsabsichten befasste, so waren sich Mutter und Tochter einig, der Mann hat an allen ehelichen Schwierigkeiten Schuld und muss verschwinden.
Ich versuchte meine Ehe noch zu retten in dem ich eine katholische Eheberatungsstelle in Düsseldorf aufsuchte. Das Urteil des „Sachverständigen“ lautete: ...die Ehepartner sind wie Feuer und Wasser verschieden geartet, nur eine Scheidung kommt in Frage".
Mir wurde auch noch sehr verübelt, dass ich mich geäußert habe, ich hätte mit 5 Kindern genug für Vater Staat und Kirche geleistet, ich will keine weiteren Kinder mehr in die Welt setzen. Meine erste Frau hätte am liebsten ein Dutzend Kinder gehabt, nach dem Motto, wo 5 Kinder satt werden, dort wird auch das sechste satt, und so weiter, und so weiter. Der Höhepunkt aller absurden Anschuldigungen kam noch. Ich wurde beschuldigt, meine erste Frau vor der Ehe vergewaltigt zu haben. Plötzlich wurde behauptet, ich wäre ja gar nicht kirchlich verheiratet. Meine erste Frau reichte ein kirchenrechtliches Eheannullierungsverfahren ein. Die Anschuldigungen wurden beim erzbischöflichem Offiziliat in Köln angenommen und von verschiedenen kirchlichen Stellen in einem Zeitraum von 1981 bis 1988 „bearbeitet". Nach vielen Jahren nervtötendem Schriftverkehr wurde dann die Ehenichtigkeit nicht mehr angestrebt.
Wie viel Ärger mir dieses Aufhebungsverfahren einbrachte, daran darf ich gar nicht denken. Dann kommt mir heute noch die Galle hoch, dass die „Kirche“ nichts anderes zu tun hatte, als die Gehässigkeiten einer frustrierten Ehefrau noch zu fördern. Neben diesem kirchlichen Prozess, lief das zivilrechtliche Scheidungsverfahren vor dem Amtsgericht in Ratingen. Im Nachhinein kann ich behaupten, ich bin von vielen falsch beraten worden.
Als ich merkte, dass meine Ehe auf der neuen Siedlerstelle immer unerträglicher wurde, kam ich auf die Idee, diesen Wohnsitz aufzugeben, da, wie ich annahm, ich allein den Siedlerberechtigungsschein erhalten hatte. Dieses wurde mir auch von einem Beamten der Deutschen Bauernsiedlung bestätigt, und er meinte, wenn ich die Siedlerstelle nicht mehr bewirtschaften wollte, das wäre kein Problem. Ich müsste eben mit meiner Familie eine neue Wohnung suchen, und alle eingegangenen finanziellen Verpflichtungen ausgleichen. Der Zufall spielte Schicksal.
In meiner Dienststelle las ich das Angebot einer preiswerten Mietwohnung auf der Oberbilker Allee, die ich für einen Zeitraum für 5 Jahre mietete.
Ich blättere wieder in meinem Gedächtnis zurück, zur der Zeit, als ich im September 1978 das erste mal eine Kur beantragte. Mein Hausarzt hatte mir im Heilbad Neustadt an der Saale eine vierwöchige Heilbehandlung angeraten. Im Alter von 54 Jahren machten sich bei mir deutliche Verschleißerscheinungen bemerkbar, ich litt an Übergewicht, ich wog damals fast 70 Kg, und mein Kreislauf sollte durch Heilkuranwendungen gestärkt werden. Meine erste Frau war gegen die Kur, auch gegen den Ausweis von 50 % Erwerbsminderung, den ich mir vom Versorgungsamt ausstellen ließ. Sie behauptete permanent, ich sei zu allem zu träge, sie müsse sich von einem faulen Beamten scheiden lassen.
Als ich von der Kur zurück kam, hatten sich die Ehestreitigkeiten noch verstärkt, sie gipfelten in der Behauptung, ich sei ein unberechenbarer Krüppel, um den jede normale Frau einen großen Bogen machen würde. Im Ehebett spielte sich nichts mehr ab. Ich fühlte mich sehr gekränkt und begann einen Teil meines Gehalts nur gegen Empfangsbescheinigung an meine Frau auszuzahlen. Den Rest behielt ich für spätere Scheidungskosten oder unvorhergesehene Ausgaben. Im Dezember 1978 flog ich das erste Mal allein nach Spanien. Dort lernte ich eine verheiratete Frau kennen, die ähnliche Eheprobleme mit ihrem Mann hatte, wie ich sie mit meiner noch mit mir verheirateten Frau hatte. Diese Frau gab mir die Bestätigung, dass ich keineswegs für alle Frauen ein Berserker wäre, vor dem man Reißaus nehmen müsste. Im Gegenteil, ich verlebte in diesen zwei Urlaubswochen recht interessante und abwechslungsreiche Tage.
Das Weihnachtsfest 1978 verlief in stummer Gleichgültigkeit. Zu Silvester versuchte ich einen Neuanfang mit meiner Frau, den sie aber ablehnte. Sie behauptete immer wieder“: Ich kann dich nicht mehr riechen, verschwinde aus Homberg, sonst geschieht noch ein Unglück „.
Zu dieser Zeit besaßen wir noch den kleinen DAF 44 für dessen Unterhalt ich aufkam. Alle laufenden Auslagen, die mit der Bewirtschaftung der Siedlernebenerwerbstelle anfielen und alle Lebenshaltungskosten trug ich ohne zu murren. Von Verwandten und Bekannten erhielt ich in dieser Zeit viele Ratschläge, die sich später alle als falsch erwiesen. Mein hilfreicher Arbeitskollege Gerd G. versuchte zum letzten Mal eine Einigung zwischen mir und meiner Ehefrau zu erreichen. Alles war vergeblich. Ich bestellte noch die Frühjahrsaussaat im Garten und hoffte noch auf eine gütige Beilegung des Ehestreits. Meine erste Frau vergnügte sich unterdessen während den Karnevalsfestlichkeiten in Homberg und Ratingen. Als ich ihr erzählte, ich hätte eine kleine Zweizimmerwohnung nahe beim Finanzamt in Düsseldorf angemietet, da erschien sie erleichtert zu sein und versprach, mir beim Umzug zu helfen. Das Einpacken meiner persönlichen Sachen wie zum Beispiel Unterwäsche, Bettzeug, Schuhwerk, Kleidungsstücke und Bücher, bewerkstelligte meine Frau und bedrängte mich, die Wohnung so schnell wie möglich zu beziehen. Mit dem kleinen DAF 44 Wagen, der Sohn Thomas half mir dabei, fuhr ich mein bisschen Hab und Gut in die neue Wohnung in Düsseldorf. Anschließend brachte ich meinen Sohn mit dem Auto nach Homberg zurück und fuhr ohne Wagen mit der S-Bahn nach Düsseldorf zur Wohnung an der Oberbilker Allee. In den nächsten Tagen hatte ich genug zu tun, um mich in der neuen Situation zurechtzufinden. Lediglich meine Tochter Lydia erklärte mir, wie man eine Waschmaschine einschaltete, sie tröstete mich ein wenig in meinem tristen Dasein in der spärlich eingerichteten Dachwohnung.
Am schlimmsten waren die Wochenenden und Feiertage, wenn die Geschäfte in der Stadt geschlossen waren, und ich nicht zum Dienst zu gehen brauchte. Die Oster- und Pfingstfeiertage 1979 waren langweilig und ich fühlte mich so elend, dass ich am liebsten nach Homberg zur Familie zurückgefahren wäre. Ich besuchte damals noch Gottesdienste in verschiedenen Kirchen, wurde von Verwandten zum Kaffee eingeladen und war froh, als die Feiertage vorbei waren. Ich war noch keine Woche in meinem neuen Domizil und hatte mich wohlweislich als Mieter eines Zweitwohnsitzes angemeldet, als meine Noch-Ehefrau ihre wahren Absichten verriet.
Ich hatte gehofft, dass meine Familie die finanziellen Belastungen mit dem Unterhalt der Siedlerstelle nicht tragen könnte und in kurzer Zeit einen Kompromiss mit mir eingehen würde. Doch weit gefehlt. Mir wurde ein böswilliges Verlassen der Familie unterstellt, ich bekam einen Anruf von einem Rechtsanwalt aus Ratingen, der mich auf Unterhalt meiner Familie verklagte.
Als Steuerobersekretär ging ich zu meinem Finanzamtsvorsteher Dr. Schneyer und bat ihn um Ratschlag. Er verwies mich an eine Studienkollegin, die als Scheidungsanwältin mich im nachfolgenden Scheidungsverfahren vertreten sollte.
In der kleinen Dachgeschosswohnung im vierten Stock fühlte ich mich allein gelassen, nicht ausgelastet und recht unwohl. Mir fehlte der gewohnte Umgang mit der Familie, zu allem stellte ich mir immer wieder die Frage, was ich alles im Leben falsch gemacht hatte. Den Trost und die Hilfe, die ich von meinen Geschwistern erhielt, war unbedeutend, wenn nicht manchmal sogar falsch. Mir wurde immer wieder eingeredet, ich hätte doch die Voraussetzungen für die Siedlerstelle allein erbracht, und meine Frau hätte mich mit anderen Männern betrogen. Das war aber für die Scheidungsanwälte uninteressant. Nach dem neuen Scheidungsgesetz war ich verpflichtet, für Frau und zwei minderjährige Kinder zu sorgen. Um an Lebenshaltungskosten einzusparen, fuhr ich nach Homberg und holte das DAF44 Auto aus der Garage, um es zu verkaufen. Bei dieser Gelegenheit wurde ich des Diebstahls eines auf meinen eigenen Namen zugelassenen Autos bezichtigt. Ich gab ein Inserat auf, um den Wagen zu verkaufen, und mir gelang es, für das Auto noch 500 DM zu bekommen. Bei dieser Gelegenheit stellte ich fest, dass meine Noch-Ehefrau das Haustürschloss ausgewechselt hatte. Außerdem hatte sie sich einen Telefonanschluss anbringen lassen und den Kindern verboten mit dem Vater Kontakte zu unterhalten. Nach etwa zwei Monaten fuhr meine Ehemalige als „Beamtenfrau“ zur Kur, und ich sollte mich um die minderjährigen Kinder kümmern. Es war zur Zeit der großen Sommerschulferien, als ich unangemeldet zu meiner Homberger Wohnung fuhr. Meine sechszehnjährige Tochter Angela hatte sich mit einem Schulfreund im Hause eingeschlossen. Erst als ich ihr 20 DM versprach, und mit der Polizei drohte, öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer. Die herbeigerufene Polizei kümmerte sich nicht darum, dass meine zwei Kinder allein im Hause wohnten. Als ich meine langjährige Wohnung betrat, stellte ich Veränderungen fest, die auf die Anwesenheit von einem „Hausfreund“ deuteten. Während ich für 3 Stunden meine Rechte als Besitzer der Siedlerstelle demonstrierte, wurde ich von meinen Töchtern Ursula, Renate und Angela enttäuscht, die mir erklärten, die Mutter hätte alle Kinder beauftragt, mich nicht mehr ins Haus hereinzulassen. Zudem hätte ich alle Rechte an der Siedlerstelle verwirkt, denn ich hätte böswillig die Familie verlassen, und ich wäre dabei, alles zu zerstören.
Diese Vorhaltungen hatten mich sehr schmerzhaft getroffen und mir wurde bewusst gemacht, dass ich nicht nur das schwer erworbene Haus verloren hatte, nein auch das Vertrauen meiner Kinder. Machtlos und rechtlos zog ich ab und versuchte in Düsseldorf in der kleinen Wohnung meine Sorgen zu vergessen. Da ich oft kleine Bastelarbeiten verrichtet hatte, begann ich Radios und einen alten Fernsehapparat auseinander zunehmen um den technischen Zusammenbau besser kennen zu lernen. Ich tapezierte meine Dachwohnung, richtete sie nach meinem Geschmack ein, und ich empfing auch öfters Besuche von Bekannten, Verwandten und Kindern, die mich in dieser schweren Zeit trösteten.
Das Kochen und sich selbst zu versorgen war nicht problematisch, für Geld konnte ich mir alles kaufen. Ich war aber niemals verschwenderisch. Meistens kaufte ich bei ALDI oder DIVI billige Lebensmittel und aß und trank alles, auf was ich gerade Lust hatte. Zur Wohnung gehörte auch ein Badezimmer und ein großes Wohnzimmer in dem ich manchmal bis acht Leute bewirtete. Mich störte an der praktisch eingerichteten Wohnung, dass ich gezwungen war, ohne Aufzug immer vier Stockwerke hinauf zu laufen.
Vom kleinen Dachgeschossfenster aus sah ich nur einen kleinen Teil der gegenüberliegenden Straßenseite, so dass mir der unmittelbare Kontakt mit der Umwelt fehlte. Mich ärgerte, dass ich für alles bezahlen musste und nach fast 30 Ehejahren in einer kinderreichen Familie plötzlich allein war. Diese Situation kann keiner nachempfinden, der nicht selbst in einer solchen Lage war.
Ich beschwerte mich bei der Deutschen Bauernsiedlung in Düsseldorf, beim Petitionsausschuss der Landesregierung NRW über das Unrecht, das mir angetan wurde. Keiner konnte mir oder wollte mir helfen. Ich bezahlte für zwei Wohnungen mit allen Nebenkosten, und musste mit allen Problemen allein fertig werden.
Oft bekam ich Einschreibebriefe vom Scheidungsanwalt meiner Frau, in denen immer wieder neue Geldforderungen erhoben wurden. Das Gute dabei war die Tatsache, dass ich zu dieser Zeit eine leichte Finanzamtstätigkeit ausüben konnte. Ich war Sachbearbeiter in der Kassenaufsicht geworden, und konnte Arbeiten delegieren, die ich früher allein mache musste. Zudem hatte ich Kollegen gefunden, die mir in dieser kritischen Zeit sehr viel Verständnis entgegen brachten. Mit der Zeit habe ich die Kontakte zu meinen Kindern intensiviert und bei meinen Geschwistern fand ich Hilfe bei der Bewältigung meiner Probleme. Außerdem bin ich mehrmals nach Spanien in Urlaub geflogen, wo ich Leute kennen lernte, die noch viel Schlimmeres im Leben durchhalten mussten.
Bei einer dieser Urlaubsflüge nach Arenal lernte ich eine Witwe aus dem Sauerland kennen, bei der ich im ersten Halbjahr 1980 für sechs Wochen wohnte, um von dort aus Anwendungen im Kurort Berleburg zu erhalten. Dieser Kuraufenthalt war mir vom Hausarzt dringend empfohlen worden, um meinen Gesundheitszustand zu verbessern, der sehr unter dem Alleinsein während der Scheidungszeit gelitten hatte. Überraschend besuchten mich die Töchter Renate und Angela in Hatzfeld, weil ich als erziehungsberechtigter Vater von Angela meine Unterschrift unter einen von ihr unterschriebenen Lehrvertrag setzen sollte. Nach bestandener mittlerer Reifeprüfung hatte sich Angela verpflichtet, eine 3-jährige kaufmännische Lehre in einem Eisenwerk in Ratingen zu absolvieren. Ich muss dazu erwähnen, dass Angela die Prüfung vor der Industrie und Handelskammer mit gut bestanden hat. In späteren Jahren hat sie in Abendkursen das Fachabitur nachgeholt und einige Semester Kunstgeschichte studiert. Angela arbeitete in der Werbebranche und als alleinstehend, hatte sie sich mit ihren Freunden das Leben so gestaltet, wie es ihr am besten erschien.
Die abwechslungsreichen Monate bis zum Scheidungstermin vergingen wie im Flug. Als ich am 23. September 1981 eine Vorladung vom Amtsgericht in Ratingen erhielt, sah ich keine Möglichkeit mehr, meine Ehe Aufrechterhalten. Ich wurde rechtskräftig geschieden, wobei im Rahmen des Versorgungsausgleichs meiner geschiedenen Frau eine Rentenanwartschaft in Höhe von ca. 700 DM übertragen wurde. Das Sorgerecht für den Sohn Thomas erhielt meine geschiedene Frau. Thomas besuchte nach abgeschlossener Volksschule in Homberg ein Gymnasium in Ratingen, wo er auch das Abitur bestand. Nach dem Schulabschluss erlernte er in zwei Jahren das nötige Rüstzeug bei der DEUTSCHEN BANK. Doch er wollte (sollte) etwas Höheres erreichen. Er kündigte den Job und begann an der Universität in Duisburg Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Mit fast 30 Jahren hat er das Studium erfolgreich beendet und arbeitet momentan im Büro bei einer japanischen Baufirma. Wenn ich den beruflichen Werdegang von Thomas und Angela kurz skizziert habe, so möchte ich nicht versäumen, dass auch die drei anderen Mädchen beruflich sich durchs Leben boxten, und heute im Jahre 2002 viele Erfahrungen gesammelt haben, die für meine Begriffe nicht immer nachvollziehbar sind.
Renate, die bei einem Warenhauskonzern als Verkaufslehrling angefangen hatte, versuchte in verschiedenen Jobs ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Ob es immer richtig war, was sie getan hat, das entzieht sich meiner Kenntnis. In jedem Fall ist sie seit fünf Jahren mit einem tüchtigen Ingenieur verheiratet, der als Witwer für seine Tochter eine liebevolle Frau suchte. Die Ehe mit Franz Spitznagel und Tochter Jasmin scheint zu funktionieren. Sie wohnt in Marktheidenfeld und hat keine finanziellen Probleme.
Lydia, meine zweite Tochter, hatte sich für einen sozialen Beruf entschieden. Sie bestand die Prüfung als Arzthelferin und arbeitete mehrere Jahre sehr fleißig und selbständig in mehreren Arztpraxen, bis sie einen jungen belgischen Soldaten kennen lernte, der für sie die große Liebe sein sollte. Sie heiratete kurzfristig, verlegte den Wohnsitz in die Nähe von Antwerpen und begann mit ihrem Mann Marcel van der Avert eine selbständige Tätigkeit als Grundstückmakler und Seminarleiter für Nachwuchskräfte. Heute lebt sie schon seit fast 20 Jahren in Zoersel in einer vornehmen Villensiedlung. Sie hat zwei liebe Töchter Valerie und Melanie, und nach dem vorhandenen Wohnhaus zu urteilen, scheint sie „reich“ geworden zu sein. Hoffentlich kann sie ihren aufwendigen Privatbesitz noch recht lange genießen. Von meiner ältesten Tochter Ursula kann ich berichten, dass sie nach der 2-jährigen Bürolehre im Mannesmann-Hochhaus mit kaum 19 Jahren heiraten musste. Ihre Ehe wurde nach fünf Jahren geschieden und sie verstand es, mit viel Mut und Fleiß das Einzelkind Röttger zu erziehen, das neben Abitur das zahnärztliche Praktikum bestanden hat. Ihn kann man unter kluge, gut aussehende junge Männer einreihen. Ursula hat ein zweites Mal geheiratet und wohnt mit ihrem Mann in einer komfortablen Mietvilla in der Nähe von Viersen. Sie haben als selbständige Unternehmer einen Handelsvertrieb von Industrieerzeugnissen aufgebaut, von dem sie ganz gut leben können. So gesehen kann ich froh sein, dass alle meine Kinder beruflich und privat im Leben recht gut zurechtkommen. Ich habe sporadische Kontakte mit ihnen, und kann mich im Vergleich zu anderen Kindern nicht beklagen.
Zum Lebenslauf meiner Exfrau kann ich erwähnen, dass sie ohne erlernten Beruf im Alter von 20 Jahren mich heiraten musste. Es folgten fast 30 Ehejahre mit allen Höhen und Tiefen mit einem für ihre Begriffe recht treudoofen Ehemann. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor, die alle recht selbständig ihre eigenen Wege gehen. Nach der Scheidung heiratete sie zum zweiten mal am 23.2.1984 den Hausbesitzer Erwin Mixen, der in Grefrath wohnhaft ist. Für mich war diese Verheiratung ein großer Gewinn. Seit diesem Tage brauche ich keine Alimente mehr zu bezahlen, weder für meine Kinder noch für sie. Außer einigen Zufallskontakten habe ich zu meiner ersten Frau keine Verbindung. Trotz einiger negativer Eigenschaften, hat sie es verstanden, für sich und die Kinder ein Vermögen zusammenzuheiraten, das für manche Frauen nachahmenswert erscheint.
Ehe ich über mein weiteres Leben weiter berichte, muss ich in meinem Gedächtnis bis zu dem Tage zurückblättern, an dem ich rechtskräftig geschieden wurde. Dass ich kein Glück mit dem Kauf der Siedlernebenerwerbstelle hatte, das habe ich schon erwähnt. Ich hatte mit der Deutschen Bauernsiedlung einen Kaufvorvertrag unterschrieben, in dem alle Rechte und Pflichten erwähnt waren. Der Eigentümer war die oben angegebene Bauernsiedlung, und ich war nur der Benutzer des Grundstücks. Zwischenzeitlich waren die Siedlerstellen zum großen Teil in die Grundbuchamtsbücher eingetragen worden, nur bei der Parzelle Homberg-Meiersberg, Herderstraße Nr. 48 stand die Grundbucheintragung noch offen. Meine Ehemalige bedrängte mich, dass ich auf das gemeinsam erworbene Grundstück verzichten sollte, dafür bot sie mir 30000 DM an. Wieder wurde ich falsch beraten, es hieß damals, niemals auf das Haus verzichten, sie muss das Grundstück verlassen. Doch ich hatte mich ja ins Abseits gestellt, hatte quasi auf meine Rechte am Grundstück verzichtet. Ich wäre leer ausgegangen, wenn ich nicht auf Zuraten meines Bruders Walter, die letztendlich ausgehandelte Summe von 25000 DM angenommen hätte. Ich unterschrieb eine Verzichtserklärung auf alle Rechte am Grundstück in Homberg und zahlte das Geld auf ein Sonderkonto ein. Meine jetzige Frau Trudi geb. Derichs war vor 5 Jahren dafür, dass ich das Geld an meine Kinder verteile, damit es später bei meinem Todesfall nicht zu Erbstreitigkeiten käme. Ich zahlte jedem Kind ca. 5000 Mark aus und ließ mir Erbanspruchverzichtserklärungen geben. Seit diesem Tage habe ich ein gutes Verhältnis zu meinen Kindern, denn sie haben erkannt, dass ihr Vater kein geldgieriger, egoistischer Trottel ist, sondern er handelte nach dem Motto: Was man den Kindern mit warmen Händen gibt, das zählt doppelt, nach dem Tode kommt jeder Dank zu spät.
Meine Finanzamtskollegen bestätigten mir öfters: „Gerhard, seitdem du allein lebst und geschieden bist, da bist du viel umgänglicher geworden, du hast dich sehr zu deinem Vorteil verändert.“
Ich legte auch mehr Wert auf mein äußeres Aussehen. Ich kaufte mir moderne Herrenhemden, und bei einem Tanzabend im Haus Kolvenbach lernte ich eine Witwe kennen, mit der ich fast 5 Jahre lang viele Gemeinsamkeiten pflegte.
Meine Hemmungen gegenüber Frauenbekanntschaften hatte ich größtenteils abgelegt, und als ich geschieden war, lernte ich mehrere Frauen kennen, die mich auch geheiratet hätten. Doch ich war ein gebranntes Kind, und scheute das Feuer. Trotzdem war es für mich immer wieder interessant mit ungebundenen Frauen zum Tanzen auszugehen, wobei ich sie gezielt ausfragte, was für Erfahrungen sie mit Männern gemacht hatten, und was sie für Vorstellungen in der Zukunft hätten. Dabei stellte ich fest, dass Frauen allgemein sehr materialistisch eingestellt waren. Als sie hörten, ich wäre ein geschiedener Finanzbeamter mit einer Pensionsberechtigung, da waren sie meistens nicht abgeneigt mit mir eine engere Beziehung einzugehen.
Als Sachbearbeiter in der Kassenaufsicht im neu erbauten Finanzamt Düsseldorf-Mitte habe ich eine Beurteilung erworben, auf die ich stolz bin.
Meine Unterdrückungen durch meine erste Ehefrau hatte ein Ende, ich konnte mich frei entwickeln und meine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Man könnte aber auch behaupten, beruflich ging es mit mir bergauf, aber privat ging die Ehe den Bach hinunter.
Ich war allein und musste mich neu orientieren. Als ich fast sieben Jahre lang allein lebte, kaufte ich mir, während ich schon pensioniert worden war, einen gebrauchten Personenwagen. Ich wollte mich selbst bestätigt wissen, ob ich mit 60 Jahren noch imstande wäre, sich im Autoverkehr zurechtzufinden. Ich erwarb ein VW-Auto mit 45 PS und Fließheck-Gehäuse, den ich in Hatzfeld bei meiner Bekannten gesehen hatte. Meine beiden Töchter Renate und Angela halfen mir das Auto nach Düsseldorf zu transportieren, und in der Folgezeit unternahm ich mehrere Fahrten ins Sauerland. Den Wagen hatte ich für 2000 Mark gekauft, und als größere Reparaturen anfielen, schenkte ich das Vehikel meiner Tochter Angela, die mir als kleines Dankeschön 100 DM dafür gab.
Meinen sechzigsten Geburtstag feierte ich mit meinen Verwandten und Arbeitskollegen im Bach-Restaurant an der Kruppstraße. Es war ein gelungenes, fröhliches Beisammensein, bei dem ich anklingen ließ, dass ich nicht mehr lange im den Dienst als Beamter ausüben wolle.
Die Umstellung der Finanzkasse auf das Kontokartenverfahren mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung hatte das Arbeitsklima verschlechtert und Probleme aufgebracht, die ich nicht so leicht bewältigen konnte. Mir erschien die neue Computertechnik als ein Buch mit sieben Siegeln. Doch aus technischem Interesse heraus, und um mich als Pensionär noch geistig zu betätigen, kaufte ich mir einen LAP-TOP mit Drucker und begann, Geschichten und Gedichte zu speichern, von denen auch manches veröffentlicht wurde.
Ich war auch immer fleißig beim Erraten von Kreuzworträtseln, und manche langweilige Stunde überbrückte ich mit intensivem Suchen nach Lösungswörtern. Dass ich fleißiger Benutzer von Leihbüchern aus der Städtischen Bücherei am Hauptbahnhof war, das möchte ich nur am Rande erwähnen.
Samstags kaufte ich mir oft die Rheinische Post und las die Heirats- und Bekanntschaftsanzeigen. Ich fand manche interessante Anzeige, auf die ich mich auch meldete, so dass ich Menschen kennen lernte, die alle irgendwie vom Schicksal verfolgt waren. Das lehrte mich aber, meine eigenen Sorgen besser zu ertragen.
Ein wichtiger Wendepunkt in meinem Leben war das Ausscheiden aus der aktiven Beamtenlaufbahn am 22.August 1985. Ich erhielt eine Urkunde in der vermerkt war, dass ich auf eigenen Antrag in den Ruhestand versetzt wurde.
In einer Beurteilungsurkunde wurde mir Fleiß, Schnelligkeit, umsichtiges und verantwortungsbewusstes Arbeiten bescheinigt mit dem Zusatz, dass ich schwierigen und anhaltenden Belastungen gewachsen bin.
Innerhalb von zehn Jahren habe ich die mittlere Beamtenlaufbahn durchlaufen, ich wurde zum Amtsinspektor mit Zulage beim Finanzamt Düsseldorf-Mitte ernannt, und mit der Besoldung nach der Gehaltsstufe Gruppe IX konnte ich mit meinen beruflichen Leistungen zufrieden sein.
Dass meine Ehe scheiterte, daran war ich nicht allein schuld. Ich hatte viele Fehler begangen, doch aus Fehlern habe ich viel gelernt, und hoffe, dass ich dieselben Fehler nicht noch einmal begehe. Ich wäre wohl noch längere Zeit allein geblieben, d. h. ich hätte nicht ein zweites Mal geheiratet, wenn nicht das Schicksal, wie so oft in meinem Leben, eine große Rolle spielte.
Wie ich schon oben erwähnt habe, war ich kein Einzelgänger, obwohl mir das fälschlicherweise unterstellt wurde. Ich brauchte immer das Gespräch mit Gleichgesinnten, oder auch mit Frauen, die mir ein Mindestmaß an Verständnis entgegen brachten. Im März 1986 hatte ich einen dreiwöchigen Urlaub nach Arenal auf Mallorca gebucht. Im Hotel traf ich auf eine junge Wienerin, eine kaum 50 -jährige nette, gut aussehende ehemalige Klosterangehörige. Diese Frau hatte kurz vorher den Orden verlassen, war ziemlich antireligiös eingestellt, d. h. sie berichtete mir viel von den Ungereimtheiten, die sich hinter den Klostermauern abspielten. Mich faszinierte der leichte österreichische Dialekt, ich ging mit ihr tanzen, und wir verlebten zwei wunderschöne Wochen unter Spaniens blauem Himmel.
Meine gute, uneigennützige Bekannte Anni Kluger im Sauerland riet mir dagegen, ich sollte mir eine gute, vernünftige, zu mir passende Frau suchen und alle „Eintagsfliegen“ vergessen.
Ich befolgte ihren Ratschlag und hielt in verschiedenen Zeitungen fleißig Ausschau nach Anzeigen von Partnerschaftsangeboten, die in etwa meinen Vorstellungen entsprachen. Auf solche Inserate antwortete ich auch mehrmals. Als ich am Fronleichnamfeiertag 1986 wieder allein in meiner Düsseldorfer Wohnung war, da klingelte abends das Telefon und eine liebliche Stimme fragte mich, ob Herr Rieger am Apparat sei. Es war abends nach der Tagesschau im ersten Programm, und ich hatte mich gerade auf dem Bett bequem zurechtgelegt. Ich bejahte die Frage und erfuhr, dass meine anvisierte Zeitungsbekanntschaft meine Zuschrift für beachtenswert befunden hatte.
„Entschuldigen Sie, wenn ich heute nicht viel mit Ihnen reden kann, denn ich bin müde aus meinem Spanienurlaub zurückgekehrt", unterbrach ich sie, „ können wir uns nicht einmal treffen, dann lässt es sich doch besser über alles sprechen.“
„Ja, gut, wenn Sie wollen, dann kommen Sie morgen um 16 Uhr zur Haltestelle vor dem Kaufhaus Horten in Neuss, ich werde dort sein. Schlafen Sie sich erst Mal aus. Gute Nacht!“
„Das war kurz und bündig „, schoss es mir durch den Kopf, machte mir aber keine weiteren Gedanken, sondern schlief in dieser Nacht ziemlich schnell ein.
Warum ich auf die Partnerschaftsanzeige im Düsseldorfer Rheinboten antwortete, dazu muss ich erwähnen, dass der kurze Text mich zur Überlegung führte, dieses Mal könnte es die richtige Frau sein. Die folgenden Zeilen, die, wie ich später erfahren habe, von der fürsorglichen Tochter Erika heimlich als Muttertagsüberraschung an die Zeitung geschickt worden waren, sollten für mich der Beginn einer großen Lebensumstellung sein. Der Text lautete: SIE, 56/1.58, 48 kg, häuslich, leicht gehbehindert, sucht lieben und aufrichtigen Partner für gemeinsame Freizeit, Urlaub etc. Nichtraucher angenehm. Zuschriften unter D04078 an unsere Geschäftsstelle.
Da ich durch den Unfall im frühen Kindesalter, den ich im ersten teil dieser Familiengeschichte erwähnt habe, recht klein geblieben bin, und auch eine leichte Rückgratverletzung davongetragen habe, war ich der Meinung, dass eine Frau, die leicht behindert ist, auch meine Abnormalitäten leichter akzeptieren wird. Der Altersunterschied war kein Hindernis, die Nachbarstadt Neuss war schnell zu erreichen, und schon fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit, stieg ich etwas zögernd aus der Straßenbahn, um den Treffpunkt zu suchen.
Die Gewichtsangabe von 48 kg hatte mich etwas stutzig gemacht, ich wog damals fast 65 kg, und es stand für mich fest, dass meine Partnerschaftskandidatin keine riesige Frau sein konnte. Nichtraucher war ich auch, und in den Urlaub wollte ich nicht immer allein fahren, das war mir auf die Dauer zu riskant. Nachdem ich ausgestiegen war, schaute ich mich scheu an der Haltestelle um. Auf einer eisernen Bank vor dem Einkaufshaus saß eine zarte, gut gekleidete, zierliche Frau, die scheinbar achtlos vor sich hinschaute.
„Das ist sie!“ schoss es mir in den Kopf.
Mir viel ein Stein vom Herzen, sie war gekommen, genau so pünktlich wie ich, und die erste Augenscheinnahme verlief positiv. Zaghaft näherte ich mich ihr und mit einer kleinen Verbeugung fragte ich: „Entschuldigen Sie, ich warte hier auf eine Frau Krepek, sind Sie das zufällig?“
Ein Blick aus rehbraunen Augen traf mich prüfend, ein Aufleuchten ging über ihr ganzes Gesicht und mit fester Stimme antwortete sie: „Ja, das bin ich, und Sie sind der Herr Rieger aus Düsseldorf?“
Nach ihrer Figur zu urteilen, so hatte ich sie mir vorgestellt und als sie aufstand, bemerkte ich, dass ihr rechtes Bein unwesentlich verkürzt war. Ich gab ihr die Hand, verbeugte mich leicht und: „Wollen wir nicht ins Kaufhaus gehen, in die Cafeteria, dort können wir besser sitzen und uns unterhalten.“
Als ich voran ging, spürte ich ihre Blicke auf meinem Rücken, und fühlte mich dabei nicht wohl.
„Ob, sie sich an meiner Größe stört?“ fragte ich mich lautlos.
Etwas unsicher bahnte ich mir den Weg zur Cafeteria im zweiten Stock, darauf achtend, dass sie hinter mir herging. Zwei leere Stühle an einem Ecktisch waren der richtige Platz zum Gedankenaustausch.
„Wollen wir uns dorthin setzen?“ fragte ich aufmerksam, schob ihr einen Stuhl zu Recht und wartete bis sie Platz genommen hatte. Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber und begann etwas stockend die ersten Sätze zu formulieren.
„Die Straßenbahn fährt ja schnell von Düsseldorf nach Neuss, keine halbe Stunde, aber entschuldigen Sie, was darf ich Ihnen zu trinken bestellen? Vielleicht einen Kaffee mit Kuchen?“
„Nein, danke, keinen Kaffee, wenn ich um ein Glas Mineralwasser bitten darf, das trinke ich am liebsten.“
„Oh, bescheiden ist sie auch noch, das ist ja gut!“ ging es mir durch den Kopf. Schnell erhob ich mich und eilte zur Getränketheke.
„Ein Flasche Wasser bitte, und eine Cola", bestellte ich, bezahlte gleich den unwesentlichen Betrag und kam mit zwei Flaschen zurück.
„So, das hätten wir, darf ich Ihnen einschenken?“ fragte ich wie ein Kavalier alter Schule. Ich wartete bis sie sich selbst ihr Glas gefüllt hatte.
„Na, dann Prosit!“ fuhr ich mit dem unterbrochenem Gespräch fort und musterte aus den Augenwinkeln heraus meine Gegenüber.
„Frau Krepek heißen Sie, wenn ich Sie richtig verstanden habe, was mich interessiert, sind Sie alleinstehend oder wohnen Sie mit Kindern zusammen?“
„Nein, nein, ich bin geschieden, ich habe eine Tochter, Sie wohnt hier auch in Neuss, ich arbeite noch, meistens von früh um sechs bis zwei Uhr nachmittags und freue mich Sie kennen zu lernen.
„Oh, arbeiten tut sie auch noch“, registrierte ich blitzschnell, „das ist nicht schlecht.“ „Ich bin ja schon pensioniert“ wandte ich ein, „ich bin auch geschieden und möchte eine Frau kennen lernen, mit der ich Gemeinsamkeiten entwickeln kann.“
„Was verstehen Sie unter Gemeinsamkeiten?“ lautete ihre Gegenfrage.
Sie räusperte sich, und was ich daraufhin geantwortet habe, und was ich im Einzelnen alles gesagt habe, an das kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Ich weiß nur, dass meine neue Bekannte aus der Zeitung nicht so viel fragte und redete wie ich es tat. Sie achtete auf meine Aussprache, meine Gesichtsmimik und registrierte sehr genau alle meine Aussagen. Nachdem wir die Getränke ausgetrunken hatten, machte ich den Vorschlag, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen.
„Ich kenne die Stadt nur wenig, vielleicht sind Sie so gut, Frau Krepek, und Sie zeigen mir, wo hier die Altstadt ist.“
„Eine Altstadt gibt es nicht in Neuss, dafür haben wir einen schönen Marktplatz, dorthin können wir gehen, und wenn Sie wollen, dann gehen wir ein Stückchen weiter, bis zu meiner Wohnung.“
„Ist das weit?“ fragte ich neugierig.
„Nein, nein, bis zur Kanalstraße, gehen wir vielleicht 10 Minuten, bei Gelegenheit zeige ich Ihnen meine Unterkunft.“
Diese Antwort verblüffte mich und erfreute mich zugleich.
„Oh, das finde ich aber nett, dass Sie soviel Vertrauen zu mir haben, hoffentlich enttäusche ich Sie nicht.“
„Danach sehen Sie aber nicht aus, ich habe einen Blick für Menschen, und als ehemaliger Beamter werden Sie ja wohl nicht gleich über mich herfallen", antwortete sie zweideutig.
Wir gingen ein paar Minuten schweigend an einer großen Bushaltestelle vorbei, und blieben vor dem Haus Nr. 39 an der Kanalstraße stehen. Meine Begleiterin öffnete die Haustür, dann noch einmal eine Seitentür zu einer Parterrewohnung, die bescheiden aber sauber eingerichtet war. Eine längliche Küche, mit einem großen kombinierten Wohnzimmer mit Schlafgelegenheit und einem länglichen Badezimmer wo Waschmaschine und Frisiertoilette standen, rundete das Bild von einer kleinen, gemütlichen Wohnung ab.
„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ wandte sich meine zarte Begleiterin an mich.
„Ja, natürlich, wenn Sie etwas Trinkbares haben, aber keinen Alkohol bitte, und wenn Sie können, dann schalten sie bitte das Radio ein, ein bisschen Musik kann nicht stören? Nicht wahr?“
„Keinesfalls, ich mag sogar gute Musik, auch Tanzmusik.“
„Können Sie tanzen?“ Ohne ihre Bestätigung abzuwarten, sagte ich mit einer kleinen Verbeugung: „ Darf ich Sie bitten?“
Bei flotter Radiomusik drehten wir einige Runden, die bei der Enge des Raumes bescheiden ausfielen.
„Oh, wenn Sie gerne tanzen, dann mache ich Ihnen den Vorschlag, wir treffen uns das nächste Mal im Tanzlokal Weindorf in Düsseldorf, am besten gleich jetzt am Sonntag um 16 Uhr zum Nachmittagstanzkaffee.“
„Ich bin einverstanden, hoffentlich sind Sie auch pünktlich zur Stelle!“ „Selbstverständlich, wie können Sie an den Worten eines Beamten zweifeln?“
Meine Gastgeberin stand auf, sie suchte in einem Schrank eine Schale mit Kartoffelchips, und dabei fiel mir die Ordnung auf, die darin herrschte. Handtücher, Taschentücher, Unterwäsche, Schuhwerk, Strümpfe und allerlei Kleinigkeiten lagen wohlgeordnet und griffbereit in ausgelegten Fächern. Ich schaute mich in der Wohnung um. Kein Stäubchen Schmutz war zu entdecken, was mich in wohltuendes Erstaunen versetzte. Die hellen Gardinen passten zur Wohnungseinrichtung, ein moderner Hängelampenschirm verbreitete einen nicht zu grellen Schein über den ganzen Raum. Nach fast zwei Stunden verabschiedete ich mich mit Dank für die Gastfreundschaft und dem Versprechen, am Sonntagnachmittag rechtzeitig vor dem Tanzlokal zu erscheinen.
Der altbekannte Treffpunkt für jung und alt, Weindorf an der Adersstraße, war mir von früheren Zeiten wohlbekannt. Hier hatte ich manche schöne Stunde mit Damen verbracht, die nach Düsseldorf gekommen waren, um etwas zu erleben, oder die nur aus Spaß an der Musik mit mir tanzen wollten. Ich hatte mich schon um halb vier eingefunden, als ich von weitem eine junge Frau im schwarzen Faltenrock und blütenweißer Bluse heran eilen sah. Mit ihrem schön zurechtgemachten Haarschmuck, erschien sie mir wie eine Fee aus dem Märchenland.
„Das ist doch Frau Krepek aus Neuss“, registrierte ich erfreut und ging auf sie zu, um sie zu begrüßen. Selbstsicher geleitete ich sie ins halb leere Lokal und führte sie an einen Tisch nahe an der Tanzfläche. Das Lokal mit fantastischer Innenausstattung, war der richtige Ort, wo man ungezwungen nähere Damenbekanntschaften machen konnte.
„Wie gefällt es Ihnen hier? Hoffentlich gut, und was darf ich für Sie bestellen?“ fragte ich ohne Umschweife und lehnte mich in Gönnerpose auf einem weichen Plüschsessel zurück.
„Ich trinke nur ein Gedeck mit Wasser", antwortete meine Tanzpartnerin mit verheißungsvollem Blick. Aus überdimensionalen Lautsprechern erklang dezente Plattenmusik, der Saal füllte sich mit tanzfreudigen älteren Menschen, und als das Mineralwasser mit meinem Bier kam, da war ich froh, eine für meine Größe passende Frau gefunden zu haben, die auch noch gut tanzen konnte. Als um Punkt vier Uhr eine 5-Mann Musikkapelle zu spielen anfing, wartete ich nur kurz, bis ich meine neue Bekannte aus Neuss auf die Tanzfläche führte. Sie ließ sich federleicht führen, trotz ihrer einseitigen Beinverkürzung, konnte ich mit ihr alle Tänze ausführen, wie ich sie mit niemandem vorher fertig gebracht hatte.
„Das hat ja wunderbar geklappt, ich bedanke mich", flüsterte ich ihr zu und führte sie zum Tisch zurück. Nach einigen Tänzen war ich vom Bier und der beschwingten Musik leicht berauscht und wagte ihr mein Du anzubieten.
„Liebe Frau Krepek, ich bin ja einige Jahre älter als Sie, darf ich Sie mit ihrem Vornamen ansprechen? Ich heiße Gerhard, und wenn Sie nichts dagegen haben, dann kannst Sie Du zu mir sagen.
„Und ich heiße Trudi", kam die prompte Antwort. Die anschließende Unterhaltung verlief nun viel flotter und unbeschwerter. Was ich alles mit ihr gesprochen habe, das kann ich heute nicht mehr mit Einzelheiten wiedergeben. Jedenfalls verbrachte ich mit ihr einen sehr netten Sonntagnachmittag, und als um 18 Uhr die Musik zu spielen aufhörte, waren wir beide etwas enttäuscht.
„Das war ja wohl heute der Anfang für schöne Tanzstunden", wagte ich meine Trudi zu überreden, was mit freundlichem Blick und frohem Auflachen bestätigt wurde.
Ich ging mit ihr zur Haltestelle am Graf-Adolf-Platz und machte ihr den Vorschlag, wenn sie nichts dagegen hätte, dann käme ich bei schönem Wetter mit dem Fahrrad nach Neuss gefahren, um unsere Bekanntschaft noch zu vertiefen.
„Ja, ja, mir ist es recht, wenn du willst, dann komm am Mittwoch wieder so um vier Uhr nachmittags zu mir, dann mache ich dir einen guten Kaffee.“
„Da freue ich mich schon heute drauf, ich komme bestimmt", erwiderte ich froh und winkte zum Abschied mehrmals mit meiner Mütze in der Hand. Sie stieg in die Straßenbahn Nr. 9, die zur Stadthalle in Neuss fuhr und war bald meinen Blicken entschwunden. In den folgenden Wochen und Monaten sollte ich noch öfters mit meinem Minifahrrad nach Neuss fahren, das ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte. Der Kaffee mit etwas Gebäck am folgenden Mittwoch war sehr gut, ich bestaunte das gute Kaffeeservice, die schönen Blumen auf dem Tisch, die gemütliche Stimmung gefiel mir, und wir sprachen über Gott und die Welt. Zum Abschied gab ich einen verstohlenen Kuss, der zugleich der verspätete Bruderschaftskuss sein sollte. Gleichzeitig lud ich sie zum erneuten Besuch des Tanzlokals Weindorf ein.
„Wenn du am Sonntag auch nach dem Tanzen meine Wohnung besichtigen möchtest, das kannst du gerne tun. Noch besser ist es, wenn du Lust hast, dann können wir noch einen Spaziergang durch Düsseldorf machen, und wenn es spät sein sollte, dann kannst du bei mir auf der Couch übernachten.“
„Mal sehen, Tschau bis samstags, aber sei wieder pünktlich und auf Wiedersehen „, lautete die viel versprechende Antwort.
Die Tage bis zum Samstag verbrachte ich mit Sauber machen meiner Einzimmerwohnung auf der Oberbilker-Allee. Ich bewohnte ein kleines Appartement mit Küche und Bad, das im Erdgeschoss mit großem Fenster zur Straßenseite für eine kurze Zeit mein Domizil sein sollte.
Am Samstagnachmittag war ich wieder pünktlich vor dem „Weindorf“ und war gespannt, was mir der Tag bringen würde. Meine Trudi kam wieder schön gekleidet mit lächelndem Gesicht und bald saßen wir auf unseren gewohnten Plätzen. Manche Bekannte grüßten uns, und es war nicht schwer Kontakte mit Leuten an Nachbartischen zu bekommen. Die Musikkapelle spielte wieder die beliebten Oldies, viele ältere Menschen bewegten sich flott zu den mitreißenden Melodien. Die zwei Stunden Nachmittagstanztee vergingen wie im Fluge. Da draußen schönes Wetter herrschte, machte ich meiner Tanzpartnerin den Vorschlag, den nicht weiten Weg zu meiner Wohnung zu Fuß zurückzulegen.
Langsam schlenderten wir die Hüttenstraße entlang, unterhielten uns angeregt, und als ich die Tür zu meiner Wohnung öffnete, bemerkte ich die kritischen Blicke meiner Begleiterin.
„Du musst entschuldigen, wenn es bei mir nicht so ordentlich aussieht wie bei dir, ich bin kein guter Hausmann, ich mache das Nötigste, ab und zu kommen meine Kinder zu mir, die mir helfen Gardinen aufzuhängen , die Waschmaschine zu bedienen oder andere hauswirtschaftliche Arbeiten zu erledigen, die ich ungern mache."
Meine Trudi schmunzelte vor sich hin, registrierte alle Unordentlichkeiten und verfolgte schweigsam meine lebhaften Erklärungen.
Ich schaltete das Fernsehen ein, und als an diesem Abend das Grand Prix Musik-Festival übertragen wurde, brauchte ich nicht viel sprechen. Ich breitete auf einer Liegecouch die nötigen Sachen aus, um darauf schlafen zu können und ging ins Badezimmer, um mich zum Schlafeingehen vorzubereiten.
Meiner Trudi sagte ich, ein leichtes Gähnen unterdrückend: „Du kannst ruhig die Sendung zu Ende schauen, mach es dir aber auf der Bettliege bequem und schalte zuletzt den Fernseher aus.“
Ich legte mich in mein Bett, deckte mich zu, und als ich nach Mitternacht aufwachte, sah ich beim Mondenschein meine neue Bekannte auf der Couch liegen, ruhig schlafend.
Früh um sieben Uhr ging ich als erster ins Badezimmer, machte meine Morgentoilette und begann ein bescheidenes Frühstück vorzubereiten. Trudi folgte meinem Beispiel, zog sich schnell an und bald saßen wir am Frühstückstisch, um sich bei frisch gekochtem Kaffee und Toastbrot zu stärken. Zu dieser Zeit arbeitete meine neue Bekannte noch bei der Firma Swedex in Norf, und sie hatte es eilig nach Neuss zu kommen, um sich für den Nachmittagsdienst zurecht zumachen. Wir hatten uns in kurzer Zeit über vieles unterhalten und einige schöne Stunden verlebt. Am meisten sprach ich über meine traurigen Vergangenheitserlebnisse.
Mit der Ehescheidung nach fast 30 Jahren wurde der Höhepunkt meine Misere erreicht. Trudi tröstete mich so gut sie konnte, sie sagte: „Gerhard, du musst wissen, ich bin sogar zweimal geschieden worden, ich habe Pech mit den Männern gehabt, so wie du mit deiner ersten Frau. Aber lass die Vergangenheit ruhen, schau lieber nach vorn, die Zeit ist zu schade, um nach zu trauern, was nicht mehr zu retten ist. Ich stellte ihr die Frage: „Sag mir einmal, wie viel Zuschriften hast du auf die Zeitungsanzeige bekommen, und warum hast du mich angerufen, um mit mir Gemeinsamkeiten zu erleben?“
Sie antwortete offen und ehrlich: „Ich habe auf meine Partnerschaftsanzeige 6 Antworten bekommen. Ich habe mich auch mit drei Männern getroffen, bei den andern 3 habe ich schon beim Telefonieren gemerkt, dass sie für mich nicht in Frage kommen.“
„Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, warum du die anderen „Kandidaten“ abserviert hast, und mit mir eine engere Beziehung aufbauen möchtest.“
„Das ist leicht zu erklären. Ich suche einen Mann, der es ehrlich mit mir meint, ich brauche keine Sexabenteuer, ich möchte einen Mann kennen lernen, der mir in Leid und Freud zu mir steht, und der mir einiges bieten kann.“
Dann kam die entscheidende Frage: „ Mein lieber Gerhard, möchtest du noch einmal heiraten?“
Im ersten Moment verneinte ich die Frage. Doch als wir darüber diskutierten, über die Vor- und Nachteile einer Eheschließung, da ließ ich mich von Trudi überzeugen, dass ein bloßes loses Zusammenleben mit einem Mann, für eine Frau viele Nachteile bringen kann.
„Du musst bedenken, Gerhard, ich werde eines Tages eine kleine Rente beziehen, da ich nur 15 Jahre an Versicherungszeiten vorzuweisen habe. Ich habe einen Jungen gehabt, der ist mit 13 Jahren gestorben, ich selbst lebte als Kleinkind fast 14 Jahre in einer Kinderklinik in Süchteln, mir wollten sie nach einem Unfall ein Bein abnehmen, ich habe keine guten Kindheitsjahre gehabt. Die einzige Tochter Erika macht mir dafür große Freude. Sie ist Postbeamtin, ich habe ihr geholfen eine eigene Wohnung einzurichten, und sie kommt ganz gut allein zurecht. Solange ich kann, gehe ich zu guten Bekannten den Haushalt putzen, wodurch ich mir einige Mark dazu verdiene. Finanziell komme ich jetzt gut aus, doch ob ich im Rentenalter auch noch so gut dastehen werde, das bezweifele ich stark. Deswegen suche ich einen Mann, der eine gesicherte Rente oder Pension vorweisen kann, den ich bei gegenseitigem Verständnis und Toleranz heiraten kann.“
Diese und andere Überlegungen meiner Trudi veranlassten mich, meine Ablehnung nochmals zu heiraten zu überdenken.
„Weißt du was liebe Trudi", antwortete ich ihr, „ ich würde gerne mal mit deiner Tochter Erika über alles sprechen, was sagt die dazu, dass du jetzt einen neuen Freund hast?“
„Oh, ihr habe ich längst von dir erzählt, auch meinen zwei verheirateten Brüdern habe ich etwas von dir erwähnt. Alle meinen sie, ich wäre alt genug, um zu wissen, was ich zu tun gedenke, sie wünschen mir alle viel Glück mit dir.“
Und so kam es, dass ich eines Tages zum Nachmittagskaffee eingeladen wurde, als ihr ältester Bruder Johann mit seiner Frau am festlich gedeckten Tisch saß. Tochter Erika hatte sich fein angezogen, sie bediente die kleine Tischrunde, und bei einer Flasche Wein, haben wir uns auf Dich zugeprostet und uns kennen gelernt. Trudi hatte zu dieser Zeit zwei ältere Brüder, die eine Schwester von ihr war gestorben, und wie ich aus den Bildern im Familienalbum erkennen konnte, lebte sie und ihre Familie in einem schönem Gärtnereibetrieb mit einigen Morgen guten Ackerlandes.
Auch die Wohnung von Tochter Erika hat mit gefallen, sie wohnte auch in Neuss nicht weit weg von der Mutter.
Erikas Wohnung war sauber und ordentlich eingerichtet, und ich meinte, so eine vernünftige und tüchtige Tochter noch nie getroffen zu haben. Meine öfteren Besuche bei Trudi in Neuss, weckten die Neugier von meinen Geschwistern.
Am 25.5.1986 war die Zeitungsanzeige erschienen, und zur Geburtstagsfeier bei meiner Schwester Traudel am 16. Juni, hatte ich meine Trudi das erste Mal meinen Geschwistern vorgestellt. Ich hatte ihnen von einer neuen Freundin erzählt mit der ich öfters tanzen ging, und die von der Größe und vom Alter her sehr gut zu mir passte. Meine Geschwister haben meinen Frauenbekanntschaften wenig Bedeutung beigemessen, sie wussten, dass ich nach meinen leidvollen Erfahrungen nie mehr so schnell heiraten würde. Meinen Kindern habe ich niemals etwas von meinen Frauenbekanntschaften erzählt, ich wollte nicht, dass meine Exfrau sich über mich lustig machte,
Durch unsere öfteren Zusammenkünfte habe ich Trudi besser verstehen gelernt und sie richtig lieb gewonnen. Wir sprachen viel von einer gemeinsamen Zukunft mit einem Satz: Wir schmiedeten Hochzeitspläne. Um nicht dieselben Fehler zu begehen, die ich in meiner ersten Ehe begangen habe, und um meiner Braut eine Vorstellung von meinen ernsten Heiratsabsichten zu geben, stellte ich einen 25 Punkte-Plan auf, in dem ich meinte, alles berücksichtigt zu haben, das zu einer guten Ehe gehörte, wobei es keine Streitigkeiten geben sollte.
Unter dem Datum 18.7.1986 und der Überschrift „Wohngemeinschaft und Ehe, Überlegungen und Vorschläge damit eine Gemeinschaft funktioniert“, habe ich alle meine Vorstellungen in einzelnen Punkten definiert, die uns in den Ehehafen führen sollten. Der erste Punkt lautete: Bis Ende des Jahres 1986 gibt jeder seine Wohnung auf, der zweite Punkt: Der Mietvertrag für die neue Wohnung wird gemeinsam unterschrieben, wobei kein gemeinsames Schlafzimmer vorgesehen ist. Drittens: Jeder kann sein Zimmer nach seinen Vorstellungen einrichten. Und so folgte ein Punkt nach dem anderen. Den elften Punkt sah ich für wichtig an, der wie folgt hieß: Jeder vermeidet Änderungsversuche des Anderen, Eigenarten sollten liebevoll abgebaut werden. Der fünfundzwanzigste und letzte Punkt war für mich der wichtigste in dem es hieß: Toleranz, Offenheit, Liebe, Kompromissbereitschaft, Verständnis, Hilfe, keine Diskriminierungen, sollten sehr gepflegt werden, um in Ruhe und Ordnung den goldenen Herbst des Lebens zu verleben.
Ich muss nicht besonders erwähnen, dass wir beide freiwillig den Plan durchgelesen und akzeptiert haben, und die Richtigkeit mit eigener Unterschrift bestätigt haben.
Im Nachhinein muss ich leider feststellen, dass es immer wieder zu Missverständnissen in meiner Ehe gekommen ist, auf die ich gern verzichtet hätte. Manchmal glaube ich, dass es wohl so sein muss, denn ich kenne keine Ehegemeinschaft, in der alles reibungslos abläuft. Zudem kommt noch, dass ich als sturer Schlesier mit einer lustigen Rheinländerin, die in Aachen geboren wurde, eine Heirat gewagt habe, von der mir alle meine Geschwister und Kinder abgeraten hätten. Deswegen habe ich niemandem etwas von meinen erneuten Heiratsabsichten erzählt, nicht einmal meinen Freunden.
Ganz still und leise besorgte ich für Trudi und für mich die nötigen Urkunden, die für eine standesamtliche Trauung benötigt werden. Mit meiner heimlich verlobten Trudi bestellten wir in Neuss den Heiratstermin, wobei uns der 20. August 1986 als nächster Termin bekannt gegeben wurde. Als Trauzeugen boten sich Tochter Erika an und Frau Hilde Piefke, eine Freundin von meiner Braut.
Es war an einem Mittwochmorgen, als ich mich in den neuen Hochzeitsanzug zwängte, die schwarzen Schuhe waren etwas zu eng, aber frisch rasiert und gut gelaunt, stieg ich in die Straßenbahn, um rechtzeitig zur Trauungszeremonie zu erscheinen.
Um 9 Uhr früh erreichte ich die Kanalstraße. Trudi wartete schon etwas nervös in einem schicken, dunkelblauen Kostüm auf mich. Erika brachte noch schnell den Hochzeitsstrauß herbei und schon ging es zu Fuß die kurze Strecke bis zum Standesamt im Neusser Rathaus.
Dort angekommen, mussten wir einige Minuten warten, dann wurden wir in den Trauungssaal gebeten. Herr Gerlach, ein stattlicher Standesbeamter begrüßte uns und bat, uns hinzusetzen. Er begann mit einer Vorrede, in der er von der Wichtigkeit des Tages sprach, dann verlas er unsere Namen und die Namen der Trauzeugen, wir mussten uns erheben, und was der Beamte im einzelnen noch alles gesagt hatte, an das kann ich mich nicht mehr erinnern, ich weiß nur noch, dass wir eine Urkunde unterschreiben mussten. Dann gab uns der Beamte die Eheringe, die wir uns gegenseitig ansteckten, und dann meinte er, ich sollte meine frisch angetraute Ehefrau mit einem Kuss erfreuen. Die ganze Zeremonie hat keine zehn Minuten lang gedauert, Tochter Erika fotografierte eifrig den Ablauf der Trauungszeremonie und bis heute habe ich schöne Erinnerungsbilder von diesem wichtigen Tag. Ein Gefühl von Glücklichsein durchströmte mich, ich empfing freudestrahlend die Gratulationen und atmete erleichtert auf, als alles gut und planmäßig vorbei war. Anschließend gingen wir zu einem Fotoatelier und ließen uns mehrere postkartengroße Bilder anfertigen, die schön eingerahmt ein bleibendes Andenken an unseren Hochzeitstag sein sollten. Als wir das Fotogeschäft verließen, fing es an zu regnen und wir gingen schnell zu einem nahen argentinischen Steakhaus. Wir bestellten vier Mittagessen und nach reichlichen Essen und Trinken, verließ uns unsere Trauzeugin Hilde, da sie sich um ihren gelähmten Mann kümmern musste. Meine frisch angetraute Frau, Tochter Erika und ich fuhren nach dem opulenten Hochzeitessen mit der Straßenbahn nach Düsseldorf. Wir wollten Erika einmal zeigen, wo sonntags und mittwochs Nachmittag zum Tanzen aufgespielt wird. Das Lokal war halb voll, und als die Musikkapelle ihre flotten Lieder spielten, konnte Erika, die einem Tanzclub angehörte, sich davon überzeugen, dass zur damaligen Zeit Düsseldorf auch etwas für ältere Herrschaften zu bieten hatte. Sie tanzte auch ein paar Mal mit mir, noch leichter und flotter als ihre Mutter, und als Disco-Musik erklang, da tanzte sie sogar recht kunstvoll allein auf der Parkettfläche. Erika fuhr zum Abend nach Hause, und wir verbrachten die Hochzeitnacht im Appartement auf der Oberbilker Allee.
Zur damaligen Zeit war das Tanzlokal „Ballhaus“ auf der Kölnerstraße für uns auch ein beliebter Treffpunkt, wo wir manche schöne Stunden erlebt haben. Am folgenden Tag nach unserer zivilrechtlichen Trauung unternahmen Trudi und ich einen Ausflug nach Köln. Wir besuchten den Dom am Hauptbahnhof, stifteten zwei Kerzen fürs Gelingen unserer erst begonnenen Ehegemeinschaft und verharrten einige Minuten im stillen Gebet.
Bei schönem Sommerwetter gingen wir am Rhein spazieren, wir aßen auch ein gutes Mittagessen und als um 15 Uhr ein Rheindampfer anlegte, stiegen wir dazu, um bei einer Kölner-Hafen-Rundfahrt die Schönheit des Rheins und der Domstadt zu bewundern. Müde und zufrieden kamen wir abends wieder in meine Wohnung zurück.
Am nächsten Tag waren wir zu einer Geburtstagsfeier bei meinem Bruder Walter eingeladen. Wie jedes Jahr hatte sich dort eine große Verwandtenschar eingefunden, und ich stellte meine Trudi als gute Bekannte vor, obwohl wir schon verheiratet waren. Ich wollte die unnötigen Fragen und Kommentare vermeiden, die unweigerlich von allen Seiten auf mich geprasselt wären. So konnten wir in aller Ruhe den guten Kaffee und die selbst gemachten Tortenteilchen genießen, ohne dass es unter Umständen zu unliebsamen Anschuldigungen gekommen wäre.
Mein Schwager Fritz hat es mir lange Zeit verübelt, dass wir ihn nicht zur Hochzeit eingeladen haben. Nach unserem Dafürhalten hatten wir damals beschlossen, wir veranstalten keine große Hochzeitsfeier, die Geldausgaben sparen wir, um uns eine gemeinsame Wohnung schön einzurichten.
Meine Trudi ging nach drei Tagen wieder wie gewohnt zur Arbeit, und ich bekam die Aufgabe, so schnell wie möglich eine passable Wohnung zu besorgen.
Wir besichtigten einige Altbauwohnungen, große und kleine, aber keine lag verkehrsgünstig. Außerdem waren wir darauf bedacht, dass die Wohnung nicht zu groß und zu teuer sein sollte. Nach ein paar Tagen las ich in der Zeitung ein verlockendes Angebot. Eine neu erbaute Zweizimmerwohnung an der Kruppstraße war zu vermieten. Die Besichtigung verlief zufriedenstellend, und wir unterschrieben einen Mietvertrag ab dem 1. November 1986. Die Hauptaufgabe bestand jetzt darin, für meine und Trudis Wohnung einen Nachmieter zu finden. Die bisherigen Wohnungen mussten gekündigt werden und sich mit den bevorstehenden Wohnungsumzügen zu befassen.
Ich fand für mein Appartement schnell eine Nachmieterin, und bewerkstelligte den Umzug mit Hilfe von früheren Arbeitskollegen und mit Hilfe eines Fahrrads. Ich schlief schon mehrere Tage allein in der neuen Zweizimmerwohnung, während Trudi immer noch von Neuss aus zur Arbeit fuhr. Zwischenzeitlich fuhr ich öfters zu ihr, und jedes Mal brachte ich mit dem Minifahrrad zwei große Taschen voller Hausratsgegenstände zur neuen Wohnung in Düsseldorf. Es erwies sich als vorteilhaft, dass ich ein Telefon besaß und Trudi auch, so dass die Verständigung reibungslos klappte.
Unser Hochzeitsreiseziel sollte, so hatten wir es geplant, eine Flugreise nach Teneriffa sein. Dorthin hatten schon im Frühjahr Erika und Trudi ihren Jahresurlaub gebucht. Ich musste kurzfristig eine Umbuchung bezahlen, damit ich an dieser Reise auch teilnehmen konnte. Am 29.September sollte unser Flug zu den kanarischen Inseln erfolgen. Als ich in der Flughafenhalle warten musste, rief ich meine Schwester Traudel an, und teilte ihr mit, dass ich mich auf meiner Hochzeitsreise befände. Ich sagte ihr, dass Trudi und ich schon am 20. August geheiratet hätten, aber dieses geheimgehalten haben. Die näheren Umstände würde ich allen Verwandten nach der Rückkehr von Teneriffa erklären.
Meine Schwester war natürlich sehr erstaunt, aber nach zwei Wochen hatten sich die Geschwister daran gewöhnt, dass ich mich unter „der Haube“ befand. Ich rief auch meine Tochter Renate an, und ihr erzählte ich ebenfalls, dass ich wieder verheiratet sei und mich auf der Hochzeitsreise befände. Nähere Einzelheiten würde ich den Kindern nach meiner Rückkehr erzählen. Als es dazu kam, gratulierten mir alle fünf Kinder recht herzlich zu meinem Mut und den Entschluss nochmals zu heiraten. Sie wünschten mir und meiner Trudi alles Gute für die Zukunft und zeigten volles Verständnis für meinen geheimgehaltenen Entschluss.
Ich hatte zu der Zeit einen guten Urlaubsbekannten kennen gelernt, namens Hans Lobodda wohnhaft in Bochum, der bereit war, sich an dieser nicht billigen Reise zu beteiligen. Der Flug, die Unterbringung im Hotel, alles klappte wunderbar, und die zwei Wochen vergingen wie im Fluge.
Wir unternahmen eine Tagesschiffsreise zur Nachbarinsel La Gomera, die uns mit ihren Naturschönheiten erfreute. Hans Lobodda entpuppte sich als guter Alleinunterhalter, er konnte viele Witze erzählen, und mit ihm haben wir manche lustige Stunde verlebt. Wieder zurück in Düsseldorf, hieß es den Transport von einigen größeren Möbelstücken aus der Wohnung in Neuss nach Düsseldorf zu organisieren. Ich beauftragte eine Transportfirma, die 600 Mark für einen Möbelwagen verlangte. Kleinere Haushaltsgeräte wurden teilweise mit meinem Fahrrad und von einem Arbeitskollegen mit seinem Personenwagen herbeigeschafft. Am 13. November war es dann so weit. Wir hatten unsere noch brauchbaren Hausratsgegenstände an Ort und Stelle auf der Kruppstraße in Düsseldorf aufgestellt. Einen Teil von Möbeln mit dem Teppichbelag konnte Trudi für 600 Mark ihrer Nachmieterin überlassen, wogegen ich meine Wohnung besenrein ausräumen musste.
Nun begann für mich ein neuer Lebensabschnitt. Meine Frau sorgte sich rührend um mein leibliches Wohl, sie kochte, wusch und hielt die Wohnung in Ordnung.
Am Anfang unserer Ehe musste meine Frau mit dem Bus schon um 6 Uhr früh zur Arbeit in Norf fahren. Kurz vor drei Uhr nachmittags stand ich am Fenster und schaute zur Haltestelle hinunter, um meinen fleißigen Schatz rechtzeitig an der Tür mit einem Begrüßungskuss zu empfangen. Das erste Jahr unserer Ehe verlief ziemlich ruhig und ohne Zwischenfälle.
Der Winter 1986/87 war streng, und Trudi tat mir leid, wenn sie frühmorgens bei Glatteis zur Arbeit aufbrach. Die Weihnachtsfeiertage und Silvester verbrachten wir in unserer neuen, warmen Wohnung, und die Zeit verging so schnell, dass wir während der Weihnachtsfeiertage für das Jahr 1987 unsere gemeinsamen, schönen Flugreisen planen konnten.
Im März des folgenden Jahres nach unserer Eheschließung waren wir für zwei Wochen in Urlaub auf Mallorca, im Mai auf Gran Canaria und Weihnachten 1987 verbrachten wir im Hotel Bitacora auf Teneriffa. Zu jener Zeit besuchten wir noch öfters das Tanzlokal Weindorf, auch waren wir im Ball der einsamen Herzen und im Tanzlokal auf der Kölnerstraße. Im Jahre 1988 haben wir schöne Tagesfahrten unternommen, wir waren in Zell an der Mosel, wir besuchten Bad Neuenahr, und verbrachten einige Tage bei meiner guten Bekannten in Hatzfeld im Sauerland. Im gegenseitigen Einvernehmen wurde Trudi Anfang Mai 1988 aus der Arbeit bei der Firma Swedex in Norf nach Zahlung einer geringen Abfindungssumme entlassen. Jetzt begann ich alsbald für sie rechtzeitig den Rentenantrag zu stellen. Die Rente wurde auch genehmigt, und für uns beide begann eine sorglose, schöne Zeit. Ich werde nicht alle kleinen Reisen anführen, die wir in den folgenden Jahren unternommen haben.
Wir konnten uns die Welt anschauen, weil wir kein Auto hatten, außerdem keine größeren gesellschaftlichen Verpflichtungen eingingen, und im Allgemeinen recht sparsam lebten. Im Jahre 1989 feierten wir unsere Geburtstage während einer dreiwöchigen Urlaubsreise nach Gran Canaria im Hotel Paraiso.
Da meiner Trudi das Treppensteigen bis zum dritten Stock auf der Kruppstraße immer schwerer fiel, hatte ich schon vorsorglich beizeiten beim Wohnungsamt einen Antrag auf einen Wohnungsberechtigungsschein gestellt. Auch hatte ich mich bei der evangelischen Diakonie rechtzeitig beworben, um eine behindertengerechte Seniorenwohnung zu bekommen. Und wie wunderbar, am 8. März 1989 wechselten wir unsere Wohnung von der lebhaften Kruppstraße zur ruhigen Hoffeldstraße in Flingern, wo wir heute noch wohnhaft sind. Der Umzug hatte uns viel Arbeit und Geld gekostet, wir haben uns neue Möbel angeschafft und alles gut und zweckmäßig in einer 54 qm großen Sozialwohnung untergebracht, in der schon die meisten Küchengeräte wie Ofen, Kühlschrank und Anrichte vorhanden waren.
Dass das Tapezieren der neuen Wohnung mit Auslegen von Fußbodenbelag nicht billig war, das brauche ich nicht extra erwähnen.
Wir haben von Anfang an ein gemeinsames Schlafzimmer ausgeklammert, jeder konnte sein Zimmer zweckmäßig einrichten, mit eigenem Fernseher und allen Möglichkeiten, um verschiedene Hobbys zu haben. Das Wichtigste im Neubau war, es gab einen Personenlift, der gut funktionierte. Außerdem war das Putzen von Flur und Treppenhaus von der evangelischen Diakonie geregelt worden, d. h. eine Reinigungsfirma erledigt diese Arbeiten. Ein großer Gemeinschaftsraum im ParterregeParterregeschossermöglichte das Feiern von Geburtstagsfeiern oder sonstigen geselligen Zusammenkünften. Dass die anfangs gemeinsamen Nachmittagskaffeetrinken –Veranstaltungen, die von Frau Kolke geleitet wurden, immer rege besucht waren, und manche frohe Stunde den Teilnehmenden bescherte, das gibt es nicht oft in Hausgemeinschaften. Wir nahmen öfters an Veranstaltungen im Pestalozzi-Haus teil, dort wurden auch Silvester und Karneval gefeiert, und wir waren Mitglied in einem Lieder-Gesangs-Chor.
Leider sind zwischenzeitlich mehrere ältere Mitbewohner gestorben, so dass die Aktivitäten immer mehr eingeschränkt wurden.
Dass ich einmal in der Woche einen kleinen Englisch-Unterrichtskurs leitete, das finde ich auch erwähnenswert.
Im Jahre 1989 fing für uns ein ruhiges und bequemes Wohnen an, von dem wir bis heute profitieren. In diesem Jahr unternahmen wir auch mehrere große Reisen, einmal waren wir für zwei Wochen auf der Insel Fuerteventura, danach in der Türkei, und im Oktober besuchten wir für eine Woche Moskau-Leningrad. Zu meinem Geburtstag am 7. Dezember 1989 wohnten wir in einer Clubanlage auf der Insel Lanzarote, wo frühlingshafte Temperaturen herrschten. Im Jahr 1990 flogen wir für zwei Wochen nach Ibiza, und im November fuhren wir für ein paar Tage nach Leipzig, wo wir bei einer Bekannten von Erika wohnten.
Ich suchte damals meinen Jugendfreund William Markert, den ich nicht fand, aber von Nachbarn erfuhr ich seine neue Adresse in Essen.
Der Anfang 1991 war nicht so gut. Trudi war vom 15.12. bis 15. Januar in Bad Driburg zur Kur, und ich flog allein ans spanische Festland, wo ich merkte, dass mir Trudi an allen Ecken und Enden fehlte.
Eine Busfahrt mit meinem Schatz an die Costa Brava hatte uns Pech eingebracht. Wir wurden von einem Straßenräuber überfallen, und Trudi verlor die Handtasche mit über 200 Mark, Schlüssel und Ausweispapieren. Eine Anzeige bei der Polizei brachte keinen Erfolg.
Zwei Monate später flogen wir nach Florida, wo wir in einer Hotelanlage mitten in der Millionenstadt Miami wohnten. Wir haben Cape Canaveral aufgesucht, waren im Disney World Center, haben die Everglades besichtigt.
Einen sehr interessanten Urlaub verlebten wir 1991 noch vor Weihnachten auf der Insel Sri Lanka.
Im Jahre 1992 sind wir noch einmal nach Amerika geflogen. Dieses Mal besuchten wir die Riesenstädte New-York und Washington. Es war eine organisierte Rundreise von der FFO, die uns sehr gut gefallen hat. Wir haben die riesigen Wolkenkratzer, Brücken, Parkanlagen von New-York bestaunen können, wir besuchten das UNO-Hauptquartier, die MET- Opera, und viele andere interessante Gebäude.
In Washington hat uns am meisten das Weiße Haus, das Capitol, der Hauptbahnhof, der Soldatenfriedhof in Arlington gefallen. Im selben Jahr machten wir auch für zwei Wochen Urlaub in Marokko, wo wir einen guten Eindruck von Land und Leuten in Nordafrika vermittelt bekamen.
Am 28. Mai 1992 wurde die kleine Marisa, das erste Kind von Tochter Erika geboren. Meine Trudi war natürlich stolz, ihr erstes Enkelchen in den Händen zu halten. Die feierliche katholische Tauffeier fand in Neuss statt, wobei auch viele Verwandte des Vaters teilnahmen. An zwei Tagen wöchentlich versorgt sie das Enkelchen, welches wohl behütet, wächst und gedeiht.
Leider sind dadurch unsere gemeinsamen Reiseaktivitäten nicht mehr so problemlos, da wir uns nach den Urlaubstagen von Erika richten müssen. Das Jahr 1993 bescherte uns interessante Reisen u. a. in die Dominikanische Republik, an das Schwarze Meer und ins Reich Fidel Castros. Die Hauptstadt Santo Domingo hat uns enttäuscht. Im Dezember flogen wir für 14 Tage nach Kuba, wo wir mit der Wirklichkeit einer kommunistischen Diktatur konfrontiert wurden. Im Jahre 1994 fuhren wir mit dem Bus das erste Mal zu Urlaubsbekannten, die im Ostteil von Berlin wohnten. Die eine Woche Aufenthalt in kleinen Gartenwohnhäusern, mit vielen Autoreisen bis nach Dresden und Hamburg, hat uns sehr gut gefallen.
Mit meiner Trudi flog ich im Dezember 1995 für zwei Wochen auf die Insel Barbados. Auf dieser herrlichen Karibikinsel hat es uns sehr gut gefallen. Wir wohnten in einer großen Appartementanlage, das Klima war einmalig schön warm, die Landschaft mit der herrlichen Natur könnte man als paradiesisch bezeichnen. 1996 machten wir für 2 Wochen Urlaub auf Gran Canaria und wiederum im Dezember flogen wir in die Dominikanische Republik. Wir waren im Hotel Larimar untergebracht, das Essen wurde unter einem Palmendach serviert, und wir ließen uns bei einem All-Inclusive-Service von der fast immer scheinenden Sonne verwöhnen.
Anfang 1997 flogen wir zur Insel Lanzarote, wo wir uns in einer Tjaery-Clubanlage verwöhnen ließen. Zum Ende des Jahres flogen wir wiederum nach Gran Canaria, wo wir in einer Hotelanlage im Süden der Insel recht angenehme Urlaubstage verbrachten. Während den Karnevalstagen waren wir anfangs 1998 auf der Insel Zypern, für nur eine Woche in einer 5 Sterne Ferienanlage. Ab dem 13. November waren wir für eine Woche nach Tunesien geflogen, um dort zu erleben, wie die Sonne in Nordafrika ihr Winterquartier bezieht. Und noch vor Weihnachten 1998 waren wir zum zweiten Mal für eine Woche auf der Insel Lanzarote. (vom 10.12. bis 17.12.1998)
Abschließend kann ich sagen, dass wir für die Gestaltung unserer Freizeit viel Geld ausgegeben haben. Dafür haben wir aber bleibende Eindrücke aus vielen Teilen der Welt gesammelt, wir sind Gott sei Dank gesund geblieben, und wollen uns noch weiterhin die Schönheiten der Erde ansehen, so lange die Gesundheit mitspielt.
Ich möchte noch erwähnen, dass ich in fünfzehn Ehejahren Erfahrungen gesammelt habe, die ich nie mehr missen möchte.
Zum Ende meiner Erinnerungen möchte ich sagen, meine Trudi verwöhnt mich, so gut sie kann. Ich brauche keine hauswirtschaftlichen Tätigkeiten verrichten, ich kann meinem Hobby nachgehen und hoffe, dass es noch lange so bleibt. Im Moment lese und schreibe ich viel und kann mich glücklich und zufrieden schätzen. Wenn meine Frau die Ehe nicht immer so rosig sieht, dann liegt es meiner Meinung nach an unseren unterschiedlichen Lebenserfahrungen, die sich oftmals schlecht vereinbaren lassen. Einen großen Vorteil habe ich noch zu allem, ich bin nicht mehr mit meinen Problemen allein, mit meinem Schatz kann ich über alles reden. Sie zeigt Verständnis für alle meine Wünsche, nur die Verwirklichung erfolgt nicht immer so prompt, wie ich es gerne hätte.
Wenn ich in Leipzig eine sichere Bleibe gefunden hatte, wird es nun endlich Zeit, dass ich in meinem Gedächtnis zurückblättere und von meinen Eltern und Geschwistern berichte, die mir entweder ihre Lebensgeschichten selbst erzählt haben, oder die ich mit ihnen erlebt habe. Mit einer Einschränkung jedoch, wenn ich zuerst nochmals kurz von den Eltern etwas schreibe, dass ich gelesen oder gehört habe, und das nicht immer für mich nachprüfbar war.
Von meinem Vater habe ich ja schon einiges berichtet, dazu möchte ich noch erwähnen, dass er 1889 in Altewalde geboren wurde und schon während des letzten Krieges im Alter von 54 Jahren verstarb. Zu der Todesursache gibt es auch zwei Versionen, Mama erzählte mir, dass er beim Grasmähen sich durch kaltes Wasser trinken einen Kehlkopfkrebs zugezogen hätte.
Mein jüngerer Bruder erzählte mir, dass Adolf Hitler im Jahre 1942 durch Schlesien in die Tschechoslowakei mit einem Spezialzug gefahren sei, und viele Parteigenossen an den Bahngleisen stundenlang stehen mussten, um dem Führer zu zujubeln. Dabei hätte er sich eine Lungenentzündung eingehandelt, die nicht richtig behandelt wurde. Etwas Wahres muss daran sein, denn ich kann mich erinnern, dass er und wir Kinder alle sich in der Lungenheilstätte in Ziegenhals zu einer Untersuchung einfinden mussten. Meine jüngere Schwester Traudel wurde für einige Zeit in dieser Heilstätte behandelt, sie wird aber in diesem Jahr 75 Jahre alt und hat immer schwer in ihrem Leben gearbeitet und war nie ernstlich krank.
Der Vater war bis zu seiner Erkrankung kerngesund, hatte nie einen Arzt aufgesucht und wie ich schon in meinen vorherigen Ausführungen geschrieben habe, immer ein verständnisvoller, wissbegieriger Mann, der wie viele andere dem damaligen Zeitgeist unterlag und deutschnational dachte und auch danach handelte.
Wenn er auch mit 54 Jahren verstarb, so ist ihm vieles erspart geblieben, das man im Nachhinein als gute Schicksalsfügung ansehen kann.
Meine Mutter war eine herzensgute Frau, die acht Jahre jünger war als mein Vater und mit ihm 5 Kinder aufgezogen hat, die heute noch alle am Leben sind, und auf die sie stolz war und auch stolz sein kann. Als junge Witwe hat sie Flucht und Vertreibung überstanden, sie versuchte mit allen Mitteln den elterlichen Hof zu erhalten, dafür hat sie sogar für Polen optiert, das wiederum für mich und alle ihre Kinder eine bedeutende Rolle gespielt hat.
Wie ich schon vorher erwähnt habe, mein Vater konnte sehr bestimmend sein, und er duldete kaum einen Widerspruch. Nach seinem Dafürhalten, sollte eine Frau in erster Linie für Kinder, Kirche und Küche zuständig sein, und er erwartete von ihr Gehorsam und Arbeitseinsatz bis zum Äußersten. Dieses ewige Arbeiten und Schaffen für den Hof und die damit verbundene Sparsamkeit, hat mich als junger Mensch schon gestört, und ich wollte nie auf dem Land bleiben. Diese Einstellung hat mir geholfen, mich ziemlich gut und erträglich im Alltagsleben zurecht zu finden, so dass ich bis heute relativ gesund geblieben bin und diese Zeilen mit einem gewissen Unverständnis für das übertriebene Sparen und den Arbeitseifer schreibe.
Heute kann ich nachempfinden, wie schwer es meiner Mutter gewesen sein muss, Haus, Hof und schlesische Heimat zu verlassen, um hier im Rheinland mit ihren Kindern eine neue Heimat zu schaffen.
Ehe sie am 20.1.1973 in Düsseldorf begraben wurde, hatte sie vorher jahrelang einfache und eintönige Arbeiten in einer Konditorei verrichtet. Von ihrer kleinen Rente und von einem Stundenlohn von 2 DM, sparte sie noch für die Kinder und Bekannte, um ihnen eine Freude zu bereiten. Sie schickte viele Pakete in die Heimat, spendete viel an kirchliche Einrichtungen und als es hieß, die Kinder wollen wieder Eigentum schaffen, da war meine Mutter sehr dafür.
Jahrelang litt sie an einer Magensenkung, sie lebte sehr sparsam und bescheiden, und gönnte sich sehr wenig. In den letzten Monaten vor ihrem Tod weilte sie am liebsten in Kirchen und ich kann vermuten, dass sie viel unter dem Verlust ihrer Heimat gelitten hat. Sie starb an Leberzirrhose nach relativ kurzem Krankenhausaufenthalt, in ihrer kleinen Mietwohnung ganz allein bei ihrer Morgentoilette.
Von meinen vier Geschwistern gibt es einiges zu erzählen, das man vielleicht mit Schicksal und Glück erklären kann.
Ich fange mit meinem älteren Bruder Walter an, der am 21. August 1921 in Altewalde geboren wurde.
Als Erstgeborener war er auch als Erbhofbauer vorgesehen, der vom Vater zu allen landwirtschaftlichen Tätigkeiten herangezogen wurde.
Walter war im Gegenteil zu mir, ein gesundes kräftiges Kind, das den Eltern keinen Kummer machte, und der nach Beendigung der Volksschule in Altewalde sich selbst in einer Winterschule fortbildete. Mit zwei anderen Jungen aus dem Dorf, wurde er vom Hauptlehrer Kandler im Geigespielen unterrichtet, das er auch nach einigen Monaten gut beherrschte. Ich beneidete ihn oft, wenn er mit dem Geigenkasten in der Hand, stolz zur Kirche ging, und als Begleitung zum Kirchenchor seine Geige erklingen ließ. Walter hatte schon mit 14 Jahren sein eigenes Zimmer, das immer ordentlich aufgeräumt war, seine Sachen waren adrett geordnet und ich schlich mich manchmal in sein Zimmer, um auch mal mit dem Fidelbogen über die Geigensaiten zu streichen. Mein Verhältnis zum Bruder war problematisch, er wollte mich oft zu Arbeiten anspornen, die ich nicht machen wollte oder auch gesundheitlich nicht konnte. Ich vermied es, ihm in die Quere zu kommen, es gab dann meistens Streit, und wenn ich nicht aufpasste, hätte ich mir selbst schnell eine Ohrfeige eingehandelt.
Er spürte meine Abneigung ihm gegenüber, die meist dadurch kam, dass ich ihn wiederum beneidete, dass er größer und stärker war als ich, dass er sich gut kleidete und nach meiner Meinung überall bevorzugt wurde.
Ich war froh, als mein Bruder mit kaum achtzehn Jahren zum Militär eingezogen wurde, und am 1. September 1939 seinen Dienst in einer Kaserne bei Oppeln in Schlesien antreten musste.
Er erzählte mir viel aus seinem Leben, als ich mehrmals mit ihm auf der Insel Mallorca Urlaub machte und reichlich Zeit hatte, unsere Jugenderinnerungen auszutauschen.
Walter musste, wie viele junge Männer seines Jahrgangs im Krieg mit der Waffe das Vaterland verteidigen und hatte auch großes Glück, dass er nicht ohne Folgeschäden verwundet wurde. Seine Einheit wurde anfangs in Frankreich eingesetzt, dann in Griechenland, er war für den Einsatz in Afrika vorbereitet worden und hat viel in seiner Militärzeit gesehen und erlebt.
Das Schlimmste war, als er in Russland kämpfen musste, und dem harten Winter in Stalingrad entkam er nur, weil er einem russischen Gefallenen den Pelzmantel auszog und somit sich vor dem Erfrieren rettete. Er war bei den Funkern, wurde auch mehrmals bei Nahkämpfen verwundet, und zuletzt kämpfte er noch im Mai 1945 in der Nähe von Berlin. Zwei Tage nach dem Waffenstillstand hat sich seine Einheit in Niederschlesien aufgelöst, und er hatte Glück ein junges Mädchen von 19 Jahren kennen zu lernen, die mit ihm einen herrenlosen Wagen mit angespanntem Pferd bestieg und zur Tarnung in Zivilkleidung mit einer gehissten roten Fahne sich auf den Heimweg machte.
Im Wirrwarr von russischen Soldaten, deutschen Gefangenen und Fremdarbeitern, kam er ungeschoren am zweiten Juni in Altewalde an, wo er unsere Mama allein im verschlossenem Haupthaus des elterlichen Bauernhofes vorfand.
Alle Kinder waren vor den Russen geflüchtet und hatten versucht das Leben zu retten. Mein Bruder Walter war der erste deutsche Soldat, der in zivil im Dorf sich einfand, das teilweise zerstört und fast menschenleer war.
Der elterliche Hof war nicht abgebrannt, aber ohne jegliches lebendes Inventar wie Kühe, Pferde oder Schweine gewesen.
Seine erste Hauptaufgabe bestand darin, die Bauernwirtschaft, halbwegs wohnlich zu gestalten. Auf unserem Hof hatten sich Russen einquartiert, die als Dorfbesatzer das sagen hatten.
In der Scheune lagen tote Kühe und andere Tierkadaver, die zuerst entsorgt wurden. Es gab kein Strom, kein Geschäft und jeder versuchte mit gefundenen oder versteckten Lebensmitteln am Leben zu bleiben. Auf den Feldern blühte und grünte alles, und die Bauern dachten mit Schrecken an die fehlenden Zugtiere und die teilweise abgebrannten Scheunen, wie sie die Ernte einbringen sollten.
Nun erkläre ich kurz, warum meine Mutter allein auf dem Hof war, als mein Bruder Walter aus dem Krieg heimkam.
Wie ich schon vorher geschrieben habe, so sah ich am 18. März 1945 wie unsere Kreisstadt Neisse brannte und von Russen umzingelt wurde. Im Landkreis Neisse gab es allein 102 kleine und größere Dörfer, die auf Befehl von Bürgermeistern und Wehrmachtstellen, in kurzer Zeit geräumt werden sollten.
Das führte zu einem ungeheuren Chaos, zumal sich die Bauern oft mit Pferdegespannen auf denen wertvolles Hab und Gut beladen war, sich in Bewegung setzten, um sich vor den Russen in Sicherheit zu bringen. Meine Mutter, meine ältere Schwester Margot, meine jüngere Schwester Traudel und ein ukrainischer Fremdarbeiter Emil als Kutscher, waren auch mit einem voll gepackten Pferdegespann unterwegs, und mit Mühe und Not kamen sie bis Mitte April 1945 in die Gegend des nahe gelegenen Sudetenlandes, hoch in den Bergen in die Nähe von Lindewiese, wo sie meinten, in Sicherheit zu sein.
Doch die Front kam immer näher, die Russen nahmen Prag ein und als am 8. Mai 1945 der Waffenstillstand verkündet wurde, hieß es danach, alle Flüchtlinge sollen in ihre Heimat zurückkehren. Viele hatten Angst vor den herannahenden Truppen, so auch meine Schwester Margot und der Ukrainer, die sich in einer Nacht und Nebelaktion absetzten. Meine Schwester hatte noch Glück, sie flüchtete zum großen Teil zu Fuß, manchmal wurde sie auch von einem deutschen Militärfahrzeug mitgenommen, und der Fluchtweg ging auf Bergstraßen über Niederschlesien bis in die Nähe von Görlitz.
Ihre Lebensgeschichte werde ich später erzählen.
Meine jüngere Schwester Traudel erkrankte und musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden, wo sie bis Anfang Mai bleiben musste. Ihre Lebensgeschichte werde ich auch später erzählen
Der jüngste Bruder Helmut bracht sich vor den Russen auch in Sicherheit, so dass unsere Mama nun allein mit Pferd und Wagen da stand.
Nach mehreren Tagen traute sich allein mit mehreren Bauern aus Altewalde, den langen Weg von etwa 60 Kilometern nach Hause zu fahren. Was meine Mutter alles gesehen und erlebt hat, von dem sprach sie niemals, zu groß war der Schock, der das ganze Leben anhielt.
Als sie nun nach vielen Tagen auf den Hof fuhr, blieb ihr vor Schreck das Herz stehen. Alle Türen standen offen, der Hofhund lag erschossen vor der Hoftür, ein paar Hühner suchten etwas auf dem Misthaufen zu fressen, von den Kühen, Schweinen, Kälbern und Ziegen keine Spur, sie waren erschossen worden, ihre Gebeine lagen verstreut im Garten und in der Scheune, und manche andere Frau wäre verzweifelt. Sie aber verbarrikadierte notdürftig die Haustür, und gab den ausgehungerten Pferden Hafer zu fressen. In den nachfolgenden Tagen kamen noch mehrere Dorfbewohner zurück und erst nach zwei Wochen klopfte eines nachts der Hoferbe Walter an die Tür.
Die Wiedersehensfreude wurde vom allgemeinem Leid erstickt, es hieß jetzt anfangen, den Hof und die Gebäude vor Dieben und Räubern zu sichern, die alsbald sich im Dorf bemerkbar machten. Zum Glück war auch der Dorfpfarrer zurück gekommen, auch der Hauptlehrer und der Bürgermeister und sogar der Standesbeamte.
Meine Mama war nicht besonders erfreut, dass mein Bruder ein junges Mädchen gebracht hatte, das er als seine Braut vorstellte. Um das Gerede im Dorf zu beenden, drängte Mama zu einer Hochzeit. Und wirklich heiratete mein Bruder standesamtlich als erster schon am 2. September 1945 seine Amalie, die froh war, einen netten jungen Erbhofbauern kennen gelernt zu haben.
Das Kuriose an dieser Hochzeit war, dass in der Zwischenzeit sich im Dorf eine polnische Verwaltung etabliert hatte, die sofort anfingen, die deutsche Bevölkerung von ihren großen Bauernhöfen in die kleineren Auszugshäuser zu vertreiben. Die rechtmäßigen Besitzer von Grund und Boden wurden über Nacht von den einziehenden Polen zu Freiwild erklärt, die nach dem Abkommen von Jalta und Potsdam der Heimat beraubt wurden. Die deutsche Bevölkerung, die seit Jahrhunderten die Ostgebiete jenseits der Lausitzer Neisse und Oder zu einer blühenden Landschaft verwandelt hatte, wurde durch den verlorenen Krieg und durch die bedingungslose Kapitulation zu rechtlosen Menschen deklariert, die alle in die deutschen Westgebiete überführt werden sollten. Von der Umsiedlung oder besser gesagt Vertreibung der deutschen Bevölkerung will ich nicht berichten, das würde zu weit führen.
Nun zurück zu Walter und seiner jungen Frau. Mitte Juni war auch auf den Hof meiner Mama auch eine polnische Familie eingezogen, die alles beschlagnahmte, was er für wertvoll hielt. Mein Bruder und seine Amalie mussten als Knecht und Magd arbeiten, sie wurden vom Polen angetrieben, das Getreide zu ernten, und da es kein Strom im Dorf gab, so musste er das geerntete Getreide mit Handdreschflegeln ausdreschen und danach mit einer handbetriebenen Schleuder die Spreu vom Korn zu trennen.
Um das unnötige Gerede der Dorfbewohner abzubrechen, beschlossen Walter und seine Amalie wenigstens kirchlich zu heiraten. Auf Schleichwegen gingen sie am 2. September 1945 in den Abendstunden zum deutschen Pfarrer, der in einer kurzen Zeremonie die Heirat für vollzogen erklärte. Der Standesbeamte fungierte als Trauzeuge, und die Ehe wurde im Kirchenregister mit der Nummer 1/1945 eingetragen. Dass sie Ehe später in Deutschland nicht anerkannt wurde, das wusste zu dieser Zeit niemand. Mein Bruder Walter musste die Heirat nach fünf Jahren noch einmal vor einem deutschen Standesamt legalisieren lassen, weil im Jahre 1945 die schlesischen Gebiete sich noch in einem staatenlosen Raum befanden.
Nun zurück zum Bruder Walter und seinen Erlebnissen in der Heimat.
Nach seinen Angaben, hatte der Pole in einem deutschen KZ gelitten, und alle Wut ließ er an einem ehemaligen deutschen Soldaten Walter aus. Die Plünderungen und Schikanen im Dorf wurden von Tag zu Tag unerträglicher, und als es hieß Mitte Januar 1946, müssten sich alle Dorfbewohner zum Abtransport am Bahnhof einfinden, waren viele entsetzt, aber doch machtlos.
Nur mit dem Nötigsten in den Händen, nur mit dem das sie tragen konnten, wurde die Bevölkerung in Viehwaggons getrieben.
Unsere Mama und mein Bruder Walter mit seiner jungen Frau dabei.
Der Zug war etwa eine Woche in Richtung Berlin unterwegs. Ohne Heizung und ohne Verpflegung bei klirrender Kälte starben bald ältere Leute und auch Kinder, die aus dem Waggon geworfen wurden, wie ein Stück Kohle. Sogar Typhus stellte man fest und die sowjetischen Soldaten an der Grenze bei Görlitz weigerten sich, den Zug weiter fahren zu lassen, um nicht die Bevölkerung in Berlin zu gefährden.
Bei einem Zwischenstopp in der Nähe von Görlitz, fasste mein Bruder mit der Frau den Plan, heimlich den Transport zu verlassen und zu Fuß zu versuchen, bei besserem Wetter über die Grenze zu gelangen.
Sie kamen bis nach Vogelsdorf, wo sie bei einem deutschen Bauern Unterschlupf fanden. Dort wurden sie auch von Polen registriert, und nach einigen Wochen, fuhren sie mit einem Zug in Richtung Gleiwitz, zum Heimatdorf seiner jungen Frau Amalie.
Walter kam auch im Elternhaus seiner Ehefrau an, wo er sich nicht wohl fühlte.
Da die Bevölkerung in der Nähe der polnischen Grenze meist zweisprachig auf wuchs, konnte Walter sie nur schlecht verstehen, die dortigen Menschen, hatten sich mit den Polen arrangiert, sie blieben meist unbelästigt in ihrer Heimat, wo heute noch viele deutschstämmige Menschen wohnhaft sind.
In Lubie gefiel es Walter nicht lange und er kaufte zwei Fahrkarten wieder nach Vogelberg an der Grenze bei Görlitz und nach mehreren Wochen gelang es ihm ohne Erlaubnis über die Grenze zu gelangen, und teilweise zu Fuß und per Bahn, bis nach Hülschrath im Landkreis Grevenbroich bei Düsseldorf zu gelangen, wo schon unsere ältere Schwester Margot wohnhaft war.
Er wohnte beim Bekannten seiner Schwester und von dort fuhr oft mit dem Fahrrad nach Düsseldorf zum Flughafen, wo er als ungelernter Arbeiter eine Beschäftigung fand. Er hatte vorher und nachher verschiedene Tätigkeiten ausgeübt, auch als Bauarbeiter und Fensterputzer, er sparte eisern und bekam zuletzt eine Stelle bei der Firma RHEINMETALL IN Düsseldorf, wo er über zwanzig Jahre bis ins Rentenalter als Werkschutzmann seinen Dienst verrichtete.
Das große Glück erreichte er von der Firma Rheinmetall, die ihm und seiner Amalie ein kleines Grundstück in Firmennähe verkaufte, wo er anfing ein Reihenhaus mit 5 Zimmern zu bauen. In Düsseldorf, im Stadtteil Düsseldorf wohnt er noch heute, in einem schmucken Reiheneigenheim, das heute einen Wert von etwa einer Million DM hat.
Seine Ehefrau hat immer fleißig mitgearbeitet, war jahrelang bei der Deutschen Bundespost beschäftigt und heute, nach vielen Jahren mühseligem Schaffen und Sparsamkeit, im Alter von über achtzig Jahren, lebt mein Bruder mit seiner Frau noch relativ gesund und kann über so viel Glück zufrieden sein.
Zu erwähnen wäre noch, dass zu Walters Familie ein fleißiger Sohn und ein Enkelkind gehört, die wiederum durch Fleiß und Sparsamkeit wohlhabend geworden sind. Walter, als der heutige Senior von uns fünf Geschwistern, fühlt sich manchmal nicht so richtig zufrieden, weil er beruflich immer auf einer niedrigen Stufe stand, wogegen er in der Heimat als Erbhofbauer vielleicht ein besseres Leben gehabt hätte. Diesen Bericht habe ich am 31.12. 2001 beendet, und mein Bruder Walter soll mir verzeihen, wenn ich manche Begebenheit vergessen haben sollte.
Dadurch soll aber nicht sein Ansehen geschmälert werden für das, was er mit viel Mühen und Fleiß geschaffen hat, und um das er von manchen Mitbürgern Düsseldorfs beneidet wird.
Nach den Ausführungen zum Lebenslauf meines älteren Bruder Walter, beginne ich nun etwas über meine ältere Schwester Margot zu berichten, die für uns alle Geschwister eine wesentliche Rolle gespielt hat.
Meine Schwester müsste eigentlich Margarete genannt werden, das war uns aber zu lang, oder auch zu fein, darum nannten wir sie alle von Anfang an Margot.
Sie wurde am 21. Dezember 1922 in Altewalde geboren, sie war ein gesundes, hübsches Mädchen, das mit meinem älteren Bruder der Stolz der Eltern war.
In den Jugendjahren war sie niemals krank, sie besuchte die 8-jährige Volksschule in Altewalde mit guten Zensuren, und war immer unserer Mama eine Stütze beim Kochen, Backen und den verschiedenen Küchenarbeiten.
An Margot kann ich mich gut erinnern, da ich ein Jahr mit ihr zusammen in eine und dieselbe Schulklasse ging, das heißt sie saß als ältere und größere Schwester in der hinteren Schulbank, während ich vorn in der Unterabteilung meine Schulaufgaben machen musste. Ich habe mit ihr sogar eine gemeinsame Klassenfahrt erlebt, als wir mit vielen Kindern nach Eichhäusel fuhren, und wir beide auf einem Klassenfoto zu sehen sind. Es ist aber nicht vorgekommen, dass ich mit ihr, oder sie mit mir, zur Schule gegangen wäre, denn damals wurde darauf geachtet, dass Jungens und Mädchen getrennt zur Schule kamen, auf dem Schulhof während der Pause auch getrennt waren und zu Hause, kaum viele Gemeinsamkeiten hatten. Sie ging zu ihren Freundinnen, ich hatte meine Freunde, und was meine Schwestern erlebten, oder was sie für Probleme hatten, das interessierte mich nicht, und ich glaube, dass ich für meine Schwestern, auch zu unbedeutend war, um von ihnen beachtet zu werden. Außerdem hielten sich meine Schwestern oft in der Küche bei meiner Mutter auf, um dort zu helfen, während ich schon als junger Bursche mich meist draußen im Garten aufhielt, oder auch mit sieben oder acht Jahren im Sommer, fast jeden Tag in den Wald lief, um dort Beeren und Pilze zu sammeln, für die mich meine Mama lobte, und wodurch ich auch nicht zur Stelle war, wenn es hieß schwerere Landarbeiten sind zu verrichten. Vielleicht wurden meine vielen Waldbesuche auch als Drückebergerei angesehen, darüber habe ich mir niemals Gedanken gemacht, das war eben so, und ich fühlte mich in der freien Natur am wohlsten, wo ich unbeobachtet meinen Gedanken nachgehen konnte.
Einmal doch wurde ich von meiner Schwester stark wahrgenommen, ich kam eines Abends vom Hitlerjungen-Appell um etwa 22 Uhr nach Hause, es war im Sommer und nicht ganz dunkel, da sah ich eine Leiter zum Fenster meiner beiden Schwestern im Obergeschoss angelehnt stehen. Davor stand ein junger Mann, den ich nicht kannte.
Ich meldete dieses meinem Vater, und ich sagte ihm Einbrecher wollten in unser Haus einsteigen.
Nichts Böses denkend legte ich mich schlafen und wunderte mich, dass ich beim Frühstück von Margot böse angeschaut wurde. Erst später erfuhr ich, dass ein Jugendfreund sie besuchen wollte, in Bayern würde man sagen, er kam fensterln, und ich hatte die Chose vermasselt.
Was die Eltern zu diesem Vorfall gesagt haben, das habe ich nicht erlebt, dafür war ich mit meinen Freunden in Gedanken ganz wo anders, und die Probleme der heranwachsenden Jugend waren mir noch unbekannt.
Meine Schwester Margot wollte auch gern etwas anders sehen, nicht nur zu Hause in Küche, Stall, Hof und Feld verkümmern, darum hat mein Vater ihr eine Stelle als Lehrmädchen in einem Restaurant in Neisse besorgt, wo sie in den Wintermonaten etwas anderes lernen sollte.
Ich habe sie einmal dort besucht und war erstaunt, wie hübsch erwachsen Margot aussah, als sie mir ein Glas Himbeerwasser spendierte.
Was Margot im Einzelnen alles in ihrer Jugend erlebt hat, davon kann ich nicht viel berichten, denn wie ich schon erwähnte, das Verhältnis bei uns fünf Geschwistern war nicht unproblematisch. Alle Kinder waren damals schon vom neuen Zeitgeist beseelt, als es hieß, die deutsche Jugend, ist nicht nur zu stupidem Gehorsam verpflichtet, nein, sie soll auch erkennen, wie schön und groß das Vaterland ist, die Jugend soll lernen und alle Kräfte einsetzen um ein glückliches Deutschland zu schaffen. Dass dabei die nationalsozialistische Propaganda, die tagtäglich auf die Jugend untermalt mit schönen Liedern einwirkte, das hat kaum einer von den Erwachsenen verstanden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass mit der versprochenen Freiheit, mit Sport und Gesang, mit Marschieren und Reisen, mit viel Lernen, auch die Jugend manipuliert wurde, genauso wie alle Erwachsenen, die oft sehr zufrieden waren, dass die jungen Menschen eine Aufgabe und ein Ziel im Leben sahen.
Das schöne und unbeschwerte Leben änderte sich aber schnell. Je länger der Krieg andauerte. Viele jungen Mädchen hatten ihren Freund beim Militär, sie wollten heiraten und auch Kinder haben, da hieß es oft, warten bis nach dem siegreichen Krieg, dann stehen alle Türen offen, nur jetzt müssten alle Opfer bringen, auch wenn es das Leben von Freund, Bräutigam oder Familienvater sein sollte.
Schon im ersten Kriegsjahr sind junge Männer aus Altewalde an der Front geblieben, und manches junge Mädchen wird sich Gedanken gemacht haben, was kommt noch alles auf uns zu? Und dass einiges auf uns zukam, das erkannte man bald, als mein Papa das Auszugshaus als Kriegsgefangenenlager zur Verfügung stellte. Tanzveranstaltungen waren verboten und alle lebenswichtigen Sachen gab es nur auf Bezugsscheine.
Obwohl im Radio eine Siegesmeldung nach der anderen verkündet wurde, von einem siegreichen Ende des Krieges war nichts zu spüren. Und als unser Papa starb und er das bittere Ende voraus sah, da merkte auch Margot, dass noch viel Unheil auf uns zukommt. Im Monat Februar 1945 war erkenntlich, dass das ruhige Landleben bald zu Ende sein wird. Unsere Mama wollte aber nicht mit vielen Altewälder Frauen wahrhaben, dass sie den Hof verlassen müsste. Sie bezahlte die Steuern für das ganze Jahr im voraus, und erst zwei Wochen vor der Flucht, als Leute aus Oberschlesien sie darauf aufmerksam machten, die Russen wären nicht zu stoppen, da befahl sie dem Ukrainer Emil den besten Pferdewagen mit Getreide, Lebensmitteln und einigen Wertsachen zu beladen, um wie sie meinte, für zwei Wochen ins nahe Sudetenland zu flüchten, um dann wieder nach Hause zu kommen. Am liebsten wäre unsere Mama, nicht geflüchtet, doch meine beiden Schwestern Margot und Traudel bedrängten sie arg, nicht in Altewalde zu bleiben, um Beute für die russischen Soldaten zu werden.
Meine beiden Schwestern hatten ihr Fahrräder mitgenommen und begleiteten die viele Pferdefuhrwerke, die in einem langen Flüchtlingstreck über Deutsch-Wette in Richtung Ziegenhals und von dort weiter sich ins Sudetenland bewegte. Als nach fast einem Monat Flucht im unwegsamen Gebirgsgelände unsere Mama stoppte, wusste niemand, wie es weiter gehen sollte. Die Flüchtenden verstreuten sich in den Sudetendeutschen Dörfern und warteten auf das Ende des Krieges. Zu allem Unglück musste unsere Mama ein Pferd abgeben, und die trächtige Stute bekam ein Fohlen, das in einer Schürze befördert wurde. Für meine Schwester Margot war der sechste Mai ein bedeutsamer Tag. Zum ersten Mal sah sie mongolische Männer in russischen Soldatenuniformen, wie sie mit lautem Geschrei in die einzelnen Gehöfte einfielen und Wertsachen und Schnaps suchten.
Margot hatte bei einer Familie gewohnt, die aus der Gegend von Bautzen in Sachsen stammten. Er war deutscher Offizier gewesen und hatte sich schon Zivilkleidung angezogen um mit seiner Frau in seine Heimat zu fliehen. Die älteren Eheleute, die keine Kinder hatten, wollten Margot adoptieren und in der Nähe von Bautzen ein neues Leben beginnen.
Doch das Schicksal wollte es anders.
Mit dem Ehepaar versteckte sich Margot in einem nahe gelegenen Wald, und mit einigen Habseligkeiten in der Hand, gingen sie zu Fuß auf einsamen Bergpfaden in Richtung Görlitz an der Lausitzer Neisse.
Unserer Mama, der jüngeren Schwester Traudel und dem jüngeren Bruder Helmut konnte Margot nicht mehr sagen, mit wem und wohin sie, vor den Russen geflohen war. Am 14. Mai, an einem schönen, warmen Maientag standen alle drei an der Neisse und versuchten den Fluss zu durchwaten. Menschenmengen lagerten auf Wiesen und Feldern in Flussnähe, die einen kamen vom Westen, die anderen vom Osten, und Margot hatte Glück.
Sie fand einen deutschen Personalausweis, von einer jungen Frau die in Köln geboren war und auch dort gewohnt hatte. Dieser Ausweis war ihre Rettung, denn nur wer Papiere hatte, durfte den Fluss zu Fuß überqueren und weiter ziehen. Die anderen wurden von russischen Soldaten gehindert ans westliche Ufer zu gelangen. Mit einer kleinen Tasche unter dem Arm, suchte sie in tagelangen Fußmärschen nach Bautzen zu kommen, um sich wie verabredet, mit dem bekannten Ehepaar zu treffen.
Margot traf viele einzelne ehemalige Soldaten, die alle nach dem Westen wollten. Mit ihnen zog sie zur Elbe, wo wieder bei Torgau eine Sperre errichtet worden war. Der vorgezeigte Ausweis genügte, um über eine Notbrücke den Fluss zu überqueren. Da Margot niemals gern allein war, halfen ihr Zufallsbekanntschaften immer wieder weiter, möglichst weit weg, zu den Amerikanern wollten alle.
Hier im Rheinland sprach sie ein ehemaliger Soldat an, der aus Hülschrath im Kreis Grevenbroich beheimatet war. Dieser verliebte sich in das hübsche Mädchen und nahm sie mit zu seinen Eltern.
Dieser junge Mann hätte auch Margot gerne geheiratet, doch sie liebte ihn nicht, sie wollte immer wieder nach Hause, wo sie ihre erste Jugendliebe treffen wollte. Beim Bürgermeister in Hülschrath erzählte Margot von ihrem Schicksal, dass sie allein wäre, und dass sie einen gefundenen Ausweis hätte.
Sie gab ihren richtigen Namen an und wohnte in den ersten Nachkriegsjahren in Hülschrath, wo es ihr wirtschaftlich nicht schlecht ging, sie hatte genug zu essen und auch ein schönes Zimmer.
Aber sie litt unter Heimweh und versuchte mit der Mama und zu den Geschwistern Kontakt aufzunehmen. Polnische Fremdarbeiter, die auf dem Schloss in Hülschrath wohnten, versprachen ihr, einen Brief an die Heimatadresse zu schicken, worin sie ihren neuen Wohnsitz angab. Dieser Brief, besser gesagt der Wohnort von Margot, war der Ursprung für viele Verwandte und Bekannte aus der Heimat, die in den folgenden Jahren auch im Rheinland ansässig wurden.
Zuerst erschien der ältere Bruder Walter mit seiner jungen Frau Amalie, die bei Margot vorübergehend ein Unterkommen fanden.
Wie es Walter danach erging, das habe ich im elften Teil beschrieben, nur kurz erwähnt, von hier fuhr er mit dem Fahrrad bis zum Flughafen in Düsseldorf, wo er auch später sein Haus bauen konnte.
Nun zu Margot zurück, die dem Drängen des Kleinbauernsohns nicht nachgab, ihn zu heiraten. Als nach zwei Jahren sich die Gelegenheit ergab, bei einer Familie in Düsseldorf als Hausgehilfin angestellt zu werden, da sagte Margot zu, und verrichtete alle Tätigkeiten, die in einem Haushalt mit zwei kleinen Kindern anfielen.
Margot war aber ein lebenslustiger Mensch, sie kleidete sich immer gern modisch hübsch, und es dauerte nicht lange, als sie auch einen Mann kennen lernte, der sie nach kurzer Zeit heiraten wollte. Sie verliebte sich auch in ihn, und am 30.12.1950 heirateten sie vor dem Standesbeamten in Düsseldorf, um in den Besitz einer eigenen Wohnung zu gelangen. Nach zwei Jahren holten sie sich auch den Segen der katholischen Kirche bei einem sehr verständnisvollen Pfarrer namens Ludwig ein.
Margots Ehemann, ich nannte ihn meinen Schwager Fritz, der leider mit 75 Jahren verstarb, hatte das Glück von der Firma Mannesmann eine schöne, preiswerte Werkswohnung zu bekommen, in der meine Schwester Margot noch heute wohnt. Leider ist ihre Ehe kinderlos geblieben, und er und sie, haben immer genug Geld verdient, um sich schon in den fünfziger Jahren ein Auto leisten zu können.
Sie konnten viele Reisen unternehmen, und finanziell haben sie sich nie einschränken müssen.
Margot kann sich als Witwe auch heute noch weite Flugreisen erlauben, in einem gut angelegten Schrebergarten findet sie ihren körperlichen Ausgleich, um im hohen Alter noch relativ gesund zu sein. Sie ist sehr kontaktfreudig und ist bei vielen Verwandten und Bekannten sehr beliebt.
Meine Schwester Margot war auch diejenige, die am Anfang meine Mutter aus der Heimat kommend in ihrer Wohnung aufnahm, und auch mir bei der späteren Familienzusammenführung mit dem Bestimmungsort Düsseldorf als Zieladresse geholfen hat. Dass auch meine jüngere Schwester Traudel und auch mein Bruder Helmut in der Nähe von unserer Mama wohnen wollten, das erwähne ich nur am Rande.
Im Nachhinein kann ich feststellen, dass unsere Mama auch das Glück hatte, alle ihre fünf Kinder, in ihrer Nähe zu haben, wo wir mit ihr noch viele zufriedene Jahre verlebten.
Margot kann von sich sagen, dass durch sie nicht nur alle vier Geschwister am Rhein eine neue Heimat fanden, sondern auch noch viele weitere Verwandte und Bekannte, die alle aus Schlesien stammend, in der Rheinprovinz Arbeit und Brot fanden. Heute, im Jahre 2002, haben wir fünf Geschwister oft telefonischen oder auch persönlichen Kontakt mit Margot, und wenn wir manchmal von früher und von der Heimat sprechen, dann müssen wir alle sagen, wir können mit dem zufrieden sein, dass wir viele Erschwernisse mit Leid und Not gemeistert haben, und im hohen Alter Gott danken können, dass wir fünf Geschwister so viel Glück gehabt haben.
Eine kleine Begebenheit erzähle ich noch, die mir Margot vor kurzem berichtete.
Als mein Bruder Helmut im März 1930 geboren wurde, und Papa ihn freudestrahlend mit Mama auf einer Kutsche nach Hause brachte, da hatte er auch für Margot ein Geschenk mitgebracht. Und das ist auch bezeichnend, wie sparsam damals die Leute lebten. Margot, die damals fast acht Jahre alt war, packte das Geschenk aus und hätte fast geweint vor Ärger. Es war ein blecherner Wäschereiber, mit ihm sollte sie, musste sie später die Windeln vom Brüderchen waschen und dafür sorgen, dass sie immer sauber waren. Pampers gab es damals noch nicht, und so mussten die älteren Geschwister daran denken, dass die jüngeren sauber und warm schlafen konnten. Da blieb wenig Zeit für junge Mädchen übrig, für sich zu sein und Langeweile zu haben. Diese Familien mit mehreren Kindern waren meist nicht egoistisch eingestellt, sie lernten von Jugend auf, die Sorge um das Wohlergehen eines jeden Einzelnen kennen, das auch von Staat und Kirchen gefördert wurde.
Nun erzähle ich die Lebensgeschichte meiner jüngeren Schwester Edeltraud Rieger, die am 16. Juni 1927 in Altewalde geboren wurde. Traudel, wie sie von uns allen immer genannt wurde, und noch heute genannt wird, war ein niedliches, junges Mädchen, auf das die älteren Geschwister mit Staunen schauten. Sie wurde in einem Kinderwagen mit großen Rädern herum gefahren, und machte den Eltern keine Schwierigkeiten. Sie schlief viel, aß und trank wie alle gesunden Kinder, und mit sechs Jahren wurde sie zum Schulunterricht eingeschult.
Sie lernte auch fleißig, spielte viel mit ihrer älteren Schwester Margot, und schaute neugierig der Mutter bei den Küchenarbeiten zu. Ich kann mich erinnern, als sie schon 13 oder 14 Jahre alt war, und bei uns Kriegsgefangene im Garten aufhielten, da kamen andere Kinder wie Alder Gertrud oft zu uns, um die meist fremd aussehenden Männer zu bestaunen.
Wir Kinder bauten uns aus Stangen und Decken Buden im Garten, kleine Zelte, wo wir uns versteckten und uns Neuigkeiten erzählten, die vor den Eltern nicht gesagt wurden. Manchmal spielten wir in der Scheune, wo wir von hoch oben auf das ausgebreitete Stroh sprangen, und dieses immer wieder, ein Kind nach dem anderen, bis wir vom Springen müde waren und im Garten nach Äpfeln und Birnen suchten, um sie dann genüsslich zu essen.
Manchmal sollte ich die aus Lehm gebackenen Kuchen und Brote bewundern, die Traudel mit den Nachbarmädchen gebacken hatten. Ich fand das doof und langweilig, ich spielte lieber mit den Murmeln, wir nannten sie Kügelchen, die immer im Frühjahr jedes Jahr von den Kindern sehr begehrt wurden. Noch lieber lief ich zu meinen Freunden, wo wir mit dem Ball spielten oder von der Schule und den Lehrern sprachen.
Als Traudel aus der Schule mit gutem Zeugnis entlassen wurde, suchte Papa bei einem Brunnenbauer in Neisse eine Lehrstelle im Büro. Sie musste jeden Tag mit dem Zug in die Kreisstadt fahren, das sie sehr gern tat, denn wie alle Dorfkinder, war sie auch neugierig, um die Neuigkeiten in den Schaufenstern der Geschäfte zu bestaunen.
Traudel musste einige Kurse besuchen, wo sie Schreibmaschine und Stenographie lernte, um diese Kenntnisse bei ihren täglichen Büroarbeiten einzusetzen. Nach Papas Tod, der auch alle anderen Geschwister sehr zu Herzen ging, breitete sich in der ganzen Familie Betroffenheit aus. Wenn Traudel am Anfang des Krieges oft zur Straße lief, um dort den vorbeiziehenden Soldaten nachzuwinken, so legte sich die Begeisterung mit der Fortdauer der Fronthandlungen. Es gab auch in den Geschäften wenig zu kaufen, und wenn etwas feilgeboten wurde, dann konnte man es nur für Bezugsscheine kaufen.
Das Einzige, was noch als Abwechslung für die Jugendlichen geboten wurde, das waren die Filmvorführungen, die teilweise auch in den Dörfern gezeigt wurden, oder man fuhr auf Fahrrädern in die nächste Stadt, wo immer wieder neue Filme gezeigt wurden. Traudel war ein nettes lebenslustiges Mädchen, sie hatte auch schon Jungenfreundschaften und nahm ihre Bürolehre sehr ernst.
Mir erzählte sie später einmal, dass sie von einem Soldaten in ein Café eingeladen wurde, wonach sie sich über ein kleines Missgeschick sehr geärgert hätte.
Nach einem gemeinsamen Kinobesuch, und nachher beim gemütliche Kaffeetrinken, ereignete sich folgendes: Traudel so schüchtern und vielleicht auch schon verliebt, dass sie aus Versehen in die Kaffeetasse Salz anstatt Zucker schüttete. Um den Fehler nicht einzugestehen, trank sie den bitteren Salz-Kaffee ohne eine Miene zu verziehen.
Die Folge war eine üble Magenverstimmung, zu dem noch eine Erkältung mit anhaltendem Husten kam. Da unser Papa auch viel gehustet hatte, wurde Traudel zu einer Lungenuntersuchung nach Ziegenhals in eine moderne Lungenheilstätte vorgeladen. Dort wurde festgestellt, dass sie einen dunklen Fleck auf dem rechten Lungenflügel hätte, der geheilt werden sollte. Sie bekam einen Platz im Sanatorium zugewiesen, und bei ihr wurde ein Ödem im erkrankten Lungenflügel durch Punktieren stillgelegt, wodurch eine Heilung erfolgen sollte. Fast drei Monate war sie in der Heilstätte, wo es ihr gefallen hatte. Sie bekam gutes Essen, sie wohnte mit einem gleichaltrigen Mädchen in einem schön eingerichteten Zimmer, und sie wäre dort noch gern länger geblieben, wenn das Sanatorium nicht wegen der nahenden russischen Front geschlossen worden wäre. Alle Kranken wurden nach Hause geschickt, wo schon Mitte Februar 1945 die Vorbereitungen zur Flucht begannen.
Wie ich schon im vorigen Teil von unserer Schwester Margot erzählt habe, so wollte sie nicht daheim bleiben und sich von der Front überrollen lassen. Sie belud ihr gutes Fahrrad mit einigen persönlichen Wertsachen und mehr schleichend und schiebend, ging sie hinter Mamas Fuhrwerk her. Der Flüchtlingstreck kam nur schrittweise voran, da immer wieder Unfälle passierten, und ältere und kranke Menschen konnten oder wollten nicht so schnell ihre Heimat verlassen.
Der endlose Flüchtlingszug bewegte sich mit Unterbrechungen fast ein Monat lang bis tief ins Sudetenland hinein, als Ende April Traudel in Mährisch Ostrau zu einem deutschen Lungenspezialisten kam, der ihr zum letzten Mal das Ödem behandelte. Sie kam für kurze Zeit in ein nahe gelegenes Krankenhaus, wo sie auch die ersten russischen Soldaten sah.
Viele Frauen und Mädchen versteckten sich in den Wäldern und in tagelangen Fußmärschen flohen sie vor der nachrückenden Front, bis sie in die Nähe von Vogelsberg in Niederschlesien kam. Dort fand sie Unterschlupf bei einer deutschen Familie, um dann Ende Juni wieder auf Umwegen mit einer älteren Lehrerin nach Altewalde zu gelangen. In Ziegenhals auf dem Marktplatz traf sie nach fast 5 Wochen Ungewissheit auf unsere Mama, die ihr erzählte, dass zwischenzeitlich der ältere Bruder Walter mit einem jungen Mädchen eingetroffen wäre.
Die Sommerzeit in Altewalde war für Traudel wenig erfreulich, es fehlten die Freundinnen, und außer viel Arbeit, gab es wenig Gutes. Sie blieb nur wenige Wochen daheim, und machte sich wieder auf den Weg zur bekannten Bauernfamilie in Vogelsberg. Dort verblieb sie den ganzen Winter, dadurch blieb ihr die Aussiedelung aus Altewalde erspart, und als sie im Frühjahr wieder zum Elternhof zurückkehrte, da hatte unsere Mama schon für Polen optiert, und sie wurde gern als junges anpassungsfähiges Mädchen von den Neusiedlern aufgenommen.
Zwischenzeitlich war auch unser jüngerer Bruder Helmut wieder zu Hause angekommen, seine Lebensgeschichte erzähle ich in der nächsten Fortsetzungsgeschichte.
Und als ich am 7. Dezember 1947, just an meinem Geburtstag, in meiner Heimat ankam, da hatte sich das Chaos vor und nach der Vertreibung zum großen Teil gelegt.
Eine polnische Verwaltung hatte sich in der Kreisstadt Neisse etabliert, mit einem Starosta vergleichsweise einem Kreisverwaltungsdirektor, mit Bürgermeistern in jeder Gemeinde. Den neu angesiedelten Polen wurde die deutschen Häuser und Bauerngehöfte zugeteilt, in Altewalde hatte ein tüchtiger polnischer Pfarrer das Sagen, und an Sonntagen war die Kirche voll von Polen und von etwa zwanzig deutschen Dorfbewohnern, die sich langsam an die polnische Sprache und die neuen Sitten und Gebräuche gewöhnen mussten. Dieser Pfarrer sorgte etwas für Ordnung in der Dorfgemeinschaft, vielleicht auch deswegen, weil bei ihm zwei junge Mädchen aus dem Dorf beim Pfarrer als Dienstmädchen arbeiteten.
Der Dorfschulunterricht hatte in polnischer Sprache begonnen, und für die so genannten Autochthonen wurde ein Sprachunterricht angeboten, wo ein Lehrer den Deutschstämmigen die polnische Sprache lehrte.
Der Winter 1946/47 war sehr streng gewesen, und ich kann mich erinnern, dass zu Traudel fast jeden Abend ein polnischer Verehrer kam, der leidlich deutsch sprach und uns mit Neuigkeiten versorgte, die im neu gegründeten polnischen Staate sich ereignet hatten.
Wir drei jüngeren Geschwister, das waren Helmut, Traudel und ich, hatten die Tragweite der Veränderungen nicht besonders tragisch genommen. Wir waren froh daheim bei Mama zu sein, wir hatten genug zu essen, hatten etwas zum Anziehen, und wenn manchmal am Sonntag polnische Tanzveranstaltungen stattfanden, dann nahmen wir auch daran teil.
In den benachbarten Dörfern wohnten überall deutschstämmige Jugendliche, die sich gegenseitig besuchten und ihre Neuigkeiten austauschten. Unsere Nachbarn, die Familie Jurczyk, waren schon immer zweisprachig aufgewachsen, und für sie gab es keine Schwierigkeiten sich mit den neuen Dorfbewohnern zu arrangieren.
Traudel und Helmut halfen Mama so gut sie konnten, bei der Bewältigung der landwirtschaftlichen Tätigkeiten, die ja nicht so übermäßig groß waren, da es nur eine Kuh im Stall gab, nur ein Pferd und ein paar Hühner im Stall.
Das Problem kam mit der Frühjahrsbestellung, als es hieß etwa 16 ha Ackerland zu bebauen. Doch mit Hilfe von anderen Dorfbewohnern, wurden die Felder bestellt, doch die Ernte war gering, denn es fehlte an natürlichem und künstlichem Dünger. Die Erträge wurden immer geringe, und die Zeit rückte heran, als landwirtschaftliche Genossenschaften gebildet wurden.
Besser gesagt, es wurden viele polnische Bauern in die nach sowjetischem Muster neu gegründeten Kolchosen gedrängt. Die deutschen landwirtschaftlichen Maschinen wurden eingezogen, die neuen polnischen Dorfbewohner hatte wenig Ahnung von der Bestellung des schweren Ackerbodens im Kreis Neisse, und es kam, was kommen musste. Es gab bald zu wenig Lebensmittel auf dem Markt und in den Geschäften. Die polnische Regierung führte das Lebensmittelkartensystem ein. Diese Rationierung dauerte etwa 30 Jahre lang.
Während im Westen immer mehr produziert wurde, und ein langsamer Wohlstand einsetzte, verarmten die sozialistischen Länder unter der Regie von der Sowjetunion.
Diese Verelendung, die auch zum großen Teil einen Folge des Kalten Krieges war, führte letztendlich zum Fall der Berliner Mauer.
Nun wieder zurück nach Altewalde, wo die Polen niemals so fleißig waren wie die vertriebenen deutschen Bauern, weil sie auch nie wussten, ob sie für immer im Dorf ansässig blieben, oder ob noch eine politische Wende eintritt und diese schlesischen Gebiete wieder zu Deutschland gehörten.
Zu allem kamen noch Briefe vom älteren Bruder Walter und unserer Schwester Margot aus Düsseldorf, die nicht gerade aufmunternd waren.
In solch einer Situation befanden sich die deutschen Jugendlichen in einem großem Zwiespalt, auf der einen Seite setzte eine massive Polonisierung ein, dann wiederum träumte man von Deutschland, man sang deutsche Lieder, hörte sie auch im Radio, und die deutschstämmigen rückten gesellschaftlich eng zusammen, sie wollten wenig mit den Polen zu tun haben. Doch durch die gemeinsame Arbeit ob in der Fabrik oder im Büro, verschwanden langsam die Unterschiede zwischen den Einheimischen und den Zugewanderten, die wieder aus verschiedenen Teilen der Ostgebiete gekommen waren.
Es fanden Hochzeiten statt, so wie auch meine am 10. Oktober 1951, und drei Wochen später heiratete Traudel einen jungen Mann namens Erwin, der in der Folge für viele Jahre ein guter Familienvater sein sollte. Mein Schwager Erwin und ich, wir waren auch zeitweise zusammen in einer Molkereigenossenschaft beschäftigt, müssen uns mit den Polen arrangieren, wir waren genügsam und mit dem zufrieden, was wir gerade hatten.
Traudel wohnte mit ihrem frisch angetrauten Mann im Auszugshaus, unsere Mama war aber nicht mit Traudels Wahl zufrieden. Sie hätte gern einen Schwiegersohn gehabt, der eine Kuh oder ein Pferd auf den Hof gebracht hätte, damit es mit dem Bauernhof voran ging. Aber Erwin war nur ein Büroangestellter, er hatte zu dieser Zeit schon ein Motorrad und arbeitete fleißig im Molkereibetrieb und nach seiner Bürozeit auch auf Mamas Bauernhof. Diese Doppelbelastung wirkte sich auch auf das Eheleben aus, und als Traudel nach einigen Monaten ein kleines Mädchen zur Welt brachte, da war Mama gar nicht zufrieden.
Sie hatte für Erwin kein gutes Wort übrig, sie war auch nicht zur Hochzeit gekommen, und die Taufe wurde ohne Mamas Beisein vollzogen. Vielleicht war Mama zu dieser Zeit arg überfordert, denn als junge Witwe, die fünf Kinder auf die Welt gebracht hatte, war sie in dieser schweren Nachkriegszeit allein und mit Helmut und von mir konnte sie nicht viel Trost oder Hilfe erwarten.
Ich musste auch im Oktober 1951 heiraten, hatte aber das Glück, in Neisse eine eigene kleine Wohnung zu bekommen, wo ich bescheiden und zurückgezogen mein junges Familienleben führte. Unsere Mama war auch nicht zu meiner Hochzeit gekommen, noch hat sie die spätere Taufe meiner ältesten Tochter Ursula erfreut. Mama wollte unbedingt den Elternhof erhalten und wieder ertragsfähig gestalten, doch mit Kindern, die ihre eigenen Wege gingen, war dieses nicht zu schaffen. Und fremde Hilfe annehmen, wollte sie wiederum nicht, dazu war sie zu stolz.
Der erbitterte Kampf um Erhaltung des elterlichen Hofes war nicht zu gewinnen, denn die Regierungspolitik war danach ausgerichtet, das selbständige Bauerntum abzuschaffen. Mit erhöhten Zwangsabgaben an Steuern und Naturalien, wollt man die Bevölkerung auf die politische Ideologie der kommunistischen Einheitspartei einschwören.
In dieser schweren Zeit besuchte Traudel ihre Schwester Margot in Düsseldorf, und Mama hatte sich im Stillen etwas Hilfe von ihr erhofft. Das Gegenteil trat ein, Bruder Walter und Schwester Margot bedrängten Traudel, unsere Mama aufzuklären, sie solle die Heimat verlassen, sie sollte im Westen den Lastenausgleich beantragen und hier ein neues Leben beginnen.
Und wirklich, es dauerte nicht lange, und Mama rüstete zur Aussiedelung, weil sie eingesehen hatte, dass der Bauernhof nicht zu erhalten war. Wie schwer es gefallen war, Haus, Hof und Heimat zu verlassen, dass kann wohl nur derjenige ermessen, der selbst Eigentum hatte und aus Schlesien vertrieben wurde. Nachdem Mama in Düsseldorf gut angekommen war, schickte sie bald Pakete und auch Geld für die Ausreise der noch in der Heimat verbliebenen Kinder. Und es dauerte nicht lange, da machte sich Traudel mit ihrem Mann und zwei kleinen Mädchen auf die weite Reise in Richtung Deutschland. Sie kamen in ein Auffanglager in der Nähe von Hamburg, wo sie registriert wurden, und wo sie sich für das neue Leben im Westen vorbereiten konnten.
Das Wichtigste war für die junge Flüchtlingsfamilie, dass der Familienvater gleich eine Arbeit am Düsseldorfer Flughafen bekam, zuerst als Gepäckeinlader und dann kam er in die Lagerverwaltung, bis er zum verantwortlichen Lagerverwalter avancierte. Zwischenzeitlich hatte Erwin auch eine geräumige Wohnung in Düsseldorf bekommen, in der Nähe von unserer Mama und auch von Helmut, der auch mit seiner jungen Frau eine schöne Wohnung in Düsseldorf eingerichtet hatte. Für einige Zeit wohnten Mamas vier Kinder in Düsseldorf, und öfter schickte mir Mama Bilder von meinen Geschwistern nach Neisse mit der Frage, wo ist mein fünftes Kind?
Es dauerte wieder ein paar Jahre, da kam Mama im Jahre 1962 zu Besuch nach Altewalde, sie wollte ihren Hof noch einmal sehen, die große Sehnsucht nach der Heimat hatte sie dazu bewegt. Bei diesem Besuch hat sie auch meine Familie, die damals aus Frau und vier jungen Mädchen bestand überredet, nach Düsseldorf überzusiedeln. Sie hatte uns eine Zuzugsgenehmigung besorgt, und auch das Fahrgeld geschickt, und wir hatten das Glück, dass wir im November 1964 im Rahmen einer Familienzusammenführung die Fahrt nach Deutschland antreten konnten. Was ich mit Frau und Kindern erlebt habe, das habe ich in den ersten Fortsetzungen dieser Heimatgeschichte beschrieben.
Nun noch mal zurück zu Traudel und ihren Problemen mit zwei Töchtern und einem stattlichen Mann, der sehr sozial eingestellt war, der beruflich schnell Karriere machte, einen Kadettwagen fuhr, und auch überall beliebt war. Doch seine Gesundheit war nicht die beste, denn er verstarb kurz nach seiner Silberhochzeit im Alter von fünfzig Jahren an Herzversagen.
Ehe er starb, hatte er noch ein paar Monate mit seiner Familie in einem neu erbauten Reiheneigenheim in Ratingen gewohnt, das er mit viel Mühe und Aufopferungen zusammen mit Traudel kaufen konnte.
Für Traudel war es nicht leicht, die sehr aufgeweckten Mädchen in althergebrachtem Sinne zu erziehen.
Die ältere Tochter Margot heiratete einen netten Berufssoldaten, die Ehe hielt aber nicht lange, danach heiratete auch die jüngere Tochter Gabriele, deren Ehe auch nicht lange hielt.
Heute ist Gabriele mit einem netten, sehr intelligenten Mann verheiratet, hat ein nettes kleines Töchterchen, das der Oma viel Freude bereitet. Die ältere Tochter Margot hat einen Lebensgefährten in Österreich, sie selbst ist schon Oma geworden, so dass Traudel die einzige Frau in unserer Verwandtschaft ist, die schon Uroma geworden ist. Traudel wohnt heute noch im Reiheneigenheim in Ratingen, hat eine schöne Wohnungseinrichtung mit einem kleinen Garten, und kann sich sehr freuen, wenn ihre Kinder und Enkelkinder zu Besuch kommen.
Mit meinem jüngeren Bruder Helmut habe ich mich immer gut verstanden. Er ist der einzige von uns fünf Geschwistern, der nicht in Altewalde geboren wurde. Er erblickte am 3. März 1930 das Licht der Welt im Stadtkrankenhaus in Neisse, worauf er auch stolz ist.
Mama war am Tag der Niederkunft wegen arger Schmerzen bei einem Zahnarzt und dieser Arzt sah, dass nicht nur ein Zahn entfernt werden musste, sondern dass die nicht mehr junge Frau an den kurz davor einsetzenden Wehen zu leiden hatte. Er rief das Krankenhaus an, und in zwei Stunden kam ein gesundes Kerlchen auf die Welt. Als wir Kinder daheim den Papa fragten, wo ist denn Mama, da bekamen wir zur Antwort, sie ist in die Stadt gefahren, um noch ein Brüderchen zu kaufen. Wir waren neugierig, als unsere Mama nach drei Tagen mit einer Kutsche vom Vater gebracht wurde, und ein rotbäckiges Kindchen in einem warmen Tragekissen seelenruhig schlummerte.
Nach einer Woche wurde wieder ein großes Tauffest gefeiert, Tante Gertrud musste als Taufpatin amtieren, und es lief alles so ab, wie es geplant war.
Ich kann mich erinnern, dass Helmut in einem Kinderwagen auf hohen Rädern die ersten Lebensmonate verschlief, manchmal im Kuhstall, wo es immer warm war, aber nie allein gelassen wurde, so dass er keinen Mangel an Liebe und Zuwendungen verspürte. Jeder wollte ihn einmal über den Hof fahren, und ihm alles zeigen, von den Hühnern angefangen, bis zu den Tauben auf dem Dach, und noch vieles mehr, was es so alles auf einem Bauernhof gab.
Als Kleinkind war auch Helmut nie krank, und als er schon laufen konnte, nahm ich ihn an der Hand und zeigte ihm den großen Garten mit den vielen Obstbäumen. Im Gemüsegarten wuchsen verschiedene Kräuter, auch Gurken und Tomaten und in einem Blumengarten, konnten wir uns nie genug an den schönen hellblauen Dahlien satt sehen. Ich zeigte ihm mein Spielzeug, baute ihm aus decken eine kleine Hütte, worin er sich verstecken musste, während ich ihn mit weinerlicher Stimme überall suchte. Verstecken spielen haben wir alle Kinder gern getan, und bei uns gab es genug Räume und Ställe, wo man sich schnell verkriechen konnte, um jemandem aufzulauern und ihn zu erschrecken.
Etwas später nahm ich Helmut in den nahen Wald und suchten dort Blaubeeren, oder auch Himbeeren, die wir ungewaschen verzehrten, ohne dabei jemals krank geworden zu sein. Als Helmut schon etwas älter war, sollte er mit Kartoffeln hacken. Manchmal haben wir uns aus Übermut mit kleinen Erdäpfeln beworfen, ohne dass wir uns ernstlich verletzt hätten.
Helmut besuchte auch die Volksschule in Altewalde, und nach sechs Jahren Unterricht in der Dorfschule wurde er vom Vater zum Besuch der Aufbauschule in Ziegenhals angemeldet. Ohne mir vorher etwas zu sagen, kam eines Tages Papa mit Helmut in mein Logierzimmer und sagte, so, von morgen an geht Helmut mit dir zur Schule, lernt fleißig und macht mir keine Schande, sonst nehme ich euch nach Altewalde zurück , wo ihr auf dem Hof Knecht spielen könnt. An diesen einen Satz dachten wir oft, wenn uns manchmal der Unterricht in der Schule zu viel abforderte.
Unsere Zimmerwirtin, Frau Schönfelder, war sehr zufrieden mit uns, dafür sorgte auch unser Vater, der ihr pünktlich das doppelte Kostgeld bezahlte, auch manche Mangelware mitbrachte, die es nicht in den Geschäften frei zu kaufen gab.
Helmut begann den Unterricht an der Aufbauschule mit der ersten Klasse, so dass er keine Schwierigkeiten hatte, den Lehrstoff zu beherrschen. Er fand auch sogleich Freunde in der Stadt und verbrachte seine Zeit mit ihnen, die meist in vornehmen Stadtwohnungen zu Hause waren.
Unser Papa hatte bei einem Bäcker einen ganzen Sack voll Weizen abgeladen und den Meister gebeten, uns dafür ohne Lebensmittelkarten so viel Kuchen und Brötchen zu verkaufen, wie wir es wünschten. Das helle, gesunde Stadtbrot und die guten Teilchen, die wir uns kauften, waren für uns Delikatessen. Darum hat es uns ja so gut bei unserer Zimmerwirtin gefallen, wir aßen bei ihr gut bürgerlich, und hatten immer noch unsere Extrateilchen beim Bäcker, die wir mit gesundem Appetit verspeisten.
Ich kann mich erinnern, wie ich mit Helmut im Zimmer auf eine brennende Kerze mit einer Luftdruckpistole zu schießen begann, und abwechselnd konnten wir unser Können im genauen Zielen und Schießen ausprobieren.
Beim Schularbeiten machen oder Lesen, gab es nie Schwierigkeiten, wir nahmen gegenseitig aufeinander Rücksicht. So vergingen schnell ein paar Jährchen bis zum Tag, als meine achte Abiturklasse im November 1944 geschlossen wurde. Die meist erst 18jährigen Schüler wurden zum Militär eingezogen, andere mussten in Rüstungsbetrieben arbeiten.
Helmut ging noch weiter zur Schule, bis Anfang März 1945, als die Russen schon die Oder überschritten hatten und sich auf die Eroberung vom Landkreis Neisse anschickten, zu dem auch das schöne Städtchen Ziegenhals gehörte, mit den Heilquellen und den dazugehörigen Sanatorien.
Helmut verbrachte die letzten Tagen vor der Flucht auf dem elterlichen Hof, er half Wertsachen verstecken, von einer Tante aus Hindenburg, wurden große Ballen feinster Stoffe in einer eilig ausgehobenen Grube vergraben, und auch im Keller wurden Wertsachen versteckt.
Die Polen, die später die meisten Sachen ausgruben und alle Verstecke plünderten, sagten, in jedem deutschen Bauernhof befand sich ein Warenlager.
Am 17. März 1945 wurde die deutsche Bevölkerung von Altewalde in der Nacht vom Bürgermeister Hartel aufgefordert, sich abfahrbereit zu halten, da das Dorf vor den herannahenden Russen geräumt werden müsste. Ob zu Fuß oder auch mit dem einem Pferdegespann, jeder sollte vor seinem Haus stehen und auf das Startsignal warten.
Helmut hatte Mama noch geraten ein Schwein zu schlachten, doch unser Fremdarbeiter, ein Ukrainer wollte das nicht machen, und Helmut musste das Tier töten, noch schnell die besten Fleischstücke aufladen und eine Milchkanne von Schweinefett voll für den Transport vorbereiten.
Es wurden zwei Schweine getötet, und alle anderen 20 Schweine, 12 Kühe und viele Hühner wurden zurückgelassen, ohne sie jemals lebend wiederzusehen. Die ausländischen Arbeiter und Arbeiterinnen wurden nicht aufgefordert, den Ort zu verlassen, sie sollten zurückbleiben und dafür sorgen, dass das Nutzvieh versorgt wurde. Doch die meisten Fremdarbeiter flohen vor den eigenen Soldaten, da sie als Spitzel für die Deutschen meist sofort erschossen wurden.
Der Altewälder Flüchtlingstreck bewegte sich langsam in Richtung Neuwalde, dann auf einem Feldweg nach Ziegenhals, von dort nach Freiwaldau bis nach Nieder-Lindewiese im Sudetenland. Das Fuhrwerk wurde von unserer Mama mit Hilfe des Ukrainers Emil kutschiert, neben ihr saß Helmut, und auf Fahrrädern folgten die beiden Schwestern Traudel und Margot.
Das erste Unglück passierte schon kaum nach zwei Kilometern in Neuwalde, als Traudel ihre Handtasche gestohlen wurde, worin sich ihre persönlichen Ausweise, Zeugnisse, Fotografien usw. befanden. Kein guter Anfang für jemanden, der ohne Papiere die Heimat verlassen musste.
In Ziegenhals wurde eine kurze Pause eingelegt, dann ging es den Berg hoch nach Freiwaldau, wo übernachtet wurde, und am andern Tag weiter immer die Berge hinauf.
Eine Unzahl von alten Menschen, Kindern, Frauen und Männern, die nicht wussten wohin sie gehen oder fahren sollten. Es war ja nicht nur die Bevölkerung von Altewalde auf der Flucht, sondern Tausende, wenn nicht Millionen von Deutschen aus den Ostgebieten, die nicht in die Hände der Russen fallen wollten.
Während der Fahrt wurde gegessen, geschlafen wie die Zigeuner auf freiem Feld, bei noch kühlen März-Temperaturen. Das Schlimmste war die Ungewissheit, wie lange die Fahrt dauern würde, die Sorge um das zurückgebliebene Hab und Gut, die Sorge um das lebende Inventar und den Verlust der geordneten Dorfgemeinschaft.
Als der Zug von feindlichen Fliegern beschossen wurde, zerstreute sich der Flüchtlingstreck in alle Himmelsrichtungen, nach dem Motto: Jeder rette sich so gut er kann.
Helmut schaute mit verwunderten Augen auf das ausgebrochene Chaos, Menschen benahmen sich wie Furien, sie rannten oder fuhren um ihr Leben ohne Rücksicht auf andere. Als sie in Freiwaldau ankamen, war plötzlich Margot mit dem Ukrainer verschwunden, und keiner wusste, wo sie geblieben waren. Nur unsere Mama, Helmut und Traudel saßen allein auf dem Wagen oder liefen daneben her, immer im Rücken die nachdrückenden Menschenmassen, die aufgeschreckt durch verübte Gräueltaten der Russen, in panischer Angst versuchten, so schnell wie möglich vorwärts zu kommen.
Traudel machte nun auch schlapp, sie fühlte sich unwohl, und ein Arzt verordnete ihr ein paar Tage Krankenhausaufenthalt, wo sie dann später den Russeneinmarsch erlebte.
Helmut, der erst 15 Jahre alt war, war von einem Wehrmachtsoffizier, zu einer Gruppe Jugendlicher kommandiert worden, die helfen sollten das Vaterland zu verteidigen. Diese Gruppe wurde von einem Ritterkreuzträger mit einer Beinprothese übernommen und dieser verkündete, dass alle Jugendliche aus Schlesien, ab sofort entlassen wären. Er selbst ließ sich in einem Jeep in Richtung Bayern fahren.
Helmut hatte Glück, er fand ein gebrauchtes Fahrrad und fuhr am 2. Mai 1945 mit einem gleichaltrigen Jungen etwa 50 km weit bis nach Habelschwerdt, auf reichsdeutsches Gebiet zurück.
Nach ein paar Tagen überraschten ihn die Russen, und er wurde verpflichtet mit ihnen Munition zu transportieren. Was er in drei Monaten bei den Russen gesehen und erlebt hatte, an das will er nicht mehr erinnert werden, er kam aber mit dem Leben davon und kehrte nach Altewalde zurück, als der ältere Bruder Walter mit seiner Freundin schon bei Mama daheim war.
Es dauerte nicht lange, als es hieß es muss geerntet werden. Mühselig wurde ein Teil des reifen Getreides in der Scheune untergebracht, und da es immer noch keinen Strom gab, wurde das Korn mit alten Handflegeln gedroschen und dann zu Mehl gemahlen.
Als später Polen im Dorf angesiedelt wurden, hatte Helmut wieder Glück, er wurde von ihnen nicht schikaniert, denn er konnte nachweisen, dass er bei den Russen gearbeitet hatte. Er hatte auch einige Brocken russisch gelernt, und es fiel ihm leicht, sich mit den Polen zu verständigen.
Als die Deutschen aus Altewalde im Januar 1946 ausgesiedelt wurden, blieb Helmut auf dem elterlichen Hof, und der neue polnische Bauer hätte ihn sogar adoptiert. Das wollte er aber nicht, er wartete auf die Rückkehr von Mama, die auch wirklich nach einem Monat halb verhungert vom Transport zurückkam und danach für Polen optierte.
Jetzt war Helmut quasi der Ersatzbauer mit 16 Jahren, nach einiger Zeit kam auch Traudel aus Vogelsberg zurück und zu dritt: Mama, Helmut und Traudel fingen wieder an, den ausgeplünderten Bauernhof zu bewirtschaften. Dass dies nicht gut gehen konnte, das war voraus zu sehen.
Doch Mama machte allen Mut, sie hatte auch schon etwas Polnisches gelernt, und schlecht und recht versuchte sie den Kindern eine neue Heimat zu geben.
Als ich im Dezember 1947 nach Hause kam, war alles schon von den Polen organisiert worden. Es gab schon elektrisches Licht, in den Geschäften konnte man Fleisch und Backwaren kaufen, sogar Bier, Schnaps, Zigaretten, Zeitungen, die gab es fast immer in Polen.
Das Dorf war mit mehreren Hundert Polen besiedelt worden, die meisten stammten aus Zentralpolen, einige waren auch von den Russen aus ihrer Heimat hinter Lemberg vertrieben worden.
Der neue Nachbar eine polnisch-russische Familie, mit einem gleichaltrigen Sohn wie Helmut hatte volles Verständnis für die Not von den Deutschen, und sie halfen auch unserer Mama, so gut sie es konnten.
Helmut wäre vielleicht länger in der Heimat geblieben, wenn er nicht zum polnischen Arbeitsdienst gemusst hätte und auch später zum polnischen Militär. Dadurch ging Mama die beste Arbeitskraft für längere Zeit verloren, und immer mehr geriet der Bauernhof in Not und Aussichtslosigkeit.
Nachdem Helmut wieder gesund vom Wehrdienst entlassen wurde, ging er in den Wintermonaten für kurze zu einer Kohlengrube arbeiten , um dort etwas Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. Das nutzte aber nicht viel, und als Walter, der ältere Bruder Helmut einlud ihn im Westen zu besuchen, da war er sofort dazu bereit. Ich weiß nicht, ob das geplant war, Helmut kehrte nicht mehr nach Polen zurück, er beantragte in Düsseldorf die Übersiedlung ins Bundesgebiet. das ihm auch ohne Schwierigkeiten gewährt wurde.
Walter besorgte Helmut ein kleines Zimmerchen im Dachgeschoss und auch eine Arbeit als Lader am Flughafen in Düsseldorf.
Als zum neu gegründeten Wetterdienst Angestellte gesucht wurden, die im Schichtdienst bereit waren, mit einem relativ geringem Gehalt zu arbeiten, war Helmut sofort dazu bereit. Er konnte auch nachweisen, dass er einige Jahre ein Gymnasium besucht hatte, wodurch seine Bewerbung begünstigt wurde.
In den folgenden Jahren war Helmut bis zu seiner Pensionierung beim deutschen Flughafen-Wetterdienst beschäftigt.
Eines Tages besuchte eine Schulklasse aus Kleve den Flughafen, und wie das Schicksal es wollte, ein junges, nettes Mädchen verliebte sich in Helmut. Der große Altersunterschied war kein Hindernis, auch das Helmut ein armer Flüchtling war, konnte das Mädchen nicht abhalten, die Hochzeit so schnell wie möglich anzustreben.
Helmut hatte wieder Glück, das junge Stadtmädchen vom Niederrhein, erwies sich als eine fleißige junge Frau, die mit Hilfe ihrer Eltern, bald eine schöne Neubauwohnung einrichtete.
Marlies, so heißt Helmuts Frau, sorgt sich heute noch um das Wohlergehen von zwei erwachsenen Kindern, sie hat vier Enkelkinder und ist auch sehr sozial eingestellt, in erster Linie im kirchlichem Bereich.
Helmut hat großes handwerkliches Geschick, er ist im Alter von über siebzig Jahren immer im Haus und im großen Garten beschäftigt, um kleinere Reparaturen durchzuführen, oder für die nötige Ordnung im Haus, Garten, Hof, Keller und Garage zu sorgen.
Helmut hat mit seiner jungen Ehefrau mehrere große Reisen im eigenen Auto unternommen, er hat Altewalde mit seiner Frau besucht, konnte sich aber dort nie mehr wohl fühlen.
Mit dem Flugzeug hat er eine weite Reise nach Peking unternommen, und beide habe anschließend die Große Mauer in China besichtigt.
Abschließend kann ich sagen, dass wir fünf Geschwister alle viel Glück im Leben gehabt haben, wobei die Eltern es nicht so gut hatten. Und wenn wir uns heute manchmal treffen, dann können wir alle Gott danken, dass wir, trotzdem wir unsere Heimat in Schlesien verloren haben, am schönen Rhein eine neue Heimat uns geschaffen haben, auf die wir nie mehr verzichten möchten.
Auf eine andere Seltenheit möchte ich noch hinweisen, wenn unsere beiden Schwestern ihre Ehemänner vorzeitig verloren haben, so sind wir drei Brüder entschlossen, im goldenen Herbst unseres Lebens, noch das Beste aus der Gegenwart und Zukunft anzustreben, um unsere noch erträgliche Gesundheit zu erhalten, und unseren Ehefrauen nicht zu sehr zur Last zu fallen.
ENDE